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Felix Krell promoviert aktuell am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- & Kommunikationswissenschaft an der Zeppelin Universität zu Social Virtual Reality. Gegenstand seiner Forschung sind die Lebenswelten und Alltagspraktiken von Menschen, die neuartige soziale Plattformen wie etwa VRChat mit VR-Headsets betreten. In diesem Zusammenhang forscht er qualitativ und digital-ethnografisch. Er verwaltet außerdem das Medienlabor der Zeppelin Universität und hat dort ein VR-Space für die Universität eingerichtet. Hier finden in Zukunft VR-Seminare und VR-Forschungsprojekte statt.
Im Rahmen seiner ethnografischen Untersuchung der Social VR Plattform VRChat berichtet Felix Krell von seinen ersten Erfahrungen auf der Gamescom 2018. Damals sei das Thema Social Virtual Reality noch ein Nischenthema gewesen, doch bereits eines, das Bereiche wie Kommunikation, Gesellschaft und Menschlichkeit tangiert hat. Rund 6.000 tägliche Userinnen und User nutzten damals die beiden Plattformen Rec Room und VRChat. Im Oktober 2021 hat dann Mark Zuckerberg den Pivot des Social-Media-Giganten Facebook in Richtung Social VR angekündigt. Hiermit erweitert sich das Feld auf eine tägliche Nutzerschaft von fast drei Milliarden. Davon verspricht sich der Facebook-Gründer nicht nur erhebliche finanzielle Einnahmen, sondern auch eine Monopolstellung auf medienvermittelte Realität. Auch die Manpower wurde verstärkt: Zehntausende arbeiten jetzt daran, das Metaverse zu realisieren.
Für Felix Krell beginnt die Hardware-Geschichte von Social VR im Jahr 1832, als der Experimentalphysiker Sir Charles Wheatstone das Spiegelstereoskop erfand. „Stereo und skopeo bedeuten im Griechischen so viel wie räumlich betrachten oder auch greifbar betrachten“, erklärt Krell. Zu Beginn beobachtete Wheatstone lediglich, dass das linke Auge eines Menschen die Welt aus einem anderen Blickwinkel wahrnimmt als das rechte. Demnach betrachtet man einen Gegenstand aus zwei Perspektiven, die im visuellen Kortex zusammengefügt werden, sodass daraus ein räumliches Bild entsteht. „Wheatstone hat daraufhin erkannt, dass das getrennte Ansprechen von angewinkelten Bildern zu räumlicher Sicht beziehungsweise zu deren Illusion führt – und er hat dies mit seinem Spiegelstereoskop verdeutlicht“, erwähnt Krell. Auf den Ansätzen des Experimentalphysikers basieren heutzutage die VR-Head Mounted Displays (HMD), die aus zwei Bildschirmen bestehen, die direkt vor dem linken und dem rechten Auge jeweils verschiedene Bilder anzeigen, sodass ein dreidimensionaler Eindruck erzeugt wird.
Bei der Softwaregeschichte von Social VR bedient sich Krell zunächst bei der Taxonomie von Johnny Hartz Søraker, um begriffliche Klarheit zu schaffen. Wichtig sei bei „virtuellen Umgebungen“ ein Orientierungspunkt, der eine essenzielle Rolle beim Zurechtfinden in einer virtuellen Welt spielt. Dies kann durch Avatare oder durch Erste-Perspektive-Einstellung geschehen. „Virtuelle Welten zeichnen sich durch Vernetzung und Persistenz aus, was bedeutet, dass die virtuelle Welt auch weiterhin besteht, wenn man sich selbst ausloggt“, erläutert Krell. Virtual Reality und Social VR unterscheiden sich dahingehend von virtuellen Welten, dass sie mit VR-HMDs betreten werden anstatt sich auf Bildschirmen abzuspielen.
Unter den frühen grafischen virtuellen Welten gelte „Active Worlds“ von 1995 als „Urvater heutiger Social VR Plattformen“. Es stellte als erste virtuelle Realität ein Terrain in der Größe von Kalifornien zur Verfügung, das man besitzen und programmierend gestalten konnte – ebenso wie den eigenen Avatar. „Active Worlds war in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus“, erklärt Krell. Weiter ging es mit dem Videospiel „Onlive! Traveler“ von 1996, das Facial-, Audio- und Lipsynching benutzt hat und bereits eine starke Ähnlichkeit mit der heutigen Virtual Reality hat. „Ähnlich wie bei der Hardware wurden auch bei der Software bereits früh die Grundsteine gelegt, die man aus heutigen frühen Metaverses kennt“, bemerkt Krell.
