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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Herr Söffner, Sie haben kürzlich in Paris einen Vortrag über die digitale Mimesis gehalten. Er beginnt mit dem Satz: „In diesem Vortrag möchte ich mich dem Phänomen der digitalen Mimesis auf möglichst einfache Weise nähern.“ Damit habe ich schon ein kleines Problem: Was ist denn bitte „Mimesis“? Schon der Begriff klingt nicht gerade einfach…
Prof. Dr. Jan Söffner: Ist es auch nicht – und kann es auch gar nicht sein. Über das mimetische Vermögen ist sehr viel geschrieben worden, und zwar sicher nicht, weil es so einfach damit wäre. Zu meinem Glück habe ich aber auch nur gesagt „möglichst einfach“ – und das möchte ich auch dieses Mal probieren.
Mimesis ist ein griechisches Wort, das meistens verengend mit Nachahmung oder Imitation übersetzt wird, aber auch Darstellung, Angleichung oder Anverwandlung heißen kann. Mit Walter Benjamin sehe ich Mimesis einerseits als Möglichkeit, uns auf Distanz zu den Dingen zu bringen, indem wir sie darstellen – und Darstellungen sind nicht das Dargestellte, woraus sich ein Abstand und eine Möglichkeit der Reflexion ergibt. Andererseits, und darauf legte Benjamin seinen Fokus, ermöglicht uns mimetische Anverwandlung auch Distanzüberwindung. Wenn wir uns der Umgebung anverwandeln, können wir mit ihr in dynamische Zusammenhänge treten; Benjamin führt das Beispiel eines Kindes auf Schmetterlingsjagd an, das sich dem gejagten Tier so sehr angleicht, dass es riskiert, sein Menschsein zu verlieren.
In der Tat beherrschen auch Tiere Formen der Mimesis, die allerdings im Unterschied zur menschlichen Mimesis keine Darstellungsfunktion hat und die man Mimikry nennt. Denken wir etwa an die Mimikry einer Wespenschwebfliege, die, indem sie sich als Wespe verkleidet, in den tödlichen Tanz der Jagd unter Tieren eingreift: die Folge komplementärer Bewegungen, die die Evolution aufeinander abgestimmt hat. Die Wespenschwebfliege spielt mit dem Wahrnehmungssystem der Jäger, die die harmlose Fliege aufgrund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit mit einer Wespe in Ruhe lassen.
Dass Menschen diese nachgeahmte Form auch als solche begreifen können, liegt nun wiederum an der Distanzfunktion. Wir gehören einer besonders mimetischen Spezies an und sind mit Abbildern vertraut – anders als Tiere haben wir die Möglichkeit zur Darstellungswahrnehmung, was Vladimir Nabokov auf den Gedanken gebracht hat, dass die ganze mimetische Pracht der Natur nur für unsere Augen geschaffen ist, denn nur wir sehen ihre Ästhetik.
Wir können aber nicht nur die Täuschung erkennen, uns darüber amüsieren oder sie genießen: Wir können uns auch absichtlich selbst verkleiden und somit unter anderem ebenfalls mimetisch in den Tanz der Jagd eingreifen, indem wir etwa Vogellaute nachmachen – das ist dann aber geplant und bewusst. Und was an dem mimetischen Vermögen der Menschen noch unendlich viel wichtiger ist: Wir können uns auch aneinander angleichen, was für die Bildung von spezifischen Gruppen und Gemeinschaften nützlich ist, aber auch zur Abgrenzung von anderen Gruppen führt.
Es gibt unter Menschen viele Formen der Nachahmung, ohne die es keine Mode und keine Darstellungen oder Abbildungen gäbe; aber es gibt auch ebenso viele Formen der Angleichung, die uns in spezifische Dynamiken hereinführen wie Benjamins Schmetterlingsjagd oder musikalische Formen der Mimesis im Mitsingen, Tanzen oder auch nur der Einstimmung. Die vielen verschiedenen Kombinationen von Nachahmung und Angleichung ermöglichen auch Formen der Einfühlung, wie Michael Taussig scharf und Giambattista Vico noch viel schärfer gesehen haben, die so weit geht, dass wir uns unbelebten Dinge anverwandeln können – und diese uns. Sogenannte animistische Religionen gehen in diese Richtung noch weiter, verwandeln sich auch nachahmend weite Teile der Natur an und ahmen diese dann umgekehrt wieder nach. Und so weit ist unser Alltag davon nicht entfernt. Wenn ich etwa meinen Computer beschimpfe, als könne er etwas dafür, wenn er abstürzt, habe ich ihn meiner Befindlichkeit als Mensch anverwandelt.
