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Klaus Mühlhahn hat am 1. Juni sein Amt als Präsident der Zeppelin Universität angetreten. Zuvor war er seit 2018 Vizepräsident an der FU Berlin für die Bereiche Forschung, Nachwuchsförderung sowie Wissenstransfer und Ausgründungen. Mühlhahn gilt als einer der renommiertesten Sinologen in Deutschland. Nach dem Studium der Sinologie und der Promotion an der FU Berlin führte ihn sein wissenschaftlicher Weg zunächst von 2002 bis 2004 als Visiting Fellow an das Center for Chinese Studies der University of California, Berkeley. Weitere Stationen waren von 2004 bis 2007 als Professor für gegenwärtige chinesische und asiatische Geschichte das Institut für Geschichte der University of Turku, Finnland, und von 2007 bis 2010 als Professor für Geschichte und außerordentlicher Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen die Indiana University Bloomington, USA, bevor Mühlhahn im selben Jahr als Professor für chinesische Geschichte und Kultur an die FU Berlin zurückkehrte. An der Zeppelin Universität übernimmt Mühlhahn den Lehrstuhl für Moderne China-Studien.
Die Handelbeziehungen zwischen dem größten und dem drittgrößten Wirtschaftsraum der Welt, China und der Europäischen Union, sind in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich gewachsen. Chinesische Direktinvestitionen in die EU haben exponentiell zugenommen, vor allem in den strategischen Bereichen Infrastruktur und Hochtechnologie. Laut Europäischer Kommission beliefen sich die kumulierten chinesischen Direktinvestitionen in die EU seit 2000 auf fast 120 Milliarden Euro. Die EU-Investitionen in China waren im selben Zeitraum jedoch mit mehr als 140 Milliarden Euro noch höher.
Etwa die Hälfte der EU-Direktinvestitionen nach China entfällt auf das verarbeitende Gewerbe, wobei die deutsche Automobilindustrie der Hauptinvestor ist. Die wirtschaftliche Kooperation zwischen China und der EU ist substanziell und sichert Arbeitsplätze und Wachstum auf beiden Seiten.
Man könnte denken, der Abschluss eines umfassenden Investitionsabkommens mit dem Ziel, den Handel weiter auszubauen und auf eine sichere Basis zu stellen, würde auf allgemeine Zustimmung treffen – aber weit gefehlt. Noch vor der letzten Verhandlungsrunde Ende Dezember 2020 kritisierten es europäische Thinktanks, Medien und Opposition, gerade auch in Deutschland, heftig. Das Abkommen sei ein strategischer Sieg für den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, der den Westen spalten wolle, und belohne auch noch dessen aggressives, internationales Verhalten. Dazu noch die massiven Menschenrechtsverletzungen an verfolgten muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang, an Demokraten in Hongkong und an chinesischen Dissidenten. Schließlich konterkariere das Abkommen die zu erwartenden Bemühungen der neuen US-Regierung von Joe Biden, eine gemeinsame transatlantische Strategie zu entwickeln und Chinas wachsender Dominanz entgegenzuwirken.
Tatsächlich wird auch auf chinesischer Seite nicht nur applaudiert. Trotz Zensur wird in den sozialen Medien das Investitionsabkommen mit dem ungleichen Vertrag verglichen, der 1840 den Ersten Opiumkrieg Großbritanniens beendete und in dem China gezwungen wurde, seinen Markt für ausländische Handelshäuser zu öffnen. Nationalistische Kommentatoren in China sehen nun gar einen schmachvollen Ausverkauf chinesischer Interessen. Seit den Demütigungen des 19. Jahrhunderts habe es kein solches Abkommen gegeben, in dem einseitig alle Zugeständnisse von der chinesischen Seite kommen, während die EU praktisch nichts gibt. Die chinesische Regierung setze ein Zeichen nationaler Schwäche.
Ein Blick in den Text aber zeigt: Wenig von der großen, in den sozialen Medien aufgepeitschten Empörung scheint gerechtfertigt.
Die Verhandlungen waren keineswegs einfach. Im Gegenteil, mehrfach und bis zuletzt war ein Erfolg unsicher. Die EU begann die Verhandlungen mit China vor sieben Jahren. Es fanden insgesamt 35 Verhandlungsrunden statt. Angesichts der Rolle Chinas für die deutsche Wirtschaft verwundert es nicht, dass die Bundesregierung ein besonderer Treiber war. Noch vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft sollte das Abkommen als großer Erfolg der Deutschen geschlossen werden. Die letzte Runde fand gerade noch rechtzeitig am 30. Dezember 2020 statt.