In der Auflistung wegweisender VR-Videospiele darf auf keinen Fall „Second Life“ von 2003 fehlen, eine weitere bildschirmbasierte Welt, die damals in aller Munde war. Wie auch in Active Worlds konnte in Second Life fast alles gebaut und gestaltet werden, was die eigene Programmierfähigkeit zuließ. „Ein Charakteristikum von virtuellen Welten ist es, dass sie hauptsächlich von Nutzerinnen und Nutzern gestaltet werden. Second Life hatte sogar eine eigene Ökonomie und Währung, die in echte Dollar umgetauscht werden konnte, womit man sich einen eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte“, erläutert Krell.
„Social VR stellt eine Kombination aus geteilten, getrackten und stereookularen virtuellen Realitäten dar – im Prinzip ein Second Life, das man mit VR-Headsets betreten kann. In so eine Richtung geht auch die Vorstellung von einem Metaverse“, erzählt Krell. Mark Zuckerberg sprach auf seiner Facebook Connect Keynote „Interoperabilität“ an: Dass Social VR eine Plattform sein soll, die mit dem Leben und Alltag kompatibel sei, die man als Avatar betreten und in der man theoretisch leben kann. Auf Konzerte zu gehen, Sport zu machen, zu arbeiten und vieles mehr – natürlich auf einer Plattform, die der Definitionsmacht von Facebook unterliegt. „Die Umbenennung des Facebook-Konzerns in Meta ist natürlich eine Anspielung auf das Metaverse, ein Begriff, der aus Neal Stephensons Cyberpunk-Roman ,Snow Crash‘ stammt“, bemerkt Krell. Und weiter: „Es mutet dystopisch an, dass Facebook Cyberpunk-Romane als Vorbild für die neue Social VR Plattform hernimmt – und auch die Nutzerinnen und Nutzer von bisherigen VR-Plattformen sind von der Top-Down-Entscheidung nicht gerade begeistert.“
Kleinere „Metaverses“ oder Bottom-Up Social VR Plattformen existieren bereits seit Jahren und befinden sich (noch) in Nutzerhand. In VRChat erstellen Nutzerinnen und Nutzer 99 Prozent der Inhalte selbst, etwa mit 3D-Modeling-Tools; einige Nutzerinnen und Nutzer leben auch ihre Vorstellung vom Metaverse in diesem unmoderierten Umfeld aus. So könnte man Social VR als „globale Stadt“ (vgl. McLuhans „Global Village“) – und delokalisierte Umgebung – sehen, in der sich Menschen treffen, die sich nah fühlen, aber weit entfernt voneinander leben. „In diesen Umgebungen entstehen durch die Communities ,Safe Spaces‘, in denen mit virtuellen Körpern experimentiert wird und keine Verurteilungen gegen Gender- oder Identitätsentwürfe zu befürchten sind. Das schafft eine Atmosphäre, in der stigmatisierte Gruppen wie etwa die Trans-Community in Social VR überdurchschnittlich stark vertreten sind“, berichtet Krell.
Darüber hinaus gibt es in Social VR „körperliche“ Implikationen in Form von normalen Konversationen bis hin zu Cybersex. Krell erklärt: „Die Identifikation im VRChat mit dem eigenen Avatar existiert nicht einfach, sondern sie wird gemacht. Die Körperpraxis in der virtuellen Welt dreht sich deswegen auch hauptsächlich darum, Synchronität mit den eigenen virtuellen Verkörperungen zu erlangen.“ Vor Spiegeln wird beispielsweise der Avatar-Zustand stets reaffimiert und entweder als etwas Zugehöriges zum Selbst oder sogar als das Selbst verstanden.
Abschließend gibt Felix Krell seinen Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg: „Facebook hat das Metaverse weder erfunden noch als Erster entwickelt. Und doch kommen mit dem Einstieg dies Internetgiganten eine enorme Menge an Geld und neue Nutzerinnen und Nutzer ins Spiel. Die Monopolstellung, welche Facebook sich gerade auf dem Markt erkämpft, hat viele Implikationen, was die Kontrolle über die Realitätswahrnehmung und das eigene Körpergefühl der Userinnen und User anbelangt. Bisher wissen nur Power Userinnen und User bereits existierender Social VR Plattformen um die Invasivität, die ein Aushandeln des Avatar-Körper-Verhältnisses mit sich bringt. Facebooks Monopolstellung kann und wird sich sowohl auf unsere geistig-biografischen als auch körperlichen Selbstentwürfe und sogar auf unsere motorischen Funktionen auswirken. Gerade deshalb sind eine hohe Medienkompetenz und VR-Literacy der Nutzerinnen und Nutzer essenziell. Ein Skillset, dass Facebook Userinnen und User meist nicht besitzen und somit den Einflüssen neuer immersiver Medientechnologie unvorbereitet entgegenstehen. Besonders deshalb liegt es im Interesse aller, die Chancen und Gefahren neuer Schübe des Medienwandels frühzeitig wissenschaftlich auszuloten.“
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Lea Riexinger / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm