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Nico Stehr war bis Sommer 2018 Karl Mannheim Professor für Kulturwissenschaften an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen. Er ist Fellow der Royal Society (Canada) sowie Fellow der European Academy of Sciences and Arts. Sein umfassendes wissenschaftliches Werk konzentriert sich auf die Transformation moderner Gesellschaften hin zu Wissensgesellschaften und die mit diesem Wandel verbundenen Konsequenzen für verschiedene gesellschaftliche Institutionen von zentraler Bedeutung (z.B. die Wissenschaft, Politik, Governance, Wirtschaft, Ungleichheit und Globalisierung); des Weiteren beschäftigt sich Nico Stehr mit den gesellschaftlichen Ursachen und Folgen des Klimawandels.
Das vorliegende Buch verdeutlicht die hochgradige Komplexität des Verhältnisses von Gesellschaft, Wissenschaft und Klima. Die Tatsache des Klimawandels erfordert eine multidisziplinäre Herangehensweise, die die Vernetzung der drei Systeme erfasst. Es gilt zu erkennen, dass einerseits das Klima soziale, politische und wirtschaftliche Interaktionen prägt, es andererseits jedoch selbst von sozialen Strukturen, technologischen Praktiken und Energiekulturen beeinflusst wird. Dies ist von besonderer Relevanz in einer Zeit, in der die Klimawissenschaften unter Druck stehen, und zwar sowohl von der breiten Öffentlichkeit als auch von den politischen Entscheidungsträgern. Nicht zuletzt deswegen warnen Nico Stehr und Amanda Machin, ausgehend von den Erkenntnissen verschiedener Disziplinen und anhand von zahlreichen Beispielen, vor einfachen Annahmen und Antworten.
Ermöglicht wurde das (Buch-)Projekt durch die großzügige finanzielle Unterstützung von Roswitha und Volker Heuer.
Wie ist Klima als wissenschaftliches Objekt entstanden und wie hat es sich entwickelt?
Prof. PhD em. Nico Stehr: Das Interesse an Fragen des Klimas ist schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte manifest. In der ersten Phase steht der Mensch ganz im Mittelpunkt: Die ursprüngliche Beschäftigung mit dem Klima umfasste immer die Suche sowohl nach den Mechanismen als auch den Wirkungen des Klimas auf das Wesen des Menschen, seine Gesellschaftsverfassung, seine Gemütslage und seine Gesundheit. Hier finden sich somit die Ursprünge eines klassischen Klimadeterminismus, einer Lehre, die behauptet, gesellschaftliche Verhältnisse seien letzten Endes ein Effekt der Klimadynamik, die weit bis in das 20. Jahrhundert in verschiedenen Wissenschaften als selbstverständlich praktiziert wurde.
Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert setzte sich, zumindest in der Wissenschaft, die rein physikalische Betrachtungsweise des Klimas durch und mit ihr die Klimaforschung als eigenständige Fachwissenschaft – dies ist die zweite Phase der Klimasicht. Gesellschaftlich relevant wurde diese Wissenschaft durch die Bereitstellung von Tabellen, Karten und Atlanten von klimatischen Durchschnittswerten und der Art und Häufigkeit von Extremereignissen, wie sie für planerische Zwecke benötigt wurden. In dieser zweiten Phase wurde das Klima als unparteilich verstanden, während in der ersten Phase das Klima als ergiebigere oder ärmere Ressource für die in seinem Einfluss lebenden Menschen verstanden wurde.
Wir erleben heute die Entwicklung der dritten Phase, in der das Klima nicht mehr nur extern Vorgegebenes ist, sondern – in Grenzen – durch den Menschen verändert und „gelenkt“ werden kann. In gewisser Weise ist dies eine Rückbesinnung auf die Themen der ersten Phase und damit auch auf die Möglichkeit eines modernen Klimadeterminismus. Da die Veränderungen räumlich nicht gleichmäßig verteilt sind, verliert das Klima seine Unparteilichkeit wieder. Es gibt geographisch gesehen „Gewinner“ und „Verlierer“. „Klimawandel“ wird zum Politikum, wobei Klimawissen zum argumentativen Hilfsmittel bei der Durchsetzung gesellschaftlicher Sichten und Werte wird.
Die Erforschung der Mechanismen der Klimavariabilität tritt etwas in den Hintergrund gegenüber der Erforschung der Klimawirkungen auf Ökosysteme und soziale Systeme. Das Thema „Klima“ hat den Elfenbeinturm der beschreibenden und dann analysierenden Naturwissenschaft verlassen; der moderne Klimaforscher ist oft nicht mehr ein von der Praxis isolierter Wissenschaftler, sondern ein Medienexperte, der die Öffentlichkeit mit griffigen Bildern bedrohlicher Perspektiven über die zukünftigen Existenzbedingungen von Mensch und Gesellschaft im Atem hält.
