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Dr. Martin R. Herbers ist seit September 2012 am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft als Akademischer Mitarbeiter beschäftigt. Zu seinen Arbeits- und Interessensgebieten zählen Phänomene der politischen Öffentlichkeit, politische Unterhaltungskommunikation und visuelle Kommunikation. 2013 schloss er erfolgreich sein Promotionsprojekt zur Produktion politischer Unterhaltungssendungen im deutschen Fernsehen ab.
In den Jahren 2008 bis August 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster auf verschiedenen Positionen und Projekten tätig.
Von 2003 bis 2007 studierte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Kommunikationswissenschaft mit den Nebenfächern Psychologie und Deutsche Philologie.
Können Sie uns zunächst erklären, was es mit dem Phänomen „VICE“ auf sich hat? Welche Inhalte werden präsentiert?
Dr. Martin R. Herbers: Das Magazin VICE beschäftigt sich, wie der Name schon vermuten lässt, mit den Lastern des Menschen und den lasterhaften Auswüchsen der Gesellschaft – im wesentlichen also mit allem, was als in der westlichen Welt als Tabubereich angesehen wird. Sex, Drugs und Rock’n’Roll fasst das Programm sehr gut zusammen. Ursprünglich war VICE ein Magazin der Counterculture-Bewegungen in Kanada, in dem in den 1990er-Jahren Themen wie rekreationaler Drogenkonsum, der musikalische Underground oder generell alternative Lebensformen thematisiert wurden und so widerständig gegen hegemoniale Diskurse gearbeitet wurde. Der Stil des Magazins war und ist dabei hochgradig subjektiv und anwendungsorientiert. Aus der Perspektive von ‚Otto Normalverbraucher’ werden die gesellschaftlichen Randbereiche thematisiert und so erfahrbar gemacht. Es ist ein Kind einer vergangenen Zeit, ähnliche zentrale Werke der nordamerikanischen Counterculture der 1960er und 1970er Jahre, wie etwa Steal this Book von Abbie Hoffmann verfolgten ähnliche Themen und Darstellungsformen. VICE wird gegenwärtig zu einer crossmedialen Marke ausgebaut – es gibt eine eigene Website, auf der neben den klassischen Texten auch Video-Reportagen und Dokumentationen veröffentlicht werden. Ebenfalls gehört ein Plattenlabel zum Portfolio. Einzelne Produkte werden hier synergetisch genutzt – so begleitete VICE etwa die Transformation von Snoop Dogg vom Rapper zum Rastafari Snoop Lion im Film Reincarnated und verlegte auch gleich dessen gleichnamiges Album. Jüngst wird es auch in Deutschland durch die Ausstrahlung der VICE Reports auf RTLII populär.
Die Videos und Artikel lassen sich getrost als sehr subjektiver Journalismus beschreiben — es wird gekokst, gefeiert und Geschlechtsverkehr gehabt. Geht’s dort überhaupt um Journalismus?
Herbers: Versteht man Journalismus als gesellschaftliches Teilsystem, dass die Aufgabe hat, die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu ermöglichen, dann ist VICE sicherlich auch Journalismus, nur eben kein klassischer Nachrichtenjournalismus. Hier handelt es sich eher um einen Vertreter alternativer Journalismen, wie etwa dem literarischen Journalismus, dem New Journalism oder dem Gonzo Journalismen. Daher ist es anderen Selektions- und Darstellungsmechanismen verpflichtet – VICE kann, ähnlich wie Truman Capote in seinem journalistischen True-Crime-Roman In Cold Blood sehr viel ausführlicher und hintergründiger Erzählen, es kann, so wie Hunter S. Thompson in seiner Reportage Fear an Loathing in Las Vegas: A Savage Journey to the Heart of the American Dream stark surreal, nahezu synästethisch, über die Eindrücke anstelle der Fakten zu einem Thema berichten oder einfach sehr deutlich Position beziehen, wie etwa Gay Talese in seinem Bericht Frank Sinatra has a Cold, in dem der Sänger als gestresst, müde und generell kaputt dargestellt wird. VICE hat keinen gesellschaftlichen Auftrag, wie etwa Nachrichtenjournalismus und muss daher nicht nachvollziehbar oder gar objektiv sein, berichtet aber trotzdem über gesellschaftliche Ereignisse und macht diese beobachtbar – auch wenn diese vielleicht nur teilgesellschaftlich relevant sind.
VICE.com ist mittlerweile mehr Wert als die New York Times. Die Frage ist kurz, aber wahrscheinlich schwer zu beantworten: Warum?
Herbers: Vorbehaltlos unterschreiben würde ich diese Behauptung nicht. Da kommt es auf eine differenzierte Betrachtung dessen, was als Wert gemeint ist, an. Wenn wir den ökonomischen Wert im Sinne von Kapital meinen, dann ist dies vielleicht sogar richtig – eventuell verkauft sich Werbefläche auf VICE teurer als auf der New York Times, eventuell werden die Websites unterschiedlich oft von verschiedenen Usern angeklickt, was sich in entsprechenden Finanzströmen äußert, die gegenübergestellt werden können. Wenn wir allerdings andere Werte, wie den journalistischen, gesellschaftlichen, politischen, oder gar individuellen Wert der einzelnen Angebote meinen, dann sind wir hier stark im Bereich einer normativen Diskussion, die prinzipiell nie eindeutig zu beantworten ist. Hier ist die Bemessung eines Wertes hochgradig Verhandlungssache – für einen Wirtschaftspolitiker hat die New York Times sicher einen höheren Stellenwert als die VICE, für einen politischen Aktivisten sind die Berichte in der VICE sicherlich wertiger. Mit dem Medienwissenschaftler Ulrich Saxer können wir uns dann sogar die Frage stellen, welches Medienangebot aus demokratischer Sicht wertvoller ist, weil es gesellschaftliche funktional oder gar dysfunktional ist – auch hier fällt die Antwort nicht eindeutig aus.
Wie könnten klassische Medienformate in Zukunft mit dem Trend von Angeboten wie VICE.com mithalten? Müssen auch tagesthemen und heute journal bald Szene-Drogen ausprobieren?
Herbers: Sicherlich nicht. Jedes Medienangebot hat schließlich seinen eigenen Stil, sein eigenes Publikum und seine eigenen Produktionsroutinen, die gewisse Erwartbarkeiten mit sich ziehen. Sicher wird das heute journal Themen wie Drogenmissbrauch behandeln, aber nach seiner eigenen Logik, nämlich die des klassischen Nachrichtenjournalismus. Daher wird hier erwartbar eine gewisse Distanz zum Thema eingenommen werden, die einen sehr viel stärker fakten- als meinungsorientierten Stil wählen wird und weniger subjektiv oder immersiv ist.
Trotz verruchter Themen gehen die Redakteure der Seite auch dahin, wo es weh tut.
Dokumentationen über den Klimawandel oder den Islamischen Staaten gehören zu den großen Erfolgen der Macher. Kann man diese Produkte denn ernst nehmen?
Herbers: Die Frage ist, worauf sich das „ernst nehmen“ bezieht. Das Stilmittel von VICE ist es ja, betont unernst an die Dinge heranzugehen. Die Perspektive des ‚Otto Normalverbrauchers’ sorgt dabei für eine gewisse Distanzlosigkeit, vielleicht sogar eine – im neutralen Sinne formulierte – Unreflektierheit den Themen gegenüber. In den Reportagen von VICE passieren eben Dinge, weil sie passieren, groß hinterfragt werden sie nicht. Hierdurch fehlt natürlich die vermeintlich objektive Perspektive des Nachrichtenjournalismus, die VICE aber auch gar nicht einnehmen will. Die Form der Darstellung bei VICE ist mit einer gewissen Flapsigkeit und einer gewissen Gleichgültigkeit verbunden – wie die ZEIT schrieb, ist es die Perspektive des Hipsters, der etwa in den Krieg gegen den IS zieht. Jenseits dieser Darstellungsfragen leistet also VICE genau das, was es soll, nämlich die Thematisierung gesellschaftlicher Randbereiche. Die ist in meinen Augen eine ernsthafte Ergänzung zum Nachrichtenjournalismus als dominantem gesellschaftlichen Vermittlungsmodus.
Kann und muss es überhaupt noch der Qualitätsanspruch „alter“ Medien sein, immer objektiv beide Seiten eines Themas zu betrachten oder muss es erlaubt werden, auch klar Stellung zu beziehen und sich auf eine Position zu konzentrieren?
Herbers: Wenn wir im Bereich des Nachrichtenjournalismus bleiben, dann wird dieser schon aus Gründen der Distinktion und der Erwartbarkeit nicht hinter seinen Ansprüchen zurückfallen. Das heißt, das in solchen Angeboten zumindest nicht bewusst eine bestimmte, klar definierbare Position vertreten wird. Dieser normative Anspruch ist natürlich auch zu hinterfragen. Die Framing-Theorie nach Robert Entman legt nahe, dass Journalisten in jedem Artikel nicht nur ein Problem identifizieren, sondern auch die Verantwortlichen dafür benennen, eine moralische Bewertung vornehmen und dem Publikum Handlungsoptionen vor diesem Hintergrund aufzeigen. All dies geschieht aber unbewusst im Zuge der Informationsvermittlung und nicht mit direktem Blick auf Meinungsbildung. Hierfür gibt es andere, klassische journalistische Angebote, wie der Kommentar oder die Glosse. Dreht man den Gedanken um, dann wird VICE ja auch nicht auf die Idee kommen, klassischen Nachrichtenjournalismus zu machen – selbst die Hangover News von VICE, als dem Nachrichtenjournalismus ähnlichstes Angebote, laufen ja nach der internen Logik von VICE ab.
Nach eigenen Angaben sind die Nutzer der Seite „männlich, unter 40 und haben Geld“. VICE selbst behauptet, ihre Besucher seien die Entscheider vor morgen. Welche Faszination übt die Seite gerade auf dieses Publikum aus?
Herbers: Hier stellt sich mir grundsätzlich die Frage, ob dies das tatsächliche, oder das gewünschte Publikum von VICE ist. In jedem Fall kann hier mit Lionel Festingers Theorie des sozialen Vergleichs eine grundlegende Erklärung für die Anziehungskraft der Angebote für dieses Publikum gefunden werden. Festinger geht davon aus, dass jedes Individuum Informationen über sich selbst gewinnen kann, in dem es sich mit anderen Individuen vergleicht. Hier sind drei Vergleichsformen möglich: gleichrangige Informationsgewinnung unter Peers, aufwärts gerichtete Vergleiche, die der eigenen Verbesserung dienen sollen und schließlich abwärts gerichtete Vergleiche, welche die eigene Position bestätigen und den Selbstwert erhöhen sollen. Im Prinzip bietet VICE dem so beschriebenen Publikum die Möglichkeit des Abwärtsvergleichs: Die ‚gut situierten Entscheider’ haben die Möglichkeit, sich ‚kaputte Typen’ aus Bereichen der Welt anzuschauen, die ihnen auf Grund der eigenen Situation verschlossen bleibt. Damit verbunden ist auch immer eine gewisse Form des Eskapismus, welcher durch die Beiträge eröffnet wird und die dem Publikum so die Möglichkeit einer gefahrlosen (Sekundär-)Erfahrung dieser gesellschaftlichen Randbereiche bietet.
Vielleicht sind die Berichte – und hier spekuliere ich ein wenig – auch die Möglichkeit der Bewältigung einer anstehenden Midlife-Crisis in dieser Publikumsgruppe. Wurde früher durch den Kauf eines Sportwagens oder durch das Spielen in einer Coverband dem eigenen Leben ein wenig Rock’n’Roll gegeben, so geschieht dies vielleicht gegenwärtig durch das Rezipieren von Angeboten wie VICE.
Titelbild: Screenshot von www.vice.com/de, Adaption mit Logo
Bilder im Text: Gage Skidmore / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Corinna Dumat / flickr.com (CC BY 2.0)
"Cadaver dissection table - long shot". Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann