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Der 1967 in Mannheim geborene Martin Elff studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Universität Hamburg. Nach seinem Studienabschluss wechselte er an die Universität Mannheim, wo er zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und dann am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung tätig war. Nach seiner Promotion zum Thema „Politische Ideologien, soziale Gruppierungen und Wahlverhalten“ arbeitete er am selben Lehrstuhl als Wissenschaftlicher Assistent, bevor ihn eine Lehrtätigkeit an die University of Essex (England) führte.
Zuletzt war Martin Elff Akademischer Rat am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz. Dort habilitierte er 2013 über das Thema „Politischer Wettbewerb und Gesellschaft – Empirische und methodische Beiträge zur Analyse ihrer Wechselbeziehungen“ und befasste sich mit dem Wahlverhalten in Deutschland sowie Fragen der Bürgerkompetenz und der politischen Meinungsbildung.
Nach dem historisch schlechten Abschneiden der SPD bei der diesjährigen Europawahl ist die SPD wieder auf der Suche nach einer oder einem neuen Parteivorsitzenden. Kann die SPD damit ihren Abwärtstrend aufhalten?
Prof. Dr. Martin Elff: Ich glaube nicht, dass ein Wechsel an der Parteispitze den Abwärtstrend der SPD aufhalten oder auch nur zu dessen Verlangsamung beitragen kann. Immerhin wird die Person des oder der Parteivorsitzenden wenig zum schlechten Abschneiden der SPD bei der Europawahl beigetragen haben, so dass es wenig Sinn macht, sie hierfür zur Verantwortung zu ziehen. Schließlich ist eine Europawahl keine Abstimmung über die Vorsitzenden der Parteien.
In der Politikwissenschaft werden Europawahlen zwar oft als Wahlen zweiter Ordnung charakterisiert, in denen die Wählenden sich nicht so sehr an europäischen Themen orientieren, sondern eher eine Zwischenbewertung der Arbeit der amtierenden Regierung abgeben: Sie können eine Regierung kritisch bewerten, ohne sie dabei gleich abzuwählen. Sofern also jemandem in der SPD eine Verantwortlichkeit für das Abschneiden der Partei bei der Europawahl zuzuschreiben wäre, dann wären das die von der SPD gestellten Mitglieder der Bundesregierung. Allerdings war die Europawahl von 2019 kaum eine „typische“ Wahl zweiter Ordnung: Die Wahlbeteiligung war für diese Art von Wahlen ungewöhnlich hoch und deutlich stärker von europäischen Themen geprägt als sonst (wohl auch in Reaktion auf den „Brexit“).
Den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien kommt in der Medienberichterstattung über Bundestagswahlen viel Aufmerksamkeit zu, allerdings wird deren Bedeutung für Wahlgewinne oder -verluste gerade deshalb schnell überschätzt. Charismatische Spitzenkandidaten oder -kandidatinnen können vielleicht eine enttäuschte oder lethargisch gewordene Anhängerschaft aktivieren und mobilisieren oder einige unentschiedene Wählerinnen und Wähler in die eine oder andere Richtung „kippen“, allerdings werden sie kaum größere Segmente der Wählerschaft zu einer Konversion bewegen können. Auch ist ein in den Medien gewonnenes Charisma nicht immer von dauerhafter Wirksamkeit, wie die SPD im Falle von Martin Schulz erfahren musste. Und auch nur dann, wenn für alle potenziellen Wählerinnen und Wähler offensichtlich ist, dass ein Parteivorsitzender oder eine Parteivorsitzende automatisch Kanzlerkandidat oder -kandidatin wäre, kann die Person des oder der Parteivorsitzenden überhaupt relevant für die Wahlchancen der Partei sein.
Auffällig ist, dass die mittlere Amtszeit von SPD-Parteivorsitzenden seit der Zeit Willi Brandts dramatisch zurückgegangen ist. Letzterer war nicht weniger als 22 Jahre Parteivorsitzender. In den vergangenen 22 Jahren dagegen hatte die SPD je nach Zählart 9, 11 oder 12 verschiedene Bundesvorsitzende. Dieser im Vergleich zur CDU oder FDP relativ häufige Wechsel an der Spitze der SPD scheint dieser kaum genutzt zu haben. Vielmehr ist die Zeit des häufigen Wechsels auch eine Zeit des allmählichen Niedergangs der SPD gewesen. Ich kann mich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass dieser häufige Personalwechsel eher ein Ausdruck der Rat- und Hilflosigkeit der SPD angesichts des steten Schrumpfens ihrer Wählerschaft ist.
Das alles soll aber nicht heißen, dass es irrelevant sein, welche Person schließlich Parteivorsitzende oder Parteivorsitzender wird. Je nachdem, ob ein(e) Partei-Linke(r) oder Partei-Rechte(r) in den Vorsitz gewählt wird, zeigt das an, welche Strömung innerhalb der Partei das größere Gewicht hat und in welche Richtung sich die Partei politisch bewegt.
Juristen haben bereits kritisiert, dass das Verfahren zur Bestimmung eines oder einer neuen Parteivorsitzenden der SPD nicht rechtens sei. Was ist Ihre Einschätzung dazu?
Elff: An dem jetzigen Verfahren sind mehrere Aspekte neuartig. Erstens soll jetzt eine „Doppelspitze“ gewählt werden können statt einer einzigen Person. Zweitens soll vor der Wahl eine Online-Mitgliederbefragung stattfinden. Drittens sollen die Bewerberinnen oder Bewerber von mindestens fünf (statt bisher drei) Unterbezirken unterstützt werden. Allerdings wird durch die Mitgliederbefragung lediglich bestimmt, wen der Parteivorstand dem Parteitag zur Wahl vorschlägt. Ob das Verfahren formalrechtlich von der Parteisatzung abweicht, dazu möchte ich als Nicht-Parteijurist nichts sagen.
Jedoch dürfte dieses Verfahren offener sein, als wenn der Parteivorstand allein entscheidet, ob und welche Kandidatinnen oder Kandidaten dem Parteitag zur Wahl vorgeschlagen werden. Durch die Mitgliederbefragung will der Parteivorstand diese Offenheit zum Ausdruck bringen und durch die Online-Variante wohl zeigen, dass er auf der Höhe der Zeit ist. Was der Partei zu wünschen wäre, ist, dass dabei eine Persönlichkeit gefunden wird, die zwischen den unterschiedlichen Parteiströmungen ausgleichen kann und die das Vertrauen der Partei und den Respekt der breiteren Öffentlichkeit genießt.
Welche Ursachen hat nach Ihrer Auffassung der Abwärtstrend der SPD?
Elff: Für den Abwärtstrend der SPD gibt es kurz-, mittel- und langfristige Ursachen. Als langfristige Ursache wird in der sozialwissenschaftlichen Diskussion oft das Schrumpfen des „traditionellen Arbeitermilieus“ angeführt, das heißt derjenigen Bevölkerungsgruppe, aus der sich die traditionelle Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts rekrutiert hat: die in Bergbau und Industrie Beschäftigten und deren Familienangehörigen. Allerdings sollte man diese sozialstrukturelle Ursache nicht überschätzen. Schon in den 1950er- und erst recht in den 1960er- und 1970er-Jahren konnte die SPD auch jenseits des „Arbeitermilieus“ Wählerstimmen gewinnen. Jedoch wird für die SPD spätestens seit Ende der 1970er-Jahre ein immer größeres Problem, dass sie dieses „Arbeitermilieu“ immer weniger politisch mobilisieren kann. Die Daten der seit 1980 durchgeführten „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) sprechen eine recht deutliche Sprache: Unter den angelernten und Facharbeitern nimmt die Wahlenthaltung immer weiter zu und die Absicht, die SPD zu wählen, immer mehr ab. Gleichzeitig gelingt es der SPD nicht, diese Verluste durch Zugewinne in anderen Gruppen auszugleichen. Nach 2005 beschleunigt sich dieser Abwärtstrend: Bei der Bundestagswahl 2009 steigt die Wahlenthaltung (relativ zur vorherigen Bundestagswahl) abrupt an und in gleichem Maße erleidet die SPD deutliche Verluste.
Zu den mittelfristigen Ursachen dürften die sogenannten Hartz-Reformen 2004/2005 gehören, die einerseits eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und andererseits spürbare Einschnitte in den Sozialleistungen für Erwerbslose bedeuteten. Ob die Reformen in dem Ausmaß notwendig waren, darüber wird man unter Ökonomen wohl unterschiedliche Auffassungen finden, jedenfalls haben sie der SPD in ihrer bisherigen Kernwählerschaft an Zustimmungen gekostet. In den ALLBUS-Daten macht die Unterstützung für die SPD 2004 unter den angelernten und Facharbeitern einen deutlichen Ausschlag nach unten und die Absicht, sich der Wahl zu enthalten, einen ebenso deutlichen Ausschlag nach oben. Dass sich dies erst 2009 und nicht schon bei der Bundestagswahl 2005 in Stimmenverlusten für die SPD niederschlug, lag wohl daran, dass die Unionsparteien 2005 sich für noch deutlichere Einschnitte in den Sozialausgaben aussprachen und die SPD im Vergleich dazu für potentiell von Einschnitten Betroffene als das kleinere Übel erschien. Dass die SPD dann 2005 mit ebendiesen Unionsparteien eine Große Koalition einging und nach 2005 auch wenig (oder zumindest wenig Sichtbares) unternahm, um die sozialen Folgen der Hartz-Reformen abzufedern, dürfte zur schon erwähnten Beschleunigung des Abwärtstrends nach 2005 beigetragen haben.
Die weiteren Verluste der SPD bei der Europawahl 2019 weisen auf eine neuartige, sich erst seit kurzem äußernde Ursache hin. Während der Abwärtstrend seit den 1970ern und dessen Beschleunigung seit 2005 vor allem die Form einer De-Mobilisierung einer ehemaligen Kernanhängerschaft annahm, ist der Einbruch bei der Europawahl als eine Umorientierung der nichttraditionellen Segmente des politischen Lagers Links von der Mitte zu charakterisieren. Das heißt von den Stimmenverlusten der SPD haben ganz offensichtlich die Grünen am meisten profitiert. Allerdings gibt es für die Klärung dieser Ursache bislang wenig geeignete Daten. Zumindest die Ergebnisse der Umfragen der kommerziellen Institute der Markt- und Meinungsforschung deuten darauf hin, dass das Thema des Klimawandels in der ersten Jahreshälfte 2019 deutlich an Bedeutsamkeit in der Wählerschaft gewonnen hat.
Mit dem Parteitag im Dezember steht auch die GroKo-Bilanz an. Was raten Sie der SPD? Weiterregieren oder die Koalition platzen lassen?
Elff: Es ist wohl momentan kaum möglich für die SPD, es richtig zu machen. Die Große Koalition scheint der SPD wenig Profilierungsmöglichkeiten zu geben, andererseits gibt es offenbar kaum Alternativen zu ihr. Nach der Bundestagswahl 2017 hatte die SPD-Spitze ja zunächst eine weitere Regierungsbeteiligung ausgeschlossen und erst nach Scheitern der Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen sich auf neue Koalitionsverhandlungen mit der Union eingelassen. Würde die SPD die Große Koalition jetzt platzen lassen, sähe sie sich wahrscheinlich dem Vorwurf ausgesetzt, die politische Stabilität des Landes der eigenen Profilbildung zu opfern. Wenn eine Koalition mit den Unionsparteien für eine Partei Links von der Mitte eine programmatische Aufweichung oder gar einen Identitätsverlust darstellt, dann kann natürlich auch gefragt werden, warum das nur für die SPD gilt, während offenbar die Grünen durch die Koalition mit der CDU in Baden-Württemberg oder den Versuch, eine Jamaika-Koalition auf Bundesebene zu bilden, kaum politischen Schaden nehmen.
Glauben Sie, dass die SPD noch eine Zukunft als Volkspartei hat? Oder ist dieses Konzept generell überkommen?
Elff: „Volkspartei“ war eigentlich nie ein Konzept, das sich für sozialwissenschaftliche Analyse des Wahlverhaltens als nützlich erwiesen hätte. Vielmehr handelt es sich hier um einen Topos früherer Wahlkampfrhetorik, mit dem vor allem die Unionsparteien den Anspruch verbunden haben, keine bestimmte soziale Gruppe, sondern eben das ganze Volk zu vertreten. Allerdings ließ sich in den vergangenen Jahrzehnten die Kernwählerschaft der Unionsparteien sozialstrukturell kaum weniger eindeutig umschreiben als die der SPD. Wenn mit Volkspartei gemeint ist, dass eine Partei die Chance hat, allein eine Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen oder zumindest als größere Partnerin eine Regierungskoalition anzuführen, dann ist die Zeit der Volksparteien wohl auf absehbare Zeit vorbei, weil sich das Wahlverhalten immer weiter fragmentiert.
Titelbild:
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Redaktionelle Betreuung und Umsetzung: Florian Gehm