Ziel der mehrjährigen Verhandlungen war es, die lange Liste von Problemen und Beschwerden europäischer Firmen zu adressieren. Das betraf insbesondere die seit langem bestehende Unzufriedenheit bezüglich erzwungener Transfers wertvollen technologischen Know-hows an chinesische Joint-Venture-Partner sowie Chinas Bevorzugung seiner staatlichen Unternehmen bei Auftragsvergaben. Die Staatunternehmen sind für rund 30 Prozent des BIP in China verantwortlich. Auch das chinesische System staatlicher Subventionen und Förderungen, bekannt unter dem Stichwort „Made in China 2025“, verzerre, so die EU-Firmen, den Wettbewerb zu ihren Ungunsten.
Ursprünglich sollte das Abkommen den Marktzugang und den Investitionsschutz abdecken. Letztendlich betrifft der vereinbarte Vertragstext aber im Wesentlichen den Marktzugang. Der Investitionsschutz wurde für das Aushandeln eines künftigen Abkommens ausgespart.
China verpflichtet sich, die Investitionen aus der EU zu liberalisieren und Marktzugangsbeschränkungen für EU-Firmen zu verhindern. Zudem ist die Beseitigung quantitativer Beschränkungen, von Eigenkapitalobergrenzen oder Joint-Venture-Anforderungen in mehreren Sektoren vorgesehen. So soll China die Joint-Venture-Anforderungen im Automobilsektor aufheben und Marktzugang für neue Elektrofahrzeuge gewähren.
Im Gesundheitssektor wird zugesichert, die Joint-Venture-Anforderungen für private Krankenhäuser (ein besonderes Interesse Frankreichs) zu streichen. Marktzugang soll es etwa auch bei Forschung und Entwicklung, Telekommunikations-, Cloud- und Computerdiensten, internationalem See- und Luftverkehr geben. Bei Finanzdienstleistungen entsprechen die Marktöffnungsbestimmungen denen des Handelsabkommens „Phase eins“ zwischen den USA und China.
Auch sollen gleiche Wettbewerbsbedingungen für EU-Firmen in China hergestellt werden. Um zu gewährleisten, dass chinesische Staatsunternehmen aufgrund wirtschaftlicher und nicht politischer Kriterien handeln, sind Unternehmen nun verpflichtet, bestimmte Informationen und Entscheidungsgrundlagen preiszugeben. Das gibt Transparenz über Subventionen im Dienstleistungssektor. Technologietransfer an einen Joint-Venture-Partner und Eingriffe in die Vertragsfreiheit bei der Technologielizenzierung sind nun untersagt. Vertrauliche Geschäftsinformationen, die Verwaltungsbehörden sammeln (etwa beim Zertifizieren von Waren oder Dienstleistungen), werden künftig vor unbefugter Offenlegung geschützt. China wird darüber hinaus EU-Investoren den gleichen Zugang zu Normungsgremien gewähren.
All das sind wichtige Fortschritte für europäische Firmen, auch wenn damit keine volle Reziprozität hergestellt ist. Die chinesische Behandlung von EU-Direktinvestitionen liegt immer noch hinter der Offenheit der EU für chinesische Investitionen. Auch fehlt ein Schutzmechanismus für einzelne Investoren, um Streitigkeiten beizulegen. Lediglich ein Mechanismus für Streits zwischen den Regierungen und einer zur Vermittlung auf politischer Ebene in einem Rechtsstreit sind vorgesehen.
Mindestens genauso wichtig in dem Vertrag sind die Verweise auf Umwelt- und Arbeitsstandards und das Umsetzen des Pariser Klimaabkommens. Es soll nicht nur um Gewinne und Profite gehen, sondern laut Bundesregierung „eine auf Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung gestützte, wertebasierte Investitionsbeziehung“ geschaffen werden.
China verpflichtet sich dazu, darauf hinzuarbeiten, die ausstehenden, grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zur Zwangsarbeit zu ratifizieren und spezifische arbeitsrechtliche Verpflichtungen bereits ratifizierter Übereinkommen einzuhalten. China gibt an, keine Umweltschutzstandards mehr umgehen zu wollen, seine internationalen Zusagen einzuhalten und verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln zu fördern. Das Pariser Klimaschutzabkommen will es wirksam umsetzen.
Nach Wunschdenken klingt das vielen. Kritiker haben sofort bezweifelt, dass China diese Zusagen einhalten wird. Das Abkommen widerspricht tatsächlich der langjährigen chinesischen Wirtschaftspolitik und politischen Praxis. Man sollte auch nicht annehmen, dass damit alle Probleme beseitigt werden können. Peking wird nicht einfach sämtliche Unterstützung für seine Staatsfirmen einstellen. Und niemand kann ausschließen, dass europäische Technologie weiterhin illegal abgeschöpft wird.
Trotzdem wird China sich so weit wie möglich an den Wortlaut halten, allein schon, um eine stärkere transatlantische Zusammenarbeit der EU zu verhindern und die eigene Abhängigkeit von den USA zu verringern. Dass China derartige Selbstverpflichtungen und Beschränkungen vertraglich akzeptiert hat, die weit in die eigene Souveränität eingreifen, ist präzedenzlos.
Es zeigt, dass Peking bewusst ist, wie sehr die internationale Position gelitten hat und mit wie viel Kritik und Ablehnung die Welt mittlerweile auf China blickt. Das Land ist in der Defensive. Man wird es sich nicht leisten können, gemachte Zusagen einfach zu ignorieren. Zugleich ist das Abkommen ein großer Erfolg für die EU. Geschlossen kann sie erheblichen Einfluss geltend machen und hat fraglos mehr erreicht als Trumps Kraftmeierei.
Das gilt auch für ethische Standards. 15 Länder im asiatisch- pazifischen Raum, darunter Demokratien wie Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan, haben im November 2020 eine regionale umfassende Wirtschaftspartnerschaft mit Peking unterzeichnet, ohne sich zu irgendwelchen Arbeits- oder Umweltschutznormen zu verpflichten. Das löste nicht dieselbe Empörung aus wie das EU-China-Abkommen, das beim Einfordern ethischer Standards viel weiter geht.
Nichts hindert europäische Länder oder EU-Institutionen zudem daran, auch künftig weiterhin wachsam zu sein durch Investitionsüberprüfung oder zum Schutz kritischer Infrastruktur. Chinesische Menschenrechtsverletzungen sollten weiter kritisiert und auf den repressiven, autoritären Charakter des kommunistischen Regimes schonungslos aufmerksam gemacht werden.
Es ist ein Irrglaube, die EU könne das Verhalten der chinesischen Regierung – das nach westlichen Maßstäben durchaus problematisch ist – mit einem einzelnen Investitionsvertrag verändern. Naiv ist die Erwartung, die Integration der Volksrepublik ins globale Handelssystem würde langfristig einen Übergang zur liberalen Demokratie ermöglichen. China strebt diese Staatsform nicht an, das hat es im vergangenen Jahrzehnt deutlich gezeigt.
Mit Schwarz-Weiß-Malerei aber sollte man nicht ins andere Extrem verfallen und China derart dämonisieren, was in immer vehementere, am Ende gar kriegerische Konflikte münden könnte. Die Wirtschaften der EU und der USA präventiv von China zu entkoppeln, es zu isolieren, führt letztlich in die Sackgasse unkontrollierbarer feindseliger Auseinandersetzungen. Chinas atemberaubenden Aufstieg eindimensional als „gelbe Gefahr“ darzustellen, wird dieser Entwicklung nicht gerecht.
Die Realität wirtschaftlicher Interdependenz ist kompliziert und erfordert sorgfältiges Management. Global verflochtene Märkte und Lieferketten schaffen ein gemeinsames Interesse an Stabilität und einem funktionierenden internationalen System. Es braucht mehr Bescheidenheit darin, China verändern zu wollen, mehr Ehrgeiz, um tragfähige Allianzen mit gleichgesinnten Staaten aufzubauen und globale regelbasierte Institutionen zu stärken. China ist ein systemischer Rivale, aber auch ein wichtiger Wirtschaftspartner. Das Abkommen ist der richtige Weg der EU beim Versuch, beiden Erwägungen gerecht zu werden.
Dieser Artikel ist unter dem Titel „Besseres Klima mit China?“ im Cicero 02/2021 erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Klaus Mühlhahn
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm