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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Wladimir Putin wirkt faszinierend – im genauen Sinn dieses auf die mittellateinische Sprache zurückgehenden Worts. Er zieht die Blicke der Weltöffentlichkeit an, unvermeidlich anscheinend und unabhängig vom je individuellen Urteil über die Ziele, den Stil und die Wirkungen seiner Politik („fascinatio“ bedeutet soviel wie „Augenlähmung“). In einer Zeit, deren Skepsis gegenüber „charismatischen“ Politikern deutlich gewachsen ist und die zugleich „markante Persönlichkeiten“ im Spiel der politischen Bewegungen zu vermissen scheint, mag eine (kaum je erwähnte) Asymmetrie entstanden sein zwischen der begrenzten Bedeutung Russlands in wirtschaftlicher, militärischer und auch kultureller Hinsicht einerseits und andererseits der Rolle, die Putin als ein Protagonist unserer Gegenwart spielt.
Gewiss zurecht gilt das Profil, welches sich am Fluchtpunkt seiner Handlungen abzeichnet, als stark konturiert. Es lässt sich, zumal in unserer neuen Welt der emblematischen und bewegten Bilder, mit seiner harten Physiognomie assoziieren und mit der Tendenz, Betrachter frontal einem Blick von maximaler Direktheit auszusetzen. Der nun schon seit eineinhalb Jahrzehnten anhaltenden Medien-Präsenz dieses Gesichts – Putin wurde am 31. Dezember 1999 nach dem überraschenden Rücktritt von Boris Jelzin zum (bald durch Wahlen im Amt bestätigten) Präsidenten Russlands – entsprechen die konsistenten Dominanten und die Kohärenz seiner Politik. In der internationalen Sphäre wurde sehr bald deutlich, dass Putins idealer Zukunftshorizont in einer Rückkehr zu den imperialen Traditionen Russlands liegt, doch bisher ist es ihm immer wieder gelungen, eine Eskalation der außenpolitischen Reaktionen auf territoriale Übergriffe (oder in seiner eigenen Version: auf territoriale Restitutionen) zu vermeiden. Zu keinem Zeitpunkt des einundzwanzigsten Jahrhunderts waren Russland und sein zentraler Politiker vollkommen isoliert oder marginalisiert. Dem entspricht – kohärenzbildend – eine Innenpolitik, in der unübersehbar diktatoriale Gesten durch eine (von seinem Freund Gerhard Schröder immer wieder hervorgehobene) Gehorsamkeit gegenüber der Verfassung ausbalanciert werden.
Nach zwei Legislaturperioden verzichtete Putin verfassungskonform auf die ihm machtpolitisch schon damals wohl offene Möglichkeit einer Wiederwahl zum Präsidenten, um über vier Jahre als Premierminister eine dem neugewählten Präsidenten offiziell untergeordnete Rolle zu spielen. Wer je während der jüngsten Zeit auch nur kurz in Russland war, muss mit der Gewissheit zurückgekehrt sein, dass Putins solide Mehrheiten bei allen Wahlen seit 2000 durchaus einer Reaktion der Bevölkerung zwischen Billigung und Bewunderung entsprechen. In den vergangenen ukrainischen Krisen-Wochen dann und anlässlich der Krim-Annexion hat Putin seinen strengen Populismus erweitert durch einen Horizont-Diskurs der nationalen Identität, dessen Konnotationen auf eine – politisch gesehen – romantische Vergangenheit verweisen. Die Bereitschaft, individuelle Vorteile gewissen übergeordneten Werten der Nation zu opfern, unterscheide das russische von anderen Völkern. Natürlich ist diese These geeignet, die Kohärenz zwischen Putins Innenpolitik und Außenpolitik weiter zu festigen – was aber keinesfalls bedeutet, dass sie für ihn selbst den Status eines zynisch geformten Legitimationsinstruments haben muss.
Das öffentliche Bild vom Privatleben des russischen Präsidenten ist durch eine demonstrative Ökonomie geformt und begrenzt. Es gehört zum Typus des populistischen Politikers, seine Herkunft aus einem – nach der jeweiligen nationalen Geschichte – rechtschaffen-bescheidenen Milieu hervorzukehren. Wladimir Putins Vater war als Marinesoldat ein auch in ideologischer Hinsicht vorbildlicher Sowjetbürger. Hingegen bewahrte die Mutter, ohne offenbar familiäre Spannungen auszulösen, eine – während der großen Zeit des Stalinismus durchaus prekäre — Treue gegenüber der orthodoxen Kirche, und als Zeichen dieses affektiven Vermächtnisses trägt der Präsident seit einigen Jahren ein Kruzifix auf der so gerne gezeigten muskulösen Brust. Die Zahl der Opfer aus der weiteren Familie Putins im tatsächlich heroischen Verteidigungskrieg gegen das Deutschland von Adolf Hitler ist eindrucksvoll, und aus seiner Karriere als KGB-Offizier, die ihn in der Spätphase der DDR von 1985 bis 1990 nach Dresden führte, hat er nie ein Hehl gemacht. Im Gegenteil, retrospektiv kann man seine Offenheit in dieser Hinsicht heute als ein frühes Symptom des Bestehens auf die imperiale Tradition seines Landes ansehen.