Das Wort leitet sich vom griechischen „Schauspieler“ ab. Auch daran, sagen Sie, ließen sich die zwei Seiten erklären. Warum?
Söffner. Eigentlich sind es nicht nur zwei Seiten, sondern vielmehr zwei Achsen, die als solche in je zwei Richtungen führen. Mimesis ist nicht einfach ein Verfahren, sondern ein ganzes Spektrum von Verfahren. Und das versteht man in der Tat besser, wenn man auch die zwei verschiedenen Begriffe, die die Griechen für Schauspieler hatten, berücksichtigt: Zum einen ist da der mimos, von dem sich das Wort Mimesis herleitet und der ein Charakterdarsteller oder Charakternachahmer – vielleicht kann man auch sagen: Impersonator war; zum anderen ist da der Tragödienschauspieler, der hypokrites, was so viel wie Antworter heißt, denn die Tragödie wurde mit einem Chor aufgeführt und die Schauspieler antworteten dem Chor in einem ungleichen Dialog. Hier hat man das Schauspiel als etwas Komplementäres, ein Spiel von Part und Gegenpart – und zugleich als etwas Chorisch-Musikalisches, was auf eine größere Ritualität und Anverwandlung, das Eintreten in einen symphonischen dynamischen Zusammenhang schließen lässt.
Die Mimesis der mimoi hat eine distanzierende und zugleich distanzüberwindende Seite: Aufgrund der Als-ob-Präsenz und der suspendierten Handlungskonsequenzen erlaubt sie eine räumlich nähere, aber zugleich ästhetisch desinvolvierte und dadurch emotional distanzierte Beobachtung. Die musikalisch konnotierte Mimesis in der Tragödie legt den Fokus stattdessen auf die gemeinsame und komplementäre Dynamik. Ein hypokrites stellt nicht nur dar, sondern beschwört auch (der Abstammung der Tragödie aus einem kultischen Ritual gemäß) Gegenwart von dynamischen und erlebten Formen herauf – dies wiederum geschieht ohne Als-ob: Als Zuschauer sieht man zwar eine dargestellte Handlung und dargestellte Personen, die nur gespielt sind: Auf dieser Ebene ist alles nur zum Schein da, es ist das Reich des Als-ob. Andererseits tut man nicht so, als würde man die Handlung (sei es emotional, sei es intellektuell) nach- und mitvollziehen, man tut es oder tut es nicht. Die Dynamik wird also nicht dargestellt, sondern vielmehr real erzeugt. Insofern ist es auch kein Zufall, dass das Schauspiel auch eine nicht nur – die besagte – historische Nähe zum Ritual hat (und das gilt nicht nur für Griechenland). Auch in Ritualen können Dinge dargestellt werden, andererseits sind Rituale nicht bloße Darstellungen, sondern versuchen auch Abwesendes heraufzubeschwören und ihm eine authentisch empfundene Gegenwart zu verleihen.
Der Aspekt des bloßen „Als-ob“ hat nun Platons Aufmerksamkeit erregt – der sich den Begriff kurzerhand für die Philosophie schnappte. Doch ein Fan von der Mimesis war er nicht, oder?
Söffner: Das stimmt: Platon wollte die Dichter aus seinem idealen Staat verbannen und mochte besonders das Schauspiel nicht. Er mochte nicht einmal in Texten die direkte Rede in Epen, die Vortragende dazu anleitete, so zu sprechen, als wären sie die Figur, von der sie erzählen. Man sollte aber über dieses Verdikt nicht vergessen, wie es geäußert ist, nämlich in direkter Rede – und dass Platons Dialoge allesamt in direkter Rede geschrieben sind. Noch sollte man nicht vergessen, dass er als Dichter angefangen und auch als Philosoph noch teilweise wie ein Dichter geschrieben hat – wer das nicht glaubt, hat das Symposion nicht gelesen.
Wenn man nun aber nicht denkt, dass Platon sich selbst dekonstruieren wollte (und ich zumindest denke das nicht), dann muss man fragen, was er an der Mimesis nicht mochte und was stattdessen schon. Sein Fokus lag auf der Täuschung – das heißt dem Umstand, dass ein bloß nachgeahmtes Ding eben nicht die Sache selbst ist, sondern nur so scheint. Diese Täuschung meinte er in Dramen und Epen zu erkennen und führte entsprechend in einem Dialog den Sänger – genauer: den Rhapsoden – Ion vor, der anfangs glaubt, er könne das, was die von ihm verkörperten Figuren können, und der dann von Sokrates aufs philosophische Glatteis geführt wird. Wie gesagt, geschieht aber auch das in einem dramatischen Dialog, was so viel bedeutet, dass das Denken für Platon nicht derselben Darstellungsordnung unterliegt – sonst wäre das ein Selbstwiderspruch. Der Punkt scheint mir zu sein, dass wer Gedanken nachvollzieht wirklich denkt und sie auch in ihrem wirklichen Gehalt vergegenwärtigt und also nicht nur scheinbar. Und wo solche Vergegenwärtigung im Spiel ist, hat Platon plötzlich mit der Mimesis keine Probleme mehr; in seinen Nomoi propagiert er sogar mimetische Chöre aufgrund ihrer Möglichkeit zur gemeinsamen Angleichung an ein musikalisches und gedankliches Ideal – das heißt es geht ihm um das Heraufbeschwören der Anwesenheit dieses Ideals.
Offenbar – und das erkennt man an solchen Gedanken – hatte er aber noch keinen wirklichen Begriff der Darstellung: Was nicht selbst war, wonach es aussah, konnte nur ein Trugbild sein. Die darstellende Seite der Mimesis und das Potenzial der Distanz, die sie ermöglicht, lotete stattdessen Aristoteles in seiner Poetik aus. Er erkannte, dass man das in der Tragödie Dargestellte genauer erkennen, durchspielen und überdenken kann. Man kann aufgrund der Distanz sogar solche Dinge genießen, deren Gegenwart man ohne das distanzierende Als-ob meiden und nicht aushalten würde. Sie sehen: Das Problem der Wespenschwebfliege verfolgt uns – auch wenn es auf einer anderen Ebene erfolgt, haben wir noch immer das Umschlagen von Täuschung in Darstellungswahrnehmung.
Zum einfachen Erklären, habe ich im Studium gelernt, gehört ein „Zwerg“ – ein „Zwischenergebnis“. In drei einfachen Sätzen: Was ist unser Zwischenergebnis nach dieser umfangreichen Herleitung?
Söffner: Ganz einfach: Menschen sind eine mimetische Spezies. Mimesis ist aber nicht nur die Möglichkeit, etwas oder jemand anderes zu kopieren, sondern auch sich in einem gemeinsamen Zusammenhang einzufinden. Zudem erlaubt Mimesis nicht nur eine Ästhetik der Darstellung und beobachtende Distanznahme, sondern auch eine solche der Einfühlung.
Diese Erkenntnisse lassen sich in ein Koordinatensystem übertragen – können Sie uns das erklären?
Söffner: Ja, das habe ich in Paris so versucht. Eigentlich bin ich kein Freund von pseudomathematischen Visualisierungen – aber es bietet sich in der Tat an. Es ist aber bloß eine Visualisierung – bitte erwarten Sie keine mathematische Präzision.
Die erste Koordinate, die y-Achse, ist in meinem System die Koordinate des Verstehens oder genauer der Rezeption. Sie reicht von der involvierten Einfühlung und Partizipation über den erlebenden Nachvollzug bis zur beobachtenden Distanz.
Die x-Achse ist die Ebene der Produktion mimetischer Objekte (oder der mimetischen Performanz) und sie verläuft vom Extrempunkt einer komplementären und analogischen Anpassung an eine Umwelt über die Erstellung eines interaktiven mimetischen Objektes bis hin zur bloßen Kopie.
Vom Nullpunkt des Koordinatensystems aus verläuft so eine Diagonale vom Innen (Immersion und Anverwandlung) ins Außen (isolierte und für sich stehende Kopie und deren distanzierte Beobachtung).
Das mimetische Feld ist in diesem System unscharf begrenzt eingetragen – bloße immersive Absorption etwa ist genauso wenig Mimesis wie reine Abstraktion, bloße Anpassung genauso wenig wie bloße ikonische Bezeichnung, aber man kann dieses Feld zwischen diesen Extremen in das folgende Schema eintragen.
Auf der Grundlage dieses Koordinatensystems habe ich mich dann der digitalen Mimesis gewidmet. Das Spannende daran ist, dass alles, wovon ich bisher gesprochen habe, auf den ersten Blick mit einer digitalen – einer aus An- und Aus-Ereignissen zusammengesetzten Logik – kaum etwas zu tun zu haben scheint. Und genau deshalb ist die Mimesis auch eine solche Herausforderung für Computer. Umso erstaunlicher aber, wie weit sie auf der Produktionsseite gekommen sind: Von der mimetischen Anpassung – auch der komplementären Anpassung – bis hin zur präzisen Abbildung und Nachahmung beherrschen sie inzwischen alles.
Sie sagen also, Alexa, Siri und Co. würden menschliche Formen der mimetischen Kommunikation nachahmen. Das klappt tatsächlich schon erschreckend gut.
Söffner: Ja, zuerst wurden wir überschwemmt mit computergenerierten Kopien, aber inzwischen beherrschen sie auch immer besser diejenige Mimesis, die man zur komplementären Angleichung braucht. Unter Zuhilfenahme von enormen Mengen an menschlichen Interaktionen hat Google sogar eine Software entwickelt, die Restaurantbuchungen am Telefon entgegennimmt, während Versuchspersonen nicht bemerkten, dass es sich um eine KI handelt. Aber all dies spielt sich eben auf der Achse der mimetischen Produktion ab. Auf der Achse des Verstehens ist indes keinerlei Partizipation oder Einfühlung möglich. Das aber macht die Interaktion nicht weniger intelligent: Sie ist so präzise, ausgefeilt und flexibel, vor allem aber greift sie auf so viele Daten zurück, dass sie Menschen teilweise schon übertrifft.
Aber Computer können ja per se nicht schlauer sein als der Mensch, der sie programmiert hat. Oder?
Söffner: Oh doch. Im Prinzip waren sie – hält man sich metaphorisch an die mathematische Formel „Leistung = Arbeit geteilt durch Zeit“ – schon von Anfang an leistungsfähiger, weil schneller als die menschliche Intelligenz. Die Turing-Bomben wurden ja nur entwickelt, weil Menschen nicht schnell genug gewesen wären, den Enigma-Code der Wehrmacht zu knacken; das war der Grund, warum Alan Turing und sein Team Rechenmaschinen entwickelten. In den 60er- und 70er-Jahren wurden bereits diejenigen hochintelligenten Leute, die in der Buchhaltung schriftlich rechneten, flächendeckend entlassen. Die Herleitung mathematischer Beweise oder der Umstand, dass Deep Blue Gari Kasparow schlagen konnte, waren weitere Meilensteine. Doch bis hierhin waren das alles noch, wie Sie gerade gesagt haben, menschlich ersonnene Algorithmen – die Rechner ahmten dabei nur das nach, was Menschen (langsamer oder unpräziser) bereits konnten. Auch das ist eine Form der Mimesis – aber sie hätte kaum das erlaubt, was ich gerade beschrieben habe: die komplementäre und situative Interaktion.
Seitdem nun die Zeiten des Machine-Learning angebrochen sind, stehen neue Dimensionen der Mimesis offen: Solche, in denen Rechner Algorithmen finden, die auch ihre Programmierer nicht mehr verstehen. Sie errechnen auch die Prinzipien dessen, was nachzuahmen ist, um etwa bei einer Restaurantbuchung einen richtigen Tonfall zu treffen: Menschen, die das natürlich auch (und bisher besser) können, wären nie und nimmer in der Lage zu benennen, geschweige denn zu berechnen, was sie da genau tun. Denn der interaktive Tonfall ist eines jener Dinge, die Michael Polanyi der „Tacit Dimension“ zurechnet, es ist nicht als Gegenstand benennbares Wissen: Menschen lernen derlei Dinge vor allem durch Nachahmung, nicht durch Konzeptionalisierung. Und genau an dieser Stelle setzt die anders arbeitende digitale Mimesis ein – sie hackt auch diejenige Form der menschlichen Anpassungs- und Nachahmungsfähigkeit, die die Menschen selbst nicht benennen können.
Ich könnte jetzt Angst bekommen und fragen: Wo soll das bloß enden?
Söffner: Keine Ahnung. Aber vielleicht kommen wir etwas weiter, wenn wir stattdessen fragen, wie es anfing. Alan Turing hat nicht nur seine Maschinen, sondern gewissermaßen auch seine Nachfolger in der Computerentwicklung programmiert, indem er ihnen den Turing-Test mit auf den Weg gegeben hat: Kann ein Computer seither eine Aufgabe so erledigen, dass ein Mensch am Output nicht merkt, es mit keinem Menschen auf der anderen Seite zu tun zu haben, dann gilt das als Äquivalent menschlicher Intelligenz.
Joseph Weizenbaum nahm sich in den 60er-Jahren diesen Test zu Herzen und programmierte einen Computer – den er ELIZA nannte – so, dass er Antworten gab, aus denen sich „Gespräche“ zusammensetzten; und er untersuchte dann, ob Testpersonen bemerkt hatten, nur mit einem Computer kommuniziert zu haben. Am besten schnitt ELIZA als Psychologin ab – und zwar mit so einfachen Vorgaben, dass sie auf jedes „Ich fühle mich so X [traurig, müde, nervös oder was auch immer].“ antworten sollte mit „Wie lange fühlen Sie sich denn schon X?“ und so weiter. Natürlich besagte das nicht, dass Psychologinnen und Psychologen in Wahrheit nur Scharlatane seien – es besagt nur eins: Unsere Fähigkeit, uns das Gegenüber anzuverwandeln, ist so groß, dass wir sogar auf solchen Unsinn hereinfallen können – und eine therapeutische Situation triggert diese Anverwandlung eben besonders.
Siri und Alexa sind natürlich unendlich viel ausgefeilter – aber in einer Hinsicht sind wir noch immer an derselben Stelle: Die Arbeit der Einfühlung bleibt allein bei den Menschen hängen. Dass das, was gesagt wird, überhaupt als sinnvoll erlebt werden kann, dass man sich wie in einer intersubjektiven Dynamik verhält, dass man ein lebendiges und fühlendes Gegenüber unterstellt, ist alles eine Frage der menschlichen Mimesis, nicht der digitalen. Die Achse der Rezeption ist für Computer keine Achse, sondern ein Punkt: Digitale Mimesis findet für sie nur auf der Ebene der algorithmischen Berechnung statt. Der Bereich der Einfühlung oder Immersion ist auch Siri und Alexa genauso versperrt, wie er ELIZA versperrt war. Ihre vermeintliche Einfühlung ist bloßer Schein, der mit unserer Einfühlung spielt.
Das aber bedeutet, dass wir selbst bei jedem Dialog mit einem Computer einer neuen Form der Mimikry zum Opfer fallen. Allerdings diesmal aus demselben Grund, warum wir umgekehrt von der Wespenschwebfliege gerade nicht getäuscht werden – nämlich, weil wir eine mimetische Spezies sind. Die Software spielt mit unserem mimetischen Vermögen, mit unserer Fähigkeit zur Anverwandlung und zur Einfühlung. Sie nutzt unseren Alltagsanimismus, um mit uns zu spielen wie eine Wespenschwebfliege mit einem Vogel.
Da kann man fast vergessen, wie wir angefangen hatten. Wie kommen wir denn von hier aus zurück zu Platon und Freunden?
Söffner: Ebenfalls über die Einfühlung. Denn Computer spielen auch mit anderen Ausprägungen des menschlichen mimetischen Vermögens. Ein konkreteres Beispiel ist das „mimetische Begehren“, wie René Girard es beschrieben hat: eine Mimesis, die nicht im einfachen Nachmachen einer anderen Person aufgeht, sondern zugleich den einfühlenden Nachvollzug von dessen Innerlichkeit erfordert. Nach Girard ahmen wir nicht nur äußerlich nach und verhalten uns so, ziehen uns so an, reden so wie andere, sondern wir begehren auch das, was sie begehren, ahmen also ihre Neigungen nach. Diese Mimesis ist weit links auf der x-Achse verortet (man ahmt andere nach, ohne unbedingt mit ihnen in einen dynamischen Zusammenhang zu treten), benötigt aber zugleich auf der y-Achse eine besondere Form von Einfühlung (denn eine Angleichung des Begehrens ist ohne mimetische Einfühlung undenkbar).
Von hier aus führt – wie man in einem wunderbaren Artikel von Robert Pogue Harrison nachlesen kann – ein direkter Weg in die sozialen Netzwerke. Peter Thiel, einer der maßgeblichen Investoren des Silicon Valley, belegte in Stanford Veranstaltungen Girards, die ihn zu der Erkenntnis brachten, dass Facebook – so man es an Girards Theorie orientiere – eine gute Investition wäre; und setzte sein Vermögen ein.
Entsprechend fokussierte die Weiterentwicklung und das Geschäftsmodell dieser Plattform fortan darauf, Menschen dazu zu bringen, sich selbst und ihre Wünsche und Neigungen als nachahmenswert zu präsentieren – und zugleich Gemeinschaften zu wirken, die sich maßgeblich aus der Funktion wechselseitiger Imitation scheinbar von selbst ergaben, in Wahrheit aber von einer digitalen Plattform bedingt waren, die ihren Usern kaum eine Wahl ließ, als sich nach den Parametern der Theorie Girards zu benehmen. Die sozialen Netzwerke sind damit für Girards Theorie das, was eBay für den rationale egoistische Entscheidungen treffenden Homo Oeconomicus ist: Hatten die jeweiligen Theorien nur mäßige Erfolge in der Beschreibung des wesentlich komplexeren menschlichen Daseins, so schufen sie nun eine Umwelt, in der die Menschen gar nicht mehr anders können, als den Theorien zu folgen – und kennt man das Begehren von Usern, dann lässt sich damit Geld machen, denn etwas Besseres als Daten über dieses menschliche Begehren kann man sich für gezielte personalisierte Werbung gar nicht erträumen.
Die heutigen sozialen Netzwerke können noch mehr, denn hier wird auch das mimetische Einfühlungsvermögen auf der y-Achse genutzt, um Wirklichkeiten heraufzubeschwören, die das mimetische Verhalten auf der x-Achse verändern. Mit anderen Worten: Man kann das Influencer Marketing nutzen, um das mimetische Begehren auch noch zu beeinflussen und zu steuern – vor allem aber zu hacken.
Vieles von dem, was Sie erklären, lässt sich auch am Beispiel von Videokonferenzen nachvollziehen. Wie?
Söffner: Gerade dadurch, dass es dort eben nicht funktioniert, wie unter anderem Vittorio Gallese in einem Artikel so eindrucksvoll nachgewiesen hat. Tatsächlich gibt das Koordinatensystem auch über dieses Problem Auskunft. So verwandeln Videokonferenzen die Gesprächsteilnehmer und deren Wohnungen einfach in Darstellungen. Wir gehen also so weit wie möglich auf der x-Achse nach rechts – und das heißt, wir bekommen nahegelegt, in eine Beobachtungshaltung überzugehen und die entsprechende Beobachtungsdistanz aufzubauen, sollen dann aber interagieren.
Das kann nicht gut funktionieren. Derselbe Bildschirm, der so transparent zu sein scheint, wenn es um das mimetische Begehren in den sozialen Netzwerken geht, erscheint hier seltsam opak und zwar gerade in dem Moment, da er handelnde Personen live abbildet. Und eigentlich ist das klar: Für ein Girardsches Begehren ist ja, wie gesagt, Nachahmung das Vehikel und Abbildungen genau die treffende Form der Mimesis; für eine Interaktion brauchen wir aber dynamische Anverwandlung – und da sind Darstellungen hinderlich. Ich glaube, dass dieses mimetische Paradox, die bei vielen von uns zur sogenannten Zoom-Fatigue geführt hat; während – und das ist ja bezeichnend – noch niemand von Facebook-Müdigkeit gesprochen hat, nicht einmal bei der Nutzung des sozialen Netzwerkes für die Arbeit.
Ich würde daher von komplett misslungener digitaler Mimesis sprechen. Es ist jedoch zu befürchten, dass Videokonferenzen bleiben werden – aber nicht, weil sie so großartig für die Kommunikation wären, sondern weil sie Büros einsparen und Arbeitnehmer besser durch längst entwickelte Softwarechecks kontrollierbar und steuerbar machen, während man als Arbeitgeber sogar auch noch einen Einblick in ihre Wohnungen bekommt: Es gibt schon an Arbeitgeber verkaufte Software, die das Bildschirmverhalten (aufgerufene Applikationen oder Websites) der Arbeitnehmer mitschneidet und auch regelmäßige Screenshots macht. Die von der Pandemie beschleunigte Digitalisierung sollte man gut im Auge behalten, damit wir nicht hinterher in einer neuen Form der Kontrollgesellschaft aufwachen. Aber selbst da, wo sie einfach förderlich und sinnvoll ist, bleibt diese Entwicklung auf ein mimetisches Vermögen angewiesen – nämlich unser eigenes, das wir brauchen, um uns an diese neue Arbeitsweise anzupassen, während wir uns gegenseitig nachmachen und in die gestörte Distanzdynamik einarbeiten.
Die Alternative zu der gescheiterten Mimesis der Videokonferenzen ist indes die Übersteigerung der interaktiven Mimesis in mimetisch adäquaten virtuellen Umgebungen – und es ist kein Zufall, dass Facebook, das in Mimesis-Theorie offenbar versierteste Unternehmen, eben nicht mit einem besonderen Videokonferenztool angekommen ist, sondern mit seiner Umbenennung in Meta und Ausrufung des Metaverse genau diesen Schritt gehen möchte. Es ist der Schritt, sich von dem engen Girardschen Mimesis-Konzept zu verabschieden und auf fast alle in diesem Interview besprochenen Formen der Mimesis einzugehen. Wohin das führt, ist aber noch weniger abzusehen.
Zum Schluss nochmal ganz einfach nachgefragt: Wie werden Computer und Menschen künftig koexistieren?
Söffner: Wichtig ist es, erst einmal einzusehen, dass es wirklich um Koexistenz geht – ein Wort, das man etwa für Medien nicht verwenden sollte. Medien haben das menschliche Bewusstsein nie aus seiner Position als Zentralorgan der Rationalität verdrängt, auch wenn natürlich die Gesellschaften und Kulturen von jedem Medium mehr umgestaltet wurden als sie umgekehrt die Medien umbauten. Aber das ist kein Vergleich zur Gegenwart: Künstliche Intelligenzen sind keine Medien – und der erste Schritt in eine etwas angemessenere Form der Koexistenz ist eben, dass wir mit ihnen auch nicht so umgehen sollten, als wären sie welche, denn sonst gehen wir in ihre oben beschriebene mimetische Falle.
Wenn ich aber wüsste, wie es stattdessen geht. Ich weiß es nicht und vielleicht bin ich auch zu alt, es wissen zu können und stecke noch zu sehr in altmodischen griechischen Begriffen fest. Aber eins weiß ich schon: Gäbe es nicht die geostrategischen Spannungen, die Klimakatastrophe und das Artensterben, wäre das die unangefochten größte Frage dieses Jahrhunderts – und vielleicht ist sie das auch so, denn in ihr laufen auch diese anderen Aspekte zusammen: sei es durch mögliche, aber von Menschen noch ungeahnte Hilfe, diese Probleme anzugehen – sei es durch Kriege um Daten und KI, Stromverbrauch durch KI, Ausbeutung der Natur durch KI. Auch hierfür brauchen wir gute Formen der Koexistenz. Und wenn wir sie brauchen, dann ist vielleicht das Nachdenken über digitale Mimesis ein wichtiger Schritt.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm