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"Eigentümliche Duplizität"

Die Armut der allernächsten Zukunft

Warum aber soll man eigentlich zu jenen fünfunddreißig Prozent gehören wollen, die angeblich das Überleben der anderen (fünfundsechzig Prozent) Menschen sichern?

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessor für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.

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Der Ton wird immer apokalyptischer, während die einschlägigen Statistiken allen Anlass zur Zuversicht geben. So kann man eine eigentümliche Duplizität beschreiben, welche die heute vorherrschende Stimmung der Öffentlichkeit – wahrscheinlich der globalen Öffentlichkeit (was nicht bedeutet: der Öffentlichkeit in allen Gesellschaften der Welt) – im Hinblick auf die Zukunft der sieben Milliarden Menschen ausmacht (allerdings ist diese „vorherrschende Stimmung“ bisher nur wenigen Zeitgenossen bewusst geworden). Dieselbe Ambivalenz konkretisiert sich zu einer Art von „freundlichem Zynismus“ in einem derzeit offenbar viel zitierten Bonmot, auf das ich neulich gestoßen bin (ich mag mich nicht hinreichend genau an die einschlägigen Zahlen erinnern, glaube aber, seine – entscheidende – Ambivalenz begriffen zu haben). Also zitiere ich – mehr oder weniger – sinngemäß: „Fünfunddreißig Prozent der Weltbevölkerung in produktiven Arbeitsverhältnissen könnten beim gegenwärtigen Stand der technischen Entwicklung das Weiterleben der gesamten Menschheit (mindestens) auf dem heutigen Stand sichern. Was bedeutet das für die anderen fünfundsechzig Prozent? Billiges Essen und viel Unterhaltung, die sie nicht auf andere Gedanken bringen soll.“

Die korrekte Reaktion muss hier natürlich, zumal in Deutschland, eine Reaktion der moralischen Entrüstung sein – und sie ist ebenso berechtigt wie langweilig. Deshalb will ich auf einige Statistiken verweisen, welche gegen den Strich der Moralisierung zeigen, dass die Prämisse dieses zynisch wirkenden Einwurfs als durchaus realistisch gelten kann – und deshalb zunächst einmal Anlass zu verhaltener Freude sein sollte. Seit den frühen neunziger Jahren haben sich humanitäre Welt-Organisationen auf eine quantitative Definition der „absoluten Armut“ geeinigt und diese laufend an die neuesten Entwicklungen angepasst. Es begann mit der Einschätzung, dass bei einer Kaufkraft von weniger als einem US-Dollar pro Tag die Abdeckung der überlebensnotwendigen Bedürfnisse einer Person nicht mehr gesichert ist (selbstverständlich findet man auf den einschlägigen – übrigens erstaunlich prägnanten und differenzierten – Websites jede denkbare regionalspezifische Variation und Hochrechnung zu diesem Basiswert). Im Jahr 2008 lebten 1,29 Milliarden Menschen, also weit mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung, unter dieser ökonomischen Grenze. Das ist eine deprimierende Zahl, und es kann tatsächlich keine Argumente gegen die Impulse und Strategien geben, „absolute Armut“ als real existierende Form menschlicher Existenz baldestmöglich und irreversibel auszuschließen. Grund zum Optimismus in dieser Hinsicht jedoch gibt eine andere statistisch erfasste Entwicklung: In den zwei Jahrzehnten zwischen 1990 und 2010 sollen 663 Millionen Menschen den Status „absoluter Armut“ verlassen haben – und zwar in allen Welt-Regionen, die von ihr betroffen sind. Diese Tendenz scheint sich derzeit zu verstärken.

Armut wird in Deutschland präsenter: Doch auch abseits von sichtbarer Armut greift die Problematik um sich.
Armut wird in Deutschland präsenter: Doch auch abseits von sichtbarer Armut greift die Problematik um sich.

Die Vision einer Menschheit ohne absolute Armut ist also keine Illusion ohne realistische Basis — und sie eröffnet Raum für die Frage, wie man sich die Armut der nächsten Zukunft, eine neue Armut um die Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorstellen muss. Die Illustration einer möglichen Antwort auf diese Frage, glaube ich, finden wir heute schon unter den permanent sozialdemokratischen Lebensbedingungen in Mittel- und Westeuropa, wo absolute Armut zu einem absoluten Ausnahmefall geworden ist (ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten übrigens, deren einschlägige Statistiken für einige Bundesstaaten durchaus denen in der früher so genannten „Dritten Welt“ ähneln). Was Deutschland angeht, so liegt die spezifischere Vermutung nahe, dass uns die Existenz unter Hartz IV-Bedingungen einen Eindruck von der nächsten globalen Armut geben kann.

Im Hinblick auf die elementarsten Bedürfnisse sieht die Hartz-IV-Situation jedenfalls besser aus als das Leben vieler europäischer Arbeiterfamilien noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, und im Gegensatz zu Armen in manchen Gegenden von Ohio oder West Virginia müssen Hartz-IV-Empfänger und -Familien keinesfalls befürchten, an einer Blinddarmreizung aus finanziellen Gründen zu sterben. Sogar gratis gelieferte Unterhaltung auf einem basalen Niveau gehört zu den gesicherten Erwartungen der neuen Armen.

Fernseh-Stars wie Joko Winterscheidt versuchen in Aktionsbündnissen wie "Deine Stimme gegen Armut" auf das zunehmende Gefälle zwischen arm und reich aufmerksam zu machen.
Fernseh-Stars wie Joko Winterscheidt versuchen in Aktionsbündnissen wie "Deine Stimme gegen Armut" auf das zunehmende Gefälle zwischen arm und reich aufmerksam zu machen.

Über sie will ich nicht zynisch schreiben – aber es bedarf einer Justierung unseres traditionellen Blicks, um zu verstehen, warum wir auch diese Armut als unzumutbar, als nicht menschenwürdig ansehen sollten. „Möglichst billige Ernährung“, wie es in jenem viel kritisierten Zukunfts-Szenario heißt, ist den Hartz-IV-Empfängern ja — mit allen sichtbaren und immer mehr „sozialspezifischen“ physischen Folgen – zugänglich. Anscheinend gelingt es manchen Gesellschaften auch besonders gut, Menschen in solcher Situation zu „unterhalten, ohne sie auf andere Gedanken zu bringen“. Vor allem aber sehen die neuen Armen keine Alternativen zu ihrer eigenen Lebensform (Formulierungen dieser Art haben schon immer zur Beschreibung der Armut gehört), sie sehen – spezifischer — keine Alternative zu der Dumpfheit einer Existenz zwischen Vorabendprogramm und permanentem Bier-Konsum. Alle Möglichkeiten, ein anderes Leben zu führen, müssen für von dort wie ein fiktionaler Horizont im Verhältnis zur eigenen Wirklichkeit wirken.

Gewiss, es ist im Prinzip möglich, dass einzelnen Mitgliedern aus der jeweils nächsten Generation von Hartz-IV-Empfängern über den langen Weg durch die Bildungs-Institutionen ein sozialer Aufstieg gelingt. Aber solche Karrieren sind – nun wieder statistisch gesehen – gerade in Deutschland sehr unwahrscheinlich, was wohl nicht ausschließlich den Bildungsinstitutionen angelastet werden kann. Denn es handelt sich um eine sozialpolitisch umhegte Armut, um die graue Armut der von der Gesellschaft „abgelegten“ Mitglieder, welcher die Neigung zum Protest und auch zum exzentrischen Verhalten im Sinn der franziskanischen „Armut des Geistes“ fehlt. Sie kennt keinen primären und dann weitertragenden Impuls des Ausbruchs, anders gesagt: keine Fähigkeit, an existierende Alternativen zur neuen Armut als Realität zu glauben. Und weil die Gründe für diese Situation nur sehr schwer identifizierbar sind, lässt sich auch ihre Beseitigung kaum ins Auge fassen. Bewegt sich Deutschland also – in der allernächsten Zukunft – auf eine elementar-hierarchische Gesellschaftsstruktur zu? Eine Gesellschaftsstruktur, deren von unmittelbaren finanziellen Sorgen vielleicht für immer befreite Mittelklasse die wenigen Sehr-Reichen des Landes absorbiert – und sich andererseits immer weiter, vielleicht unumkehrbar von den neuen Armen entfernt?

Und auch in "allernächster" Zukunft wird Armut in Deutschland weiter zunehmen.
Und auch in "allernächster" Zukunft wird Armut in Deutschland weiter zunehmen.

Bleibt die Bemerkung, dass zündende Argumente für eine grundlegende Veränderung, für das mühsame Heraustreten aus einer Existenz des langen Schlafs und der permanenten Freizeit, vielleicht gar nicht ohne weiteres zu finden und durchzuhalten wären in einem Gespräch mit den Armen der allernächsten Zukunft – und der Gegenwart. Denn solche Argumente würden ja unvermeidlich unserer eigenen Lebensform der (vielleicht gar nicht wirklich geforderten) permanenten Intensität einen normativen Status geben. Warum aber soll man eigentlich zu jenen fünfunddreißig Prozent gehören wollen, die angeblich das Überleben der anderen (fünfundsechzig Prozent) Menschen sichern?


Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.

Titelbild: Brook Ward / flickr.com

Bilder im Text: Peter Jakobs, Deine Stimme gegen Armut, Jean Pierre Hintze / jeweils flickr.com

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