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Reinhard Merkel, 1950 in Hof geboren, ist ein emeritierter deutscher Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. 1991 erhielt Merkel den Jean-Améry-Preis für Essayistik. 2010 wurde er in die Leopoldina aufgenommen. Merkel nahm als Schwimmer an den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt teil. Danach studierte er Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie Rechtswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach seiner Promotion im Jahr 1993 in München und Habilitation 1997 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt nahm er 1998 die Lehrtätigkeit auf. Merkel veröffentlichte 2008 eine Monografie über Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Mit Ablauf des Sommersemesters 2015 wurde Merkel emeritiert.
Daran, dass es ein kontroverser Abend werden würde, ließ Reinhard Merkel von Beginn an keine Zweifel. „Ich bewege mich mit meinen Gedanken – und ich kann nicht anders – außerhalb des Mainstreams der Political Correctness“, so die salvatorische Vorbemerkung des Rechtsphilosophen. Und so reichte die Diskussion nach dem Vortrag des Mitglieds des Deutschen Ethikrates, der der Einladung des „Club of International Politics e.V.“ zu einem GlobalTalk an der Zeppelin Universität nach Friedrichshafen gefolgt war, bis weit in den Abend hinein. Merkel beleuchtete Migration als moralisches Problem – und stellte dabei die nach eigener Aussage nicht salonfähige Frage, ob es im Kontext der Einwanderung muslimischer Bürger ein deutsches Recht auf den Erhalt der eigenen kulturellen Identität gebe.
Ein wenig mutete es wie eine klassische Universitätsvorlesung an, als Reinhard Merkel durch die dicht beschriebenen Slides seiner PowerPoint-Präsentation führte. Er habe sich bewusst für dieses Format entschieden, bemerkte er gleich zu Beginn seines Vortrages, ob des Risikos, sich in den Hinterländern schwieriger Fragen zu verlaufen und zu lange zu brauchen. Tatsächlich bot dieses Format dem Rechtsphilosophen die Möglichkeit, im Laufe einer knappen Stunde eine Bandbreite an kontroversen Themen anzuschneiden. Dass schwierige Sachverhalte dabei vereinfacht und überspitzt wurden, nahm er in Kauf.
Merkel begann seinen Vortrag mit der Frage danach, welche neuen Probleme die Flüchtlingskrise von 2015 aufgeworfen hatte und inwiefern sich diese von anderen historischen Migrationsbewegungen unterschied. Neben Faktoren wie Ausmaß, Dichte und Geschwindigkeit des Flüchtlingsstroms betonte er vor allem die Bedeutung und Signalwirkung technologischer Innovation. Über die Signalwirkung des berühmten Selfies, das Angela Merkel im Herbst 2015 mit einem Flüchtling schoß, gab es zahlreiche Debatten – Reinhard Merkel fasste seine Sicht der Dinge auf sinnbildlich stilisierte Weise so zusammen: „Das läuft innerhalb von drei Stunden durch hunderttausende Bewusstseine,
und Hunderttausende sagen: die wollen uns dort, wir brechen auf!“
Welche ethischen Pflichten gegenüber den Migranten bestehen, die – ob nun von einem Selfie oder von Bürgerkriegen, wirtschaftlichem Elend und Verfolgung getrieben – den Weg nach Deutschland gefunden haben, beleuchtete Merkel anschließend aus philosophischer Sicht. Er unterschied zwischen drei moralischen Prinzipien, die zur Unterstützung von Migranten verpflichten könnten: der allgemeinen ethischen Pflicht, Menschen in Not zu helfen – eine relativ schwache Pflicht, die kaum über das Gewähren von Einlass in das eigene Land und eine schiere Überlebenssicherung hinausgehe –, dem Prinzip globaler ausgleichender Gerechtigkeit – also der Pflicht zur Wiedergutmachung historischen Unrechts, das er aufgrund seiner den Rahmen sprengenden Vielschichtigkeit ausblendete – sowie dem Prinzip globaler territorialer Gerechtigkeit. Auf letzteres ging Merkel in Anlehnung an Immanuel Kants Idee eines ursprünglichen Gemeinbesitzes aller Menschen an jedem Platz der Erde ausführlicher ein. Niemandem dürfe zugemutet werden, in territorialem Elend zu verbleiben – wenn Land veröde, ausdörrte oder unter Wasser gesetzt werde, dürften Menschen von ihrem paritätischen Recht Gebrauch machen und in andere Staaten emigrieren, so das Argument, das vor allem im Hinblick auf Klimaflüchtlinge in Zukunft an immenser Bedeutung gewinnen dürfte.
Dass die Angelegenheit komplizierter wird, sobald man sich mit anderen Formen der Migration als der Klimaflucht konfrontiert sieht, sollte die spätere Diskussion zeigen. An dem Punkt nämlich, an dem die Lebensbedingungen an einem Ort nicht durch klimatische Gegebenheiten, sondern durch ökonomische Realitäten unmöglich verschlechtert werden, und an dem jene Realitäten unter anderem auch von den Industriestaaten selbst verursacht werden, findet eine Verstrickung der Prinzipien globaler ausgleichender und territorialer Gerechtigkeit statt.
Im weiteren Verlauf seiner Präsentation geht Merkel allerdings zunächst einmal von der Prämisse aus, dass gegenüber den meisten nach Deutschland kommenden Flüchtlingen lediglich die erste der genannten Pflichten, also eine allgemeine moralische Hilfspflicht, besteht. Er malt das Bild der „Afrikaner, die auf gepackten Koffern sitzen“: 50 Prozent von ihnen wollen nach Europa, und von diesen 90 Prozent nach Deutschland – das seien, so Merkel, 180 Millionen Menschen. Diese Menschenmengen aufzunehmen, würde nicht bloß einen Kollaps der Sozialversorgungssysteme und soziale Unruhen verursachen, sondern sei zudem eine „gigantische moralische Fehlinvestition“. Denn das Geld, das man für Wirtschaftsflüchtlinge ausgebe, solle man besser in Entwicklungshilfe in den Herkunftsländern investieren, in denen es einen 20- bis 30-fach höheren Wert als in Deutschland habe.
Aufgrund all dieser Tatsachen müsse die Frage erlaubt sein, ob und wenn ja, in welchem Maße die einheimische kulturelle Identität gegenüber den ankommenden Flüchtlingen verteidigt werden dürfe. Merkel berief sich an dieser Stelle auf Artikel 27 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, welcher ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten das Recht zuspricht, ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und sie auszuüben sowie ihre eigene Sprache zu sprechen. Warum, so seine Frage, sollte dieses Recht nicht auch für Mehrheiten gelten, die sich in ihrer kulturellen Identität bedroht sehen? Schließlich funktionieren staatliche Gesetze und Verfassungen nur auf der Basis einer gesellschaftlichen Loyalität gegenüber dem ihnen zugrundeliegenden Normensystem – und einem Grundvertrauen, dass dieses auch von anderen anerkannt werde. Wer nachts in Südafrika durch bestimmte Viertel laufe, würde – sofern er es überlebt – erkennen, wieso Gesellschaften ohne ein solch stabiles Normensystem auf der Kippe stünden. Um einem solchen Schicksal zu entrinnen, müsse man von den hier ansässigen Migranten eine zivilgesellschaftliche Integration verlangen, also die Anerkennung und Aneignung normativer Verkehrsformen, die über das Recht hinausreichen.
Was dies konkret rechtlich bedeuten könnte, führte Merkel im Folgenden aus. So habe der deutsche Staat ausgehend von seinem Recht, der eigenen Kultur im öffentlichen Raum Vorrang zu gewähren, eine Hoheit darüber zu behalten, was in öffentlichen Schulen gelehrt werde. Wenn es dabei aufgrund der religiösen Überzeugung einzelner Eltern zu Friktionen komme, müssen deren Kinder das aushalten. Und auch eine Regulierung der öffentlichen Gesichtsverhüllung sei angesichts der Zahl von aktuell 800 Burkaträgerinnen deutschlandweit eine Farce. Aber ab 8000 Trägerinnen, wie es sie aktuell in Frankreich gebe, begännen die ersten Fragen, und spätestens ab 80.000 sähe man sich mit einer segregierten Minderheit konfrontiert, deren Abgrenzung von der deutschen Zivilgesellschaft Einhalt geboten werden müsse.
Man müsse und dürfe Flüchtlingen durch solche Maßnahmen klarmachen, dass sie in eine kulturell hochentwickelte Gesellschaft kämen, deren formelle Standards der öffentlichen Einflussnahme sie ebenso zu akzeptieren haben wie ihre normativen Fundamente. Zu diesen Fundamenten gehören unter anderem die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der unbedingte Vorrang von Rechts- und Verfassungsordnung von religiösen Geboten sowie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – Werte, die Merkel durch den Islam bedroht sieht.
Denn der Islam sei die einzige Religion, die heute noch als Theokratie operiere, und unter den mehr als 50 genuin islamischen Staaten weltweit gebe es keine einzige intakte rechtsstaatliche Demokratie. Wer das alles als kontingenten Zufall abtue, sei naiv, betont der Jurist. Und implizierte durch die Beispiele von Paralleljustiz in Berlin-Wedding, Kinderehen unter Flüchtlingen und Niquab tragenden Schülerinnen, dass der theokratische Islam bereits Einzug in unsere Gesellschaft gehalten habe. Die gescheiterte europäische Integration des Islams, die selbst der Politikwissenschaftler syrischer Herkunft Bassam Tibi mittlerweile öffentlich proklamiere, untermauerte Merkel mit einer ausführlichen Zusammenfassung der umstrittenen „Six Country Immigrant Integration Comparative Study“ des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB). Angesichts jener Studie, nach der zwei Drittel der von ihr befragten türkischen und marokkanischen Einwanderer als Fundamentalisten einzustufen seien, beunruhigten ihn die demografischen Entwicklungen in europäischen Großstädten: Schon 2050 werde es laut Eurostat in Brüssel eine muslimische Mehrheit geben, in den kommenden einhundert Jahren werden weitere Städte und schließlich Länder folgen. Mit Verweis auf Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, einen Roman, in dem ein fundamentalistischer muslimischer Politiker rechtmäßig zum Staatspräsident Frankreichs gewählt wird, prognostiziert Merkel, dass jene Muslime ihre politische Agenda vollkommen demokratisch durchsetzen könnten. Ein kultureller Mehrheitsschutz erscheine angesichts all jener Tendenzen auf einmal nicht mehr ganz so absurd. Die Frage, wie genau dieser Schutz aussehen solle, ließ Merkel bewusst unbeantwortet. Stattdessen forderte er zum Ende seines Vortrages energisch: „Wir müssen anfangen, offen und öffentlich über diese Fragen zu reden und nicht die bleischwere Drohung der Political Correctness über diese Dinge zu verhängen.“
Für reichlich Diskussionsstoff war damit allemal gesorgt. Vor allem Joachim Behnke, Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, kritisierte Merkels Aussagen scharf. Unter anderem in Bezug auf dessen Umgang mit den höchst kontingenten langfristigen Eurostat-Zukunftsprognosen warf er dem Rechtsprofessor eine selektive Datenwahrnehmung vor. Zudem wies er darauf hin, dass es der Westen selber war, der die vor 50 Jahren in Ägypten und im Iran aufkeimende Bewegung, den Islam an europäische Länder anzugleichen, wieder und wieder zerschlagen hatte - nicht zuletzt mit der Finanzierung der Taliban durch die USA. Und dass viele muslimische Staaten nach wie vor einen laut Merkel „voraufklärerischen Glauben“ vertreten und in Hinblick auf wissenschaftliche Innovationen weit hinter den meisten säkularen Demokratien zurückliegen, hinge auch mit ihrer Vergangenheit als westliche Kolonien zusammen. Spätestens an diesem Punkt wurde deutlich, dass sich die Frage nach globaler ausgleichender Gerechtigkeit nicht so einfach aus der Debatte um den Umgang mit Migranten aus muslimischen Ländern ausklammern lässt - vor allem dann nicht, wenn man es sich zum Ziel gesetzt hat, die vereinfachenden und relativierenden Denkmuster der politischen Korrektheit zu überwinden.
Portrait-Foto:
| Heinrich-Böll-Stiftung / Flickr: Reinhard Merkel (CC BY-SA 2.0) | Link
Titelbild:
| kalhh / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Club of International Politics e.V. / Lennard Kritzler
| Ggia / Eigenes Werk (CC-BY-SA 4.0) | Link
| KreativeHexenkueche / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: CvD