Wie haben sich die Klimadarstellungen in der jüngsten Phase weiterentwickelt?
Stehr: Als man sich aufgrund technischer Innovationen bei der empirischen Beobachtung des Klimas in den vergangenen Jahren nicht mehr nur auf die an der Erdoberfläche messbaren Zustände der Atmosphäre beschränken musste, begann die dritte Phase der Klimaforschung. Die Klimatologie wurde endgültig zu einer Fachwissenschaft, die sich fast ausschließlich mit der physikalischen Beschreibung klimatischer Prozesse beschäftigte. Mehr und mehr Physiker wandten sich der Erforschung atmosphärischer und ozeanischer Vorgänge zu. Die bisherige traditionelle Bindung zur Geografie wurde gelockert zugunsten einer neuen Disziplin „Physik der Atmosphäre beziehungsweise des Ozeans“. Im Gefolge dieses konzeptionellen Wechsels traten die Auswirkungen des Klimas auf die Biosphäre und auf den Menschen zunehmend in den Hintergrund. Im Rahmen dieser Vernaturwissenschaftlichung der Klimaforschung sind drei Besonderheiten hervorzuheben:
Was gilt insbesondere für die Klimaforschung unserer Zeit?
Stehr: Nach der durch diese neuen Methoden ermöglichten Vertiefung des Verständnisses der Klimadynamik tritt in den vergangenen Jahren die Klimafolgenforschung und die sogenannte Klimaschutzpolitik ins Rampenlicht des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses. Partiell zumindest kommt es dabei zu einem neuen, modernen Klimadeterminismus.
Es gibt aber ein paar wichtige Unterschiede zwischen den früheren und den heutigen Versionen des Klimadeterminismus: Anfang des 20. Jahrhunderts konnte das schicksalhafte Wirken eines beherrschenden Klimas sowohl zu Ruin als auch zu Wohlstand führen – der Einfluss des Klimas war niemals überall auf der Welt gleich. Heute dagegen ist der Ton häufiger zutiefst pessimistisch und von der Sorge über die verheerenden globalen Folgen eines künftigen Klimawandels geprägt. Außerdem wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass seine voraussichtlichen Auswirkungen die Gattung Mensch als Ganze treffen werden. Man kann sich vor den Folgen des Klimawandels nicht völlig freimachen.
Zwar weisen wir die Thesen der Klimadeterministen zurück, bestehen zugleich aber darauf, dass der Einfluss, den das Klima auf die Gesellschaft hat, erheblich ist und noch umfassender werden wird. So ist es unserer Meinung nach wichtig, sich das Klima nicht als etwas vorzustellen, das wirkt (das heißt, unmittelbar beherrschend oder entscheidend ist), sondern als etwas, das zählt, und zwar auf mehr als eine Weise. Unsere Perspektive „Klima zählt“ versucht, zwei Fehlschlüsse zu vermeiden, zu denen es in der Geschichte des Nachdenkens über den Einfluss des Klimas auf die Gesellschaft immer wieder gekommen ist: einerseits den Fehlschluss einer Perspektive, bei dem das Klima zu einer bloßen Fußnote des menschlichen Treibens herabgestuft und jeglicher Erklärungsmacht beraubt wird; andererseits den Fehlschluss des Klimadeterminismus, bei dem das Klima schließlich alles ist.
Welche Folgen ergeben sich aus der wachsenden Prominenz des Klimas für Wissenschaft und Gesellschaft?
Stehr: Die wachsenden gesellschaftlichen Risiken der Klimaveränderung werfen vorrangig die Frage nach dem zukünftigen politischen Umgang mit unserem Klima auf. Unter Klimaforschern, in der Klimapolitik und in den Medien lassen sich eine wachsende Ungeduld mit den Tugenden der Demokratie sowie ein dringlicher Verweis auf die außergewöhnlichen Umstände unserer ökologischen Situation ausmachen. Dabei wird jedoch nicht mehr nur der tiefe Graben zwischen Erkenntnis und Handeln beklagt, sondern es wird die Demokratie als solche als Schuldige ausgemacht. Die Demokratie – so kann man die skeptischen Beobachtungen bilanzieren – sei ungeeignet, effektiv auf die Herausforderungen zu reagieren, vor denen Politik und Gesellschaft angesichts der Folgen des Klimawandels stehen. Um gegenüber den wahrscheinlichen Folgen des Klimawandels eine global tragfähige Lebensweise zu realisieren, brauchten wir umgehend eine „große Transformation“. Bestandteil, wenn nicht sogar Herzstück dieser großen Transformation, ist ein anderes Politikregime.
Die entscheidende Frage lautet somit: Wie können wir mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen der Klimaveränderung umgehen, ohne unsere Freiheit und damit die Demokratie aufs Spiel zu setzen? Es sind nicht autoritäre Regime, die uns retten. Die Geschichte zeigt, dass es Demokratien waren, welche die Umweltprobleme erkannt und etwas dagegen unternommen haben. In unserem Buch versuchen wir zu zeigen, dass demokratisch verfasste Gesellschaften an ehesten mit den Folgen des Klimawandels umgehen können.
Der Klimaforscher Eduard Brückner hat im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert notiert, das dem üblichen Klimaverständnis ein fester Glaube an die Stabilität des Klimas zugrunde liegt: Inwieweit trifft das auch heute noch zu?
Stehr: In der Tat, der Wiener Geograf und Glaziologe Eduard Brückner hat vor über einem Jahrhundert über den menschengemachten Klimawandel und seine Folgen für die Gesellschaft gearbeitet. Ein herausragendes Merkmal seiner Analyse ist seine vermutlich immer noch zutreffende Beobachtung, dass dem alltäglichen Klimaverständnis ein fester Glaube an die Stabilität unseres Klimas zugrunde liegt. Brückner macht auf die Dominanz einer offenbar tief verwurzelten Überzeugung aufmerksam, nach der das Klima aus einer Reihe von Bedingungen besteht, die sich konsequent aus den Tages- und Jahreszyklen ergeben, welche in allen Teilen der Welt für die Unterschiede der Jahreszeiten sorgen.
Trifft Brückners These auch heute noch zu? Es scheint, dass – trotz der warnenden Hinweise auf die Wandelbarkeit des Klimasystems – das Klima generell immer noch als ein Ensemble von konstanten, stabil bleibenden Bedingungen verstanden wird. Klima erscheint gewöhnlich als eine zuverlässige Ressource, als ein Hintergrund, vor dem das Leben vorausgeplant und wie geplant gelebt werden kann. Diese Überzeugung schließt natürlich die Möglichkeit nicht aus, dass ein gewisses Maß an Störungen unvermeidlich ist: ungewöhnliche dramatische Ereignisse wie Überschwemmungen, Hitzewellen und Hurrikane geschehen nun einmal; aber erwartet wird doch, dass nach der Störung die Verhältnisse früher oder später wieder zum Normalzustand zurückkehren und die gewohnten Routinen wieder greifen. Störung der Normalität ist selber normal.
Das Vertrauen in die Regelmäßigkeit der klimatischen Bedingungen erklärt zumindest partiell warum es in der Öffentlichkeit immer noch zu einem Widerspruch von Einstellungen (Klimawandel ist real) und dem Fortsetzen eingeübter Verhaltensweisen kommt.
Woran täten wir gut?
Stehr: Das Klimaprogramm der deutschen Bundesregierung hebt ab auf die von Deutschland ausgehenden Emissionen von Treibhausgasen, kann aber auf keine wirksamen Hebel verweisen, wie aus den vorgesehenen etwa 1/2 Gigatonnen (Gt) CO2 Emissionsminderung ein wirklich relevanter Anteil der globalen 38 Gt CO2/Jahr werden kann. Daneben muss man aber leider wieder feststellen, dass die Vorsorgeherausforderung, nämlich Mensch, Gesellschaft und Natur vor den unvermeidbaren Klimaänderungen zu beschützen, übersehen wird. Anpassung kommt offenbar nicht vor im dem Klimapaket.
Im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Debatte in Deutschland und in anderen Ländern stehen wie schon vor 20 oder mehr Jahren sinnvolle Maßnahmen zur Minderung der nationalen Emission von Treibhausgasen. Dazu zählt nicht nur die Bepreisung des Ausstoßes von CO2, sondern auch die Aufforstung unseres Baumbestands oder die Förderung von erneuerbaren Energien – beispielsweise die Errichtung von Windrädern, die Elektromobilität, die Isolierung von Immobilien und die Reduktion der Mehrwertsteuer auf Fahrkarten der Bahn etc. Das vorhandene politische Kapital wird ausschließlich in die Vermeidung nationaler Emissionen investiert. Dies sind zweifellos beförderungswürdige Unterfangen – aber mit sehr beschränkter Wirksamkeit, um dem Problem der sich in der Atmosphäre ansammelnden Treibhausgase in deren Wirkung auf das Klima zu begegnen.
Kurz und radikal formuliert: Wir sollten uns daran machen, mit dem unvermeidbaren Klimawandel und seinen Herausforderungen zu leben. Private und öffentliche Mittel werden benötigt, um eine problemangemessene Vorsorgeforschung für alle Lebensbereiche des Menschen zu ermöglichen. Bisher ist dieses Thema nicht wirklich in der öffentlichen Diskussion angekommen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm