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Nele Kortendiek ist seit September 2019 Postdoc am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen. Sie studierte Politikwissenschaft an den Universitäten Bremen und Genf und absolvierte das Masterprogramm International Relations Theory an der London School of Economics and Political Science. Von 2014 bis 2018 war sie Doktorandin an der TU Darmstadt und dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Während ihrer Promotion zum Einfluss internationaler Organisationen auf die Global Governance internationaler Migration hat sie Feldforschung in Griechenland, Brüssel, Genf, Valletta und Warschau durchgeführt. Im Herbst 2016 führte sie ein Forschungsaufenthalt ans Centre on Migration, Policy, and Society (COMPAS) der Universität Oxford und im Frühjahr 2019 arbeitete sie als Gastwissenschaftlerin am WZB Berlin. Gemeinsam mit Lisbeth Zimmermann leitet sie derzeit das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Offene oder geschlossene internationale Organisationen? Reaktionen auf Betroffenenkontestation“, das Politikwandel in internationalen Organisationen untersucht.
Vor wenigen Tagen ist der 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention gefeiert worden. Wirklich ein Grund zum Feiern?
Nele Kortendiek: Das ist in der Tat ein Grund zum Feiern! Die Konvention ist ein Eckpfeiler globaler humanitärer Politik und legt fest, dass Vertriebenen Schutz gewährt werden muss. So dürfen Menschen auf der Flucht nicht einfach an der Grenze abgewiesen oder zurückgeführt werden. Aufgrund des sogenannten non-refoulement-Gebots muss ihr Antrag auf Asyl immer geprüft werden. Das ist eine enorme Errungenschaft.
Dennoch weist die Konvention Schwächen auf. Ganz zentral ist hier das „Asylparadox“ zu nennen: Um einen Antrag auf Asyl stellen zu können, muss erst das Territorium eines Unterzeichnerstaates erreicht werden. Die Konvention selbst legt keine sicheren Fluchtwege fest. Das führt oft zu sehr gefährlichen Fluchterfahrungen, die irreguläre Grenzübertritte mit einschließen. Auch wenn mit der Konvention also völkerrechtlich verankert ist, dass Menschen auf der Flucht ein Recht auf Schutz haben, müssen sie in der Regel zuerst nationale Grenzgesetze brechen, um Zugang zu diesem Schutz erhalten zu können, da sie kein legales Recht auf Einreise haben.
Was war der Anlass, der zur Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention am 28. Juli 1951 geführt hat und was ist die Kernidee des Dokuments?
Kortendiek: Die Konvention ist eine Reaktion auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und das Versagen bestehender Asylregime. In den 1930er-Jahren wurden jüdische Menschen auf der Flucht aus Nazi-Deutschland häufig abgewiesen oder gegen ihren Willen zurückgeführt – auch aus Demokratien wie den Niederlanden, Belgien, der Schweiz oder den USA und obwohl man wusste, was ihnen in Deutschland drohte. Bevor die Konvention verabschiedet wurde, gab es keine internationale Norm, die Menschen auf der Flucht von Migrantinnen und Migranten unterscheidet und ihnen aus humanitären Gründen einen Anspruch auf Zugang zu sicheren Staaten gewährt. Die Kernidee war also, mit der Konvention eine besondere Schutzkategorie zu schaffen.
Zwischen Migration und Flucht verschwimmen die Begriffe in der Öffentlichkeit immer stärker. Welche Menschen gelten laut Genfer Konvention überhaupt als Flüchtlinge? Und welche Fluchtursachen werden darin festgehalten?
Kortendiek: Als Flüchtlinge gelten diejenigen, die aufgrund von „Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verfolgt werden. Die Konvention legt also individuelle Verfolgung als legitimen Grund für Flucht fest und spricht nicht von Krieg, Gewalt oder Konflikten. Da diese aber zu den Hauptursachen für Flucht und Vertreibung zählen, hat sich in der Praxis eine weitere Definition durchgesetzt. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) – die „Hüterin der Konvention“ – etwa erkennt diese Fluchtursachen meist in ihren Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus an. Auch werden sie, ebenso wie Bürgerkriege und massive Menschenrechtsverletzungen, in regionalen Flüchtlingskonventionen – zum Beispiel der Organisation Amerikanischer Staaten oder der Afrikanischen Union – explizit als Gründe genannt. Dennoch stößt auch diese „erweiterte“ Definition an ihre Grenzen, da sie viele schutzbedürftige Menschen nicht mit einschließt. Dies ist ein weiteres Paradox der Konvention: Sie schafft zwar Schutz für eine sehr eng umrissene Gruppen von Menschen, schließt damit aber zwangsläufig andere vom internationalen Schutz aus.
Immer häufiger ist in den Medien auch von Klimaflüchtlingen zu lesen. Sind Wetterveränderungen eine Fluchtursache, die von dem Schutzinstrument abgedeckt ist? Oder gibt es hier Einschränkungen?
Kortendiek: Klimawandel und Naturkatastrophen deckt die Konvention nicht ab. 2018 machten sich Tausende Menschen aus Mittelamerika zu Fuß auf den Weg in den Norden. Der Grund dieser „Migrantenkarawane“ waren vor allem Dürren in Honduras, Guatemala, El Salvador und Nicaragua, die zu Ernteausfällen führten. Diese Menschen flohen also aus absoluter Armut. Dennoch werden sie nach der Konvention nicht als Flüchtlinge anerkannt. Ihr Aufbruch wird formal als „freiwillig“ eingestuft.
Dies zeigt einmal mehr, wie schwierig es ist, Flucht und Migration in der Praxis klar voneinander abzugrenzen. Zwang und Freiwilligkeit bilden in der Realität meist ein Kontinuum, das die Konvention selbst nicht berücksichtigt und auch nur schwer berücksichtigen kann, da legale Kategorien ja mit klaren definitorischen Grenzen arbeiten müssen. Daher ist es aber umso problematischer, wenn die häufig künstlichen Kategorien „Migrant:in“ und „Geflüchtete:r“ im öffentlichen Diskurs gegeneinander ausgespielt werden. Es wird häufig mit dem Eindruck gearbeitet, dass „Arbeitsmigrant:innen“ „echten Flüchtlingen“ den Platz wegnehmen. Dieses meist populistische Narrativ vereinfacht komplexe Migrations- und Fluchtgeschichten und unterschätzt zugleich die Aufnahmekapazitäten westlicher Industriestaaten.
Aktuell nehmen vor allem Staaten Flüchtlinge auf, die in der Nachbarschaft von Krisenregionen liegen. Dazu eine Zahl: Im vergangenen Jahr sind 86 Prozent aller Flüchtlinge vor allem von Entwicklungsländern wie Pakistan, Bangladesch, den Libanon oder Uganda aufgenommen worden. Da läuft doch etwas aus dem Ruder?
Kortendiek: Menschen fliehen meist in angrenzende Staaten, da sie keine Mittel für weite Fluchtreisen haben – und oft auch in der Hoffnung, in ihre Heimatländer zurückkehren zu können. Da die meisten Krisen im globalen Süden stattfinden, nehmen auch die Länder des globalen Südens die meisten Geflüchteten auf. Das Bild, dass Flüchtende „vor den Toren Europas“ auf Einreisemöglichkeiten warten, ist also sachlich falsch und die Lasten, für die weltweit 20 Millionen Geflüchteten zu sorgen, sind global sehr ungleich verteilt. Länder des globalen Nordens sind daher gefragt, mehr Mittel für humanitäre Hilfe bereitzustellen und Umsiedlungsprogramme („resettlement“) auszubauen. Auch der 2018 verabschiedete Global Compact on Refugees zielt darauf ab, die Verantwortung für die Versorgung von Geflüchteten global gerechter zu verteilen – ob dies gelingt, wird sich in den nächsten Jahren mit der Umsetzung des Paktes zeigen.
Stößt die Genfer Flüchtlingskonvention und darauf aufbauende Menschenrechtsdokumente an ihre Grenzen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, unter teils unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern ausharren oder schlichtweg in ihre Länder zurückgeschickt werden?
Kortendiek: Kurz gesagt: Ja. Push- oder Pullbacks verstoßen sogar ganz klar gegen die Konvention und das non-refoulement-Prinzip. Hier zeigen sich die Schwächen des internationalen Asylregimes, das über keine direkten Durchsetzungsmechanismen verfügt. Diese Verstöße können zwar angeprangert, aber nicht direkt geahndet werden. Aufnahmebedingungen und Fluchtrouten sind hingegen nicht in der Konvention geregelt. Das sind eindeutige Lücken, die völkerrechtlich adressiert werden sollten, wozu aktuell aber der politische Wille fehlt. Auch in Bezug auf die bereits angesprochenen neuen Fluchtursachen und komplexen Fluchterfahrungen würde der Konvention eine Modernisierung gut zu Gesicht stehen. Viele befürchten jedoch, mit Neuverhandlungen Pandoras Büchse zu öffnen und die hart errungenen Schutzmechanismen, die die Konvention bereitstellt, aufzuweichen.
Die EU-Außengrenze ist nach dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal für Schutzsuchende nahezu unüberwindbar geworden – und das, obwohl die Europäische Union sich dazu bekennt, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Was muss passieren, um den europäischen Geist der Genfer Flüchtlingskonvention wiederaufleben zu lassen?
Kortendiek: Es braucht ein klares Bekenntnis zu den Grundwerten der Europäischen Union, dass jedes Menschenleben schützenswert ist und die Würde aller Menschen unantastbar. Aktuell können wir beobachten, dass nach immer neuen Schlupflöchern gesucht wird, um die Außengrenzen der EU nach außen zu verlagern, ohne dabei die Verpflichtungen der Konvention direkt zu brechen. Übereinkünfte wie die mit der Türkei ermöglichen es, Menschen in vermeintlich sichere Drittstaaten zu überführen und sich so der Verantwortung zu entziehen. Die europäische Verantwortung übernehmen im Moment vor allem zivilgesellschaftliche Akteure wie private Seenotretter. Es braucht auch aufseiten offizieller Entscheidungsträger den politischen Willen und Mut, eine Asyl- und Migrationspolitik zu gestalten, die von Solidarität statt Angst geprägt ist.
Ist hier auch die deutsche Bundesregierung gefragt?
Kortendiek: Unbedingt. Deutschland hat zwar in der sogenannten Flüchtlingskrise die meisten Menschen aufgenommen, sich politisch dann aber sehr zurückgenommen. Wir brauchen konkrete Vorschläge, wie zum Beispiel die Aufnahme von Geflüchteten innerhalb der EU gerechter verteilt werden kann, anstatt dies nur den Staaten an der Außengrenze wie Italien und Griechenland zu überlassen oder immer nur kurzfristig zu reagieren. Es braucht eine langfristige politische Planung, wie die Folgen von Flucht und Vertreibung aufgefangen werden können. Wenn uns das Jubiläum der Flüchtlingskonvention eines zeigt, dann, dass Flucht und Vertreibung keine Ausnahmeerscheinungen oder kurzfristige Phänomene sind. Schnelle und faire Asylsysteme sind wiederum keine „Pull-Faktoren“ für Zwangsmigration. Deutschland sollte also mutiger sein und offen für eine gerechte europäische Asylpolitik einstehen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm