ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Dr. Martin R. Herbers ist seit September 2012 am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft als Akademischer Mitarbeiter beschäftigt. Zu seinen Arbeits- und Interessensgebieten zählen Phänomene der politischen Öffentlichkeit, politische Unterhaltungskommunikation und visuelle Kommunikation. 2013 schloss er erfolgreich sein Promotionsprojekt zur Produktion politischer Unterhaltungssendungen im deutschen Fernsehen ab.
In den Jahren 2008 bis August 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster auf verschiedenen Positionen und Projekten tätig.
Von 2003 bis 2007 studierte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Kommunikationswissenschaft mit den Nebenfächern Psychologie und Deutsche Philologie.
Dr. Martin R. Herbers schaut TV und redet auch gerne darüber. Mehr als einmal blieb er auf Programmformaten hängen, in denen „Die Bauretter“ fachmännisch in die Hände spucken. Oder in denen Tine Wittler „Einsatz in vier Wänden“ zeigt und aus einer verwohnten, unpraktischen Küche einen violett-cremefarbenen Traumraum zaubert. Oder in denen Dekorateurin Enie van de Meiklokjes zusammen mit Bauleiter Mark Kühler „Wohnen nach Wunsch“ auch für arme Leute möglich macht. Makeover-Shows wie diese boomen erst seit ein paar Jahren im deutschen Fernsehen. „Warum ist das so?“ fragte sich Herbers, und suchte nach Antworten, die er auf dem ZU-Sommerfest am 12. September mit einem Vortrag über Home-Improvement- und Makeover-Shows präsentierte.
Das Aufkommen des privaten Rundfunks in den 1990er Jahren sei Ursache für einen grundsätzlichen Wandel - nicht nur bezogen auf die Medienlandschaft, sondern auch bezogen auf die Programmangebote. Seitdem es RTL, SAT1 und Co. gibt, ist laut Herbers eine deutliche Zunahme von Unterhaltungssendungen zu verzeichnen. Klassische Dokumentationen und journalistische Sendungen müssen ganz weichen oder bekommen wenig attraktive Sendeplätze. Und noch etwas lässt sich beobachten: Das sogenannte Reality TV, das sowohl unterhalten als auch informieren soll, boomt. Es läuft unter verschiedenen Namen wie Doku-Reihe, Doku-Soap, Scripted Reality oder Factual Drama. Stets handelt es sich dabei um ein hybrides Angebot, das Fakt und Fiktion miteinander vermischt und so neue Inhalte schafft.
Warum Reality TV in der Gegenwart so gut funktioniert? Es ist „eine strukturelle Reaktion auf Veränderungen auf Zuschauerebene, auf der Ebene von Gesellschaft und Politik, sowie auf wirtschaftlicher Ebene“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler. Und bezieht sich zunächst auf den deutschen Soziologen Jürgen Habermas, der den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschrieb. Eine „normativ gute Gesellschaft“ gründet sich nach Habermas auf einer öffentlichen Kommunikation, die eine gesellschaftliche Ordnung ermöglicht - auf Basis des Konsenses all ihrer Mitglieder. Die Bürger allerdings müssten „die Dinge von allgemeinem Belang frei von privaten Interessen“ verhandeln. Das tun sie nicht, stellte Habermas fest. „Er attestiert einen sozialen Strukturwandel des Bürgertums, welches sich gegenwärtig kaum an der gemeinsamen Verhandlung von Dingen des allgemeinen Belangs beteiligt, sondern private Interessen verfolgt“, erklärt Herbers. Die Folge: eine fragmentierte Öffentlichkeit.
Über diese fragmentierte Öffentlichkeit müssen sich dann auch die Medienanbieter Gedanken machen. Während der „Tatort“ oder die „Lindenstraße“ eine große, heterogene Zuschauerschaft erreicht und im Habermas‘schen Sinne „Dinge von allgemeinem Belang“ wie Rassismus oder Korruption in der Politik thematisiert, richten sich Home-Improvement-Shows an ein spezielles Publikumssegment, dessen Bedürfnisse nach Unterhaltung und Information befriedigt werden soll. Für den ökonomisch denkenden, privaten Fernsehsender ergeben sich hieraus mehrere Vorteile: Ist die Zielgruppe erst einmal gesichert, lassen sich solche Sendungen gut als Werbefläche für Baumärkte, Möbelhäuser und Dekoläden vermarkten. Das garantiert den kommerziellen Erfolg der Sendung. Außerdem, fügt Herbers hinzu, ist die „Produktion von Makeover-Shows planbar und günstig durchführbar“. Das wiederum sorgt für permanent geringe Produktionskosten. Der Medienanbieter freut sich, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Bei seiner Recherche zum Thema ist Herbers noch auf eine andere, gesellschaftlich-politische Perspektive gestoßen, die den Erfolg von Heimwerkerserien erklären kann. Der Kommunikationswissenschaftler John McMurria hat den US-amerikanischen Fernsehmarkt analysiert und sieht die Anschläge des 11. September 2001 als Ursache für eine politische und kulturelle Krise. „Auf die vermeintliche, permanente Bedrohung von außen reagieren US-Bürger nach den Ausführungen von McMurria mit der Besinnung auf sich selbst: Sie reisen weniger und erwerben immer mehr Grundstücke, bauen Häuser und kaufen Wohnungen, um der Krise zu entkommen“, erzählt Herbers in seinem Vortrag. „Diese Entwicklung folgt dabei der neoliberalen politischen Kultur der USA, welche die privaten (auch ökonomischen) Interessen des Einzelnen vor soziale Interessen stellt und Eigenverantwortlichkeit als Maxime zur Durchsetzung dieser Interessen erhebt.“ Eine Kultur, die auch hierzulande angekommen ist?
Anderes Szenario: Eine Frau, nennen wir sie einfach mal Marion, verlor vor 13 Jahren ihren geliebten Gatten. Die Kinder waren damals schon aus dem Haus, Marion traurig und einsam. Und so entwickelte sie ein Messie-Syndrom. Die schlimmen Folgen: Heute stapeln sich in der Wohnung Kisten, Kleinkram, Möbel und Abfälle. Die Mäuse haben die Küche vereinnahmt und Marion lebt mitten im Chaos. Üble Gerüche, die Enge des zugemüllten Schlafzimmers und ihre Unbeholfenheit ob dieser Situation treiben der Tochter Tränen in die Augen. Ein typisches (fiktives) Ausgangs-Szenario für „Das Messie-Team“! Das hilft nicht nur beim Ausmisten, Aufräumen und Neugestalten, sondern macht nebenbei auch psychologische Beratung für Marion und deren erwachsene Kinder. Diese Komponente einer Makeover-Show zeigt sich dann auch im Untertitel: „Start in ein neues Leben“.
Wenn Menschen wahllos Gegenstände anhäufen, ist das ein psychopathologischer Zustand, der oft von Antriebslosigkeit und Verwahrlosung begleitet wird. Diese Konstellation, so Herbers, lässt sich im Rahmen des Reality TV gut ausnutzen. Hoarding Shows funktionieren auf der einen Seite wie eine Makeover-Show, der Protagonist kann aber im neoliberalistischen Sinne nicht mehr eigenverantwortlich handeln. Der Sammler, der Messie, der Hoarder unterbricht aus dieser wirtschaftlichen Perspektive die Warenzirkulation und sorgt für ökonomische Stagnation, während „reguläre Makeover-Shows die Idee [verfolgen], dass durch das Investieren in das eigene Heim und dem damit verbundenen Konsum von Waren und Dienstleistung ein persönlicher Fortschritt erzielt werden kann“. Klar, dass hier ein TV-Format hermuss, das dem aus der Reihe fallenden Protagonisten marktkonformes Verhalten beibringt.
Ob Zuschauer sich durch das Anschauen von Heimwerker-Sendungen emanzipieren oder manipulieren lassen und ob sie sich darüber überhaupt Gedanken machen, bleibt dahingestellt. Fakt ist, dass es den Protagonisten in Shows wie diesen dann hinterher manchmal noch schlechter geht als vorher, wie ein Artikel in der Welt (18.7.2015) beschreibt: „Nach Wittler & Co. ist alles noch viel schlimmer“.
Titelbild: aliquando / www.flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Gilly / www.flickr.com (CC BY 2.0);Sascha Nonn / flickr.com (CC BY-ND 2.0); Wolf-Ulf Wulfrolf / www.flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)