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Gesellschaftstheorie

Geld regiert die Welt

Eines der zentralen Themen unserer Untersuchung sind die Konsequenzen des Aufstiegs der immateriellen Ökonomie für die Ungleichheit in modernen Gesellschaften. Sollte es nicht gelingen, diesen Aufstieg gesellschaftlich beziehungsweise politisch zu regulieren, muss man davon ausgehen, dass die Ungleichheit weiter ansteigt, das heißt, dass der Zugang zu den Produktionsfaktoren für eine große Mehrheit an Menschen immer weiter begrenzt wird.

Dustin Voss
Alumnus des Bachelorstudiengangs „Sociology, Politics and Economics | SPE“
 
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    Zur Person
    Dustin Voss

    Dustin Voss ist Doktorand der Politischen Ökonomie am European Institute der London School of Economics and Political Science (LSE). In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit dem Ende des Keynesianismus, dem Aufstieg der Finanzialisierung und dem dynamischen Machtverhältnis von Staat, Wählern und wirtschaftlichen Sektoren. Zentral ist dabei insbesondere die Frage, welche unterschiedlichen Strategien europäische Parteien seit dem Ende des Fordismus verfolgt haben, um makroökonomisches Wachstum zu generieren und dabei verteilungspolitische Fragen zu lösen. Seine Forschungsinteressen liegen in der vergleichenden politischen Ökonomie, Geld- und Fiskalpolitik, politics of growth models sowie der komplexen Beziehung von Demokratie und Kapitalismus. 2017 erhielt er einen Master in Political Economy of Europe (mit Distinction) von der LSE nachdem er 2016 einen Bachelor in Sociology, Politics & Economics | SPE an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen abschloss. Neben seinen Forschungstätigkeiten unterrichtet Dustin an der LSE Kurse zu Political Economy of Advanced Nations und Power and Politics in the Modern World. 

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Skizzieren Sie für den Leser kurz den Inhalt Ihres Buches?

Dustin Voss: In unserem Buch untersuchen wir, welchen transformativen Prozessen Gesellschaften unterzogen werden, wenn Banken und Finanzdienstleistungen zum wichtigsten Wirtschaftssektor aufsteigen und Geld im Zuge dessen eine immer wichtigere und umfassendere Rolle einnimmt. Wir verdeutlichen die Bedeutung dieser Finanzialisierung entlang der vier klassischen Produktivkräfte – Land, Kapital, Arbeit und Wissen – und erörtern die Folgen eines schier unbändigen Drangs, alles Soziale quantifizieren und monetarisieren zu wollen. Unser besonderes Interesse gilt dabei den Spannungen zwischen existentiellen (das heißt rationalen) und moralischen Prinzipien der Wirtschaft, die sich in den Unterschieden zwischen Marktpreisen und gesellschaftlichen Werten ausdrücken. Wir zeigen in unserem Buch, dass jeder dieser vielfältigen Produktionsfaktoren inhärente Konflikte verkörpert, die im Zuge ihrer ökonomischen Rationalisierung verschärft werden. Und wir beleuchten die schwerwiegenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen, die diese Entwicklung nach sich zieht.


Weshalb rücken Sie Geld ins Zentrum Ihrer Gesellschaftstheorie der Moderne?

Voss: Die Sozialwissenschaften reduzieren Geld meist auf dessen Funktion als Tauschmittel. Das trifft selbstverständlich insbesondere auf die Wirtschaftswissenschaften zu. Dabei sollte Geld jedoch als weitaus umfassenderes, soziales Phänomen verstanden werden, das nicht nur rein funktional als Tauschmittel fungiert, sondern Preise kommuniziert und dadurch unzählige Bewertungen verkörpert. Diese werden im Zuge sozialer Prozesse in modernen Gesellschaften festgelegt und sind gleichzeitig natürlich Subjekt stetiger Veränderung. Im Umkehrschluss scheint daher wahr, was Joseph Schumpeter bereits vor fast genau einhundert Jahren schrieb: „Die Finanzen sind einer der besten Angriffspunkte der Untersuchung des sozialen Getriebes.“

Sie nähern sich in Ihrem Buch den Produktionskräften Land, Arbeit, Kapital und Wissen auf interdisziplinäre Weise: Wieso reicht dafür eine rein ökonomische Analyse nicht mehr aus?

Voss: Wir plädieren mit unserem Buch dafür, den Fokus auf das gesellschaftliche Ganze wiederherzustellen, aus der festen Überzeugung heraus, dass diese Perspektive am ehesten geeignet ist, die überaus komplizierte Funktionsweise des modernen Zusammenlebens zu verstehen und beeinflussen zu können. Und eine solche Perspektive setzt notwendigerweise Interdisziplinarität voraus. Wir verdeutlichen die Komplexität moderner Gesellschaften mit häufigen Verweisen auf das Prinzip der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, ein zentraler Begriff im Werk Karl Mannheims. Der Fokus auf gleichzeitig ungleichzeitige gesellschaftliche Phänomene und Prozesse hilft uns, soziale Komplexität adäquat zu erkennen und insbesondere fehlgeleitete Übergeneralisierungen zu vermeiden. Die Ökonomie tendiert dazu, in ihrem Drang nach Gleichgewicht und Stabilität, Prozesse als geschlossen und selbstreferenziell zu betrachten und dementsprechend allzu oft Übergeneralisierung zum Opfer zu fallen. Im Gegensatz dazu müssen wir uns der Komplexität von interdisziplinären Zusammenhängen über Raum und Zeit hinweg bewusst sein, wenn wir die Probleme moderner Gesellschaften wirklich verstehen und lösen wollen.


Wie haben sich die Produktionsmittel mit dem Entstehen industrialisierter Gesellschaften gewandelt?

Voss: Im Wandel der Produktionsmittel spiegeln sich die grundlegenden Veränderungen moderner Gesellschaften wider. Hervorzuheben sind dabei insbesondere Kräfte der Finanzialisierung und Globalisierung. Nehmen wir das Beispiel Boden: Hier zeigt sich, dass dieser Produktionsfaktor im Zuge dieses Wandels gänzlich reinterpretiert wurde. Dessen Wert ergab sich in Zeiten von Agrarwirtschaften noch einzig und allein aus dessen Produktionspotenzial, das heißt dem, was man darauf anbauen konnte. In unserer heutigen finanzialisierten, globalisierten Welt dient Boden als Spekulations- oder Versicherungsobjekt für internationale Investoren und umfasst Land, aber auch Umwelt und Natur, die über ihren natürlichen Nutzenwert hinaus auf nicht nachhaltige Weise ausgebeutet werden. Damit scheint dieser Produktionsfaktor zunehmend entfremdet von seinem eigentlichen, ursprünglichen Verständnis und verkörperten Wert.

Wenn der Aufstieg der immateriellen Ökonomie unaufhaltsam weitergeht: Was bedeutet das dann für die von Ihnen untersuchten Produktionsfaktoren?

Voss: Eines der zentralen Themen unserer Untersuchung sind die Konsequenzen des Aufstiegs der immateriellen Ökonomie für die Ungleichheit in modernen Gesellschaften. Sollte es nicht gelingen, diesen Aufstieg gesellschaftlich beziehungsweise politisch zu regulieren, muss man davon ausgehen, dass die Ungleichheit weiter ansteigt, das heißt, dass der Zugang zu den Produktionsfaktoren für eine große Mehrheit an Menschen immer weiter begrenzt wird. Praktisch lässt sich das beispielsweise an der derzeit bereits sehr heftig geführten Debatte um den Zugang zu Wohnraum festhalten, der durch Urbanisierung und Finanzspekulation vielerorts extrem verteuert und verknappt wird. Aber natürlich ist eine ähnliche Entwicklung in Bezug auf die Verfügbarkeit beziehungsweise Verteilung von Finanzkapital, Vermögenswerten und Schulden zu betrachten. Während Löhne seit Jahren stagnieren, geht die Schere zwischen Arm und Reich ungebremst weiter auseinander. Es hat sich gezeigt, dass der deregulierte Markt, der den Aufstieg der immateriellen Ökonomie ermöglicht und strukturiert, von selbst nicht in der Lage ist, diese elementaren Probleme zu lösen. 


Wie verhält sich die immaterielle Ökonomie zur Demokratie?

Voss: Diese Frage ist eng verbunden mit der Problematik, dass die immaterielle Ökonomie eine Tendenz hat, gesellschaftliche Ungleichheiten zu vertiefen. Jüngst wurden zahllose Forschungsarbeiten veröffentlicht, die zeigen, dass zunehmende Ungleichheit gepaart mit dem Gefühl gesellschaftlicher Stagnation oder sozio-ökonomischen Abstiegs radikalisierte Politik begünstigen. Gleichzeitig zeigen wir in unserem Buch auch, dass die immaterielle Ökonomie mit einer starken Individualisierung der Gesellschaft und einer Individualisierung von Verantwortung einhergeht. Das führt einerseits dazu, dass gesellschaftliches Organisationskapital abhanden geht und Bürger sich weniger in Vereinen, Parteien oder Organisationen engagieren, und andererseits dazu, dass sich viele Menschen alleingelassen und unterrepräsentiert fühlen. Dies alles scheinen Folgen einer enormen Beschleunigung des sozialen Lebens zu sein, die Finanzialisierung, Digitalisierung und Globalisierung mit sich bringen und die zu einer erheblichen Volatilität in allen Bereichen der Gesellschaft beiträgt.


Während die immaterielle Ökonomie kurzfristig und kapriziös ist, bleibt die Demokratie – unser wichtigstes gesellschaftliches Steuerungselement – behäbig und dogmatisch. Der Konflikt zwischen den schnelllebigen und prekären sozialen Institutionen – allen voran der Wirtschaft und den sozialen Medien – und den schwerfälligeren und überlegteren Institutionen der modernen Gesellschaft – wie dem politischen System und dem zivilen Diskurs – stellt eine grundlegende Herausforderung für kommende Generationen dar und trägt zu einem beunruhigenden Maß an Demokratieverdrossenheit, Vertrauensverlust und Skepsis bei.

Noch weniger greifbar als Geld in Scheinform ist eine noch junge Form des digitalen Vermögens: Bitcoin. Zurzeit gibt es nach Angaben der Internetseite coinmarketcap.com etwa 5.000 Kryptowährungen mit einem Marktvolumen von rund 210 Milliarden Dollar. Kryptowährungen sind digitale Zahlungsmittel, die auf kryptographischen Werkzeugen wie Blockchains und digitalen Signaturen basieren. Als Zahlungssystem sollen sie unabhängig, verteilt und sicher sein. Sie sind keine Währungen im eigentlichen Sinne. Einige in Digitalwährungen engagierte Anleger und Interessierte sprechen schon seit längerem von einem sicheren Hafen oder von digitalem Gold, wenn es um Kryptoanlagen wie Bitcoin geht. Diese Ansicht hat sich an den Finanzmärkten, insbesondere unter Profianlegern, bislang nicht durchgesetzt. Ein Grund dafür dürften die hohen Kursschwankungen sein, denen Digitalwährungen ausgesetzt sind. Zudem werden immer wieder Betrugsfälle und Diebstähle bekannt, was dem Ruf und der Verbreitung von Digitalwährungen schadet.
Noch weniger greifbar als Geld in Scheinform ist eine noch junge Form des digitalen Vermögens: Bitcoin. Zurzeit gibt es nach Angaben der Internetseite coinmarketcap.com etwa 5.000 Kryptowährungen mit einem Marktvolumen von rund 210 Milliarden Dollar. Kryptowährungen sind digitale Zahlungsmittel, die auf kryptographischen Werkzeugen wie Blockchains und digitalen Signaturen basieren. Als Zahlungssystem sollen sie unabhängig, verteilt und sicher sein. Sie sind keine Währungen im eigentlichen Sinne. Einige in Digitalwährungen engagierte Anleger und Interessierte sprechen schon seit längerem von einem sicheren Hafen oder von digitalem Gold, wenn es um Kryptoanlagen wie Bitcoin geht. Diese Ansicht hat sich an den Finanzmärkten, insbesondere unter Profianlegern, bislang nicht durchgesetzt. Ein Grund dafür dürften die hohen Kursschwankungen sein, denen Digitalwährungen ausgesetzt sind. Zudem werden immer wieder Betrugsfälle und Diebstähle bekannt, was dem Ruf und der Verbreitung von Digitalwährungen schadet.

Wie kann der sozialen Dominanz des Kapitals und der gesellschaftlichen Durchdringung der Finanzialisierung angemessen begegnet werden?


Voss: Wir sollten uns unbedingt auf Karl Polanyi zurückbesinnen, denn hier kann nur eine entschlossene gesellschaftliche Gegenbewegung helfen. In unserer Untersuchung zeigen wir, dass Finanzialisierung mitnichten als exogene Variable verstanden werden sollte, also in diesem Sinne als finanzieller Fluch, der vom Himmel fällt und Gesellschaften grundlegenden Veränderungen unterzieht. Vielmehr ist Finanzialisierung eine Konsequenz politischer Entscheidungen und rechtlicher Rahmenbedingungen, die je nach institutionellem Kontext und politischer Meinungsbildung unterschiedlich ausfallen kann. Die soziale Dominanz des Kapitals hat Ausmaße angenommen, die gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und umweltlich unverträglich ist. Und es gilt mehr denn je, die Konsequenzen einer weitreichenden Deregulierung – verbunden mit einem stetigen Rückzug des Staates und der Öffentlichkeit während der vergangenen Jahrzehnte – zu adressieren beziehungsweise rückgängig zu machen. Es muss dringend eine ernsthafte, öffentliche Debatte zu den sozial gerechten Preisen der Produktionsfaktoren geführt werden, wie dies beispielsweise jüngst in Bezug auf Wohnraum oder eine Steuer auf extrem hohe Kapitalvermögen getan wird. 


Was ist die ultimative Erkenntnis, die uns das Geld lehrt? Sehen Sie in der wachsenden Bedeutung der Finanzwelt eine tugendhafte Entwicklung oder einen dunklen Fluch?

Voss: Diese Fragen lassen sich am besten mit einem Verweis auf eine fast ein Jahrhundert alte Feststellung John Maynard Keynes beantworten. Dieser schrieb im Jahre 1923: „Geld ist nur wichtig für das, was es beschaffen wird ... Daraus folgt, dass eine Veränderung des Geldwertes, also des Preisniveaus, für die Gesellschaft nur insofern von Bedeutung ist, als sie ungleich verteilt ist. Solche Veränderungen haben in der Vergangenheit und auch heute noch die weitreichendsten gesellschaftlichen Folgen hervorgerufen, denn bekanntlich ändert sich der Wert des Geldes nicht für alle Menschen und nicht für alle Zwecke gleichermaßen.“


Keynes‘ Beobachtung unterstreicht unsere These, dass wir es beim Geld mit einer „gesamtgesellschaftlichen Tatsache“ zu tun haben, ein Begriff geprägt von dem französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss. Und hierin liegt auch die ultimative Erkenntnis, sofern es eine solche geben kann, die uns das Geld lehrt. Verändern sich Preise und Löhne, die wir in Geld messen, wirkt sich diese Veränderung stets ungleich auf verschiedene Individuen und gesellschaftliche Klassen aus. Preise und Werte ergeben schließlich nur im relativen Verhältnis Sinn. Und gleichzeitig sind solche Veränderungen Folgen sozialer Prozesse. Wie sich dieses Verhältnis aufgrund tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungsprozesse verändert, hat schwerwiegende Folgen für die Verteilungsgerechtigkeit und die soziale Stabilität. Insofern haben wir mit unserer interdisziplinären, gesellschaftswissenschaftlichen Analyse des Geldes versucht, die Beobachtungen von Keynes aufzugreifen und in Bezug auf moderne gesellschaftliche Entwicklungen – allen voran die wachsende Bedeutung der Finanzwelt – zu aktualisieren.


Dass diese Entwicklungen den Kern von gesellschaftlichen Krisen in sich tragen, kann kaum bezweifelt werden. Wie verbreitet und tiefgreifend diese Krisen sein werden, welche Folgen genau mit ihnen verbunden sein werden und ob sie den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform in sich tragen, ist jedoch offen und hängt in erster Linie davon ab, wie wir als Gesellschaft mit diesen Problemen umgehen. Ganz zentral ist dabei die Frage, ob sich moralische Prinzipien gegen rein ökonomische beziehungsweise quantifizierende Prinzipien behaupten können. Letzten Endes spiegelt das Geld lediglich Prozesse wider, die sozial und politisch, das heißt, aus dem gesellschaftlichen System heraus bedingt sind. Und genau dort werden sich Lösungen für diese Probleme finden.

Titelbild: 

| Christine Roy / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| M. B. M. / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

| Dmitry Demidko / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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