Davon hebt sich ab eine – im heutigen internationalen Kontext außergewöhnlich konsequente – Restriktion der meisten Informationen über das Privatleben des gegenwärtigen Wladimir Putin (abgesehen einmal von jenen Bildern, die ihn als Ikone athletischer Männlichkeit präsentieren). Zu den Hintergründen seiner erst vor kurzem bestätigten Scheidung gibt es nicht einmal konsistente Gerüchte; unklar bleibt auch, ob Putins Töchter verheiratet sind und wo sie leben; sein Einkommen und sein Besitz sollen den offiziellen Möglichkeiten der festgelegten Politiker-Gehälter entsprechen, doch Beobachter der russischen Wirtschaft sind überzeugt, dass er längst zum Oligarchen mit einem Vermögen im zweistelligen Milliardenbereich aufgestiegen ist; selbst über das existentielle Verhältnis des Präsidenten zur Religion fehlen Angaben. Und der Kontrast zwischen diesem Informationsvakuum hinsichtlich der Gegenwart und der emphatischen Transparenz seiner privaten Vergangenheit gehört sicher zu den zentralen Komponenten der Putin-Faszination. Was als kraftvolle politische Kohärenz wahrgenommen wird, weckt ein Interesse an der Persönlichkeit, als deren „Handschrift“ die Kohärenz erscheint — doch gerade dieses Interesse wird nicht bedient und so auf einer Ebene von Intensität und Wachheit gehalten.
Die Geste des herausfordernd direkten Blicks aber führt über eine von russischen Grenzbeamten seit der Sowjetzeit bis heute beibehaltene Tradition weit zurück in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – bis zu Benito Mussolini, dessen Gesicht wie eine italienisch-barocke Vorläuferform von Wladimir Putins slawisch-sowjetischer Physiognomie aussieht. Und diese genealogische Verbindung macht plötzlich eine Vielfalt von Parallelen in der politischen Persönlichkeits-Präsentation sichtbar. Mussolinis Vater war ein Mechaniker und Sozialist mit hochfliegenden patriotischen Ideen, seine Mutter eine gläubige Grundschullehrerin. Hinter dem starren öffentlichen Familien-Bild seiner Ehe mit Dona Rachele und mit fünf Mussolini-Kindern vermuteten die Bewunderer wie die Feinde des Duce einen Potenz-Kult, der sich – angesichts eines Vakuums an offiziellen Informationen — nie über vielfältige Gerüchte hinaus konkretisierte, doch die öffentliche Faszination nur steigerte. Und Bilder von gestählter Männlichkeit (bei der Reis-Ernte etwa oder beim Ski-Fahren, jeweils mit nacktem Oberkörper) passten schon vor neunzig Jahren zu einer auf Territorialforderungen konzentrierten Politik der imperialen Kontinuität.
Freilich möchte ich die nur schwer zu leugnende Konvergenz zwischen Mussolini und Putin nicht über jene Strukturen hinaus betonen, welche den von ihnen geteilten Typ der politisch-populistischen Faszination begründen. Denn vor diesen Hintergrund werden historische Unterschiede sichtbar, welche nicht weniger interessant sind als die evidenten Ähnlichkeiten. Etwa hat die nicht nur in Italien zu Mussolinis Zeiten für jene Politiker-Identität obligatorische Uniform ihre symbolische Kraft längst ebenso verloren wie der Rollen-Name des „Führers“. Vielleicht hatte andererseits kein Politiker vor Wladimir Putin das neue populistische Potential entdeckt, welches ein autokratischer Politiker heute aus rigoroser Verfassungstreue beziehen kann — auch und gerade dann, wenn es ihm möglich wäre, sich über die Verfassung hinwegzusetzen.
Die Hoffnung, dass sich Wladimir Putin in der osteuropäischen Außenpolitik an vergleichbare Restriktionen halten wird, ist während vergangenen Wochen schwächer geworden – ohne (in Deutschland zumal) gänzlich geschwunden zu sein. Davon aber wird das Überleben dessen, was ich „Putin-Faszination“ genannt habe, kaum abhängen. Sie muss entstanden sein aus einer Sehnsucht nach „starken“, „herb konturierten“ Persönlichkeiten, wie sie heute von vorwiegend kompetenten Politikern ohne charismatisches Profil nicht mehr bedient wird. Ist Barack Obama zum Beispiel soviel von der ihm ursprünglichen Faszination verloren gegangen, weil er die scharfen Konturen seines Profils vernachlässigt hat?
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
TItelbild: DonkeyHotey (flickr.com)
Bilder im Text: streetwrk.com, Marion Doss , firdaus omar, Ana Paula Hirama