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Lennart Brand promovierte an St. John’s College, Oxford, im Fach ‘Modern Languages’. Seine wissenschaftliche Arbeit konzentriert sich auf das Werk Ernst Jüngers mit besonderem Schwerpunkt auf dessen geschichtsphilosophische Aspekte. Seit 2012 verantwortet er an der Zeppelin Universität den Bereich Universitätsentwicklung.
Der Begriff der Postdemokratie wurde nach dem Erscheinen der Originalausgabe des Buches „Post-Democracy“ von Colin Crouch 2004 zum Kristallisationspunkt der Debatte um Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung. Crouch hat dabei ein politisches System im Auge, dessen demokratische Institutionen zwar weiterhin formal existieren, das von Bürgern und Politikern aber nicht länger mit Leben gefüllt wird.
Zum Buch: Colin Crouch: Post-Democracy, Oxford 2004 / Postdemokratie, Suhrkamp 2008
Karlheinz Weißmann, Post-Demokratie, Schnellroda 2009
Peter Mair, Ruling the Void? The Hollowing of Western Democracy, in: New Left Review, 42 (2006), S. 25 – 51
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1996
Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2009
Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft. Für eine realistische Theorie der Politik, Göttingen 1997
Der Begriff der Postdemokratie ist spätestens seit Colin Crouchs Buch „Post Democracy“ (2004) in den allgemeinen Sprachgebrauch systemkritischer Denkschulen eingegangen. Man muss Crouchs etwas faden Egalitarismus, der ja selber sehr mit dem Mainstream schwimmt, durchaus nicht teilen, um seiner Diagnose im Grundsatz zustimmen zu können. Tatsächlich leidet Crouchs Ansatz daran, dass er den Begriff Postdemokratie in einen – im engeren Sinne – politischen Zusammenhang stellt, dem er unangemessen ist und in dem er Rhetorik bleibt. Angemessen ist der Begriff vielmehr in einem metapolitischen Zusammenhang.
Im metapolitischen Raum allerdings, vor dem weiteren zeitgeschichtlichen Horizont, erfährt der Begriff Postdemokratie derzeit eine Aufladung, wie sie noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Jene späthegelianischen Theorien, denen zufolge die liberale, rechtsstaatliche Demokratie Endpunkt und Endziel der Geschichte darstelle, jene „Whig interpretation of history“, der die Geschichte immer nur als jeweils vorläufiger Schritt auf das jetzige So-und-nicht-anders dient, verlieren ihre Überzeugungskraft. Anstatt dessen drängt sich zunehmend die Einsicht auf, dass die liberale Demokratie ein Kapitel der Weltgeschichte ist, das einen Anfang hatte, ein Ende haben wird, und im Rückblick wird es vermutlich ein recht knappes Kapitel gewesen sein, das man auch schon einmal überschlägt.
Dies mag man bedauern, aber darum geht es hier nicht. Im Sinne einer Lagebestimmung stellt sich vielmehr zunächst die Frage, ob wir uns noch im Zeitalter der Demokratie befinden oder bereits in die nächste Phase eingetreten sind. Crouch behauptet das letztere. Durchaus überzeugend legt er dar, dass die Volkssouveränität – die allerdings immer ein merkwürdiges Konstrukt war – abgelöst worden sei von einer Diktatur der anonymen Verwaltungsstrukturen. Diese umfassen nach Crouch nicht nur die „Behörden“ in einem weiteren Sinne, also unter anderem EU, WHO, Weltbank, sondern auch die globalen Großunternehmen. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nimmt Crouch ausdrücklich aus, aber das mag seinen politischen Vorurteilen geschuldet sein und ist nicht konsequent: Auch NGOs wie Amnesty International oder Greenpeace vertreten Partialinteressen; diese haben eine bessere Presse als die von Goldman Sachs, sind allerdings nicht intrinsisch ‚repräsentativer‘. In Bezug auf ihre strukturelle Rolle im Gesamtgefüge der Bürokratur ähneln die großen NGOs und Goldman Sachs sich immerhin deutlich.
Crouch und andere sind der Auffassung, dass der Tendenz zur Postdemokratie durch stärkere Bürgerbeteiligung, ‚Partizipation‘, entgegengewirkt werden könne. Darin spiegelt sich eine Präferenz des gegenwärtigen politischen Establishments, partizipative Elemente in bestimmte Prozesse politischer Entscheidungsfindung einzuführen. Obwohl man dieses Anliegen begrüßen mag, stellt sich doch die Frage, ob das Phänomen der Postdemokratie und das Mittel der ‚Partizipation‘ wahrhaftig in dem Sinne aufeinander bezogen werden können, dass dieses jenes in seine Schranken wiese. Tatsächlich lässt sich mit einiger Überzeugung argumentieren, dass das nicht der Fall ist.
Kurz gesagt, findet ‚Partizipation‘, wie sie hier verstanden wird, auf einer ganz anderen Ebene statt als postdemokratische Entwicklungen. Um es anhand aktueller Sachverhalte zu verdeutlichen: Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) kann mit einigem Recht als die erste offen postdemokratische Institution in Europa angesehen werden. Das Durchgriffsrecht auf die nationalen Budgets der Mitgliedsstaaten in Verbindung mit dem Ausschluss jeglicher parlamentarischen oder sonstigen Kontrolle widerspricht so gut wie allen Grundsätzen der liberalen Demokratie. (Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2012 ändert an ihrer grundsätzlich postdemokratischen Natur nichts.) Auch jene unterschiedlichen Vorschläge der letzten Monate, die auf eine Verlagerung der nationalen Budgethoheit auf supranationale Verwaltungseinheiten hinauslaufen, sind deutliche Indikatoren für die postdemokratische Tendenz: Indem die Budgethoheit, über die Souveränität sich zu großen Teilen definiert, den parlamentarischen Institutionen entzogen wird, zieht auch die Souveränität selber sich aus dem demokratischen Raum zurück.
Hier aber setzt ‚Partizipation‘, wie sie das politische Establishment versteht, gerade nicht an. Ganz im Gegenteil: Wann immer es um grundlegende strategische Fragen geht, scheut die Politik das partizipative Moment wie der Teufel das Weihwasser. Und wo sich Plebiszite oder Ähnliches nicht umgehen lassen, erfolgt ihre Umsetzung oft in einer Weise, die dem partizipativen Geist entgegenläuft: Bekanntermaßen wurden das dänische Referendum zum Vertrag von Maastricht und das irische Referendum zum Vertrag von Lissabon solange wiederholt, bis das Ergebnis dem Willen der Exekutive entsprach.
Partizipation hingegen findet vor allem lokal statt, im Rahmen der Kommunal- und Regionalpolitik. Dies ist zweifellos wertvoll; aber dass man dem Volk die Funktion des Souveräns faktisch entzieht, wird darum nicht weniger postdemokratisch, weil man es zur selben Zeit über einen Bahnhof abstimmen lässt. Je nachdem, wie man das Politische definiert, ließe sich sogar mit einigem Recht argumentieren, dass kommunal- und regionalpolitische Entscheidungen weniger politische als vielmehr administrative Entscheidungen sind, die nicht schon dadurch zu politischen werden, dass sie von gewählten Ausschüssen – Gemeinde- und Stadträten und dergleichen – getroffen werden. Politisch ist nach dieser Definition allein das Strategische: die souveräne Aktion, die sich im Ernstfall beweist.
Nach diesem Verständnis des Politischen wäre jene ‚Partizipation‘, wie sie dem politischen Establishment vorschwebt, keineswegs politische Teilhabe, sondern Teilhabe an niederschwelligen Verwaltungsvorgängen. Das aber hieße, dass mehr ‚Partizipation‘ keineswegs mehr Demokratie bedeutete und schon gar nicht der postdemokratischen Tendenz entgegenwirkte. Vielmehr gestünde man dem ehemaligen Souverän, nachdem er seiner Souveränitätsrechte faktisch entkleidet worden ist, die Rolle des lokalen Honoratiore zu. So endet die liberale Demokratie „Not with a bang but a whimper“; was an ihre Stelle treten wird, bleibt vorerst offen.
Bild: kallejipp / photocase.com