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Dr. Joachim Landkammer studierte in Genua und Turin; seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie; neben politischer Philosophie setzt er sich unter anderem mit Ästhetik und Bildungstheorie auseinander.
Das Fußballspiel ist zu langen Strecken schlicht eines: langweilig. Etwas genauer: Gemessen an Dauer, Aufwand und Erwartung verlaufen Fußballmatches (jedweder Kategorie) durchschnittlich mit einer sehr geringen Ereignisdichte, also mit sehr wenigen Momenten, in denen wirklich etwas Folgenreiches und Spielentscheidendes passiert (im Vergleich etwa zu Basket- oder Handball). Bis zu gefühlte 95 Prozent eines 90-minütigen Spiels zeigen nur sinn- und folgenloses Geplänkel, dilettantische Fehler, gescheiterte Versuche, ins Leere gehende Beiträge, die nur durch den Nullsummenspiel-Charakter des Fußballs (jedes Scheitern des Einen kann - meist völlig unbegründeterweise - als „Erfolg“ des Anderen gewertet werden) ein im Grunde stark fragwürdiges Interesse erzeugen. Die These der Überflüssigkeit des Real-Time-Ablaufs von Fußballspielen wird belegt durch zwei Tatsachen: Jeden Samstag können Bundesliga-Spiele auf fünf Minuten und weniger verkürzt und trotzdem in völlig ausreichendem Maß dargestellt werden. In der Tat: Mehr Fußball(minuten) braucht kein Mensch. Zweitens: Das Spiel ist absolut auf Live-Rezeption angewiesen, weil es nur mit der Spannung eines im Ergebnis noch offenen Ausgangs ertragbar ist. Wiederholungen und Aufnahmen von ganzen Spielen werden zu Recht nur nachts auf Nischen- und Spartensendern für wenige Maniacs gezeigt.
Der zu erwartende Standard-Einwand, dass das geschulte Expertenauge Sehenswertes im Detail jedes Spielzugs, in der langfristigen Anlage von Taktiken und Strategien („4-4-3“, „falsche Sechs“, „Pressing“, „Tiki-Taka“, usw.) Sehens- und vor allem langatmig Kommentierenswertes ausmachen kann, belegt durch den Aufwand an konzeptionellem Überbau die Dürftigkeit der faktisch-materiellen Basis des Spiels. Um den meist vernachlässigenswerten ludischen Kern des Fußballspiels hat sich eine milliardenschwere, medieninduzierte Blase gebildet, in der Spielerfrauen, Spielerfrisuren und Spielerdummheiten die Unnötigkeit des Ganzen verschleiern müssen.
Gerade deswegen aber, gerade wegen der (meist uneingestandenen) enttäuschenden Erfahrung der Langeweile eines seit Jahrzehnten zum unhinterfragten Mythos stilisierten Medienhypes werden gesteigerte Erwartungen an die (nun endlich einmal quasi zu erzwingende) Qualität des Spiels mit dessen Austragung auf „allerhöchstem Niveau“ verbunden. Wenn es um die „Weltmeisterschaft“ geht, meint man, endlich den weltbesten Akteuren dabei zusehen zu können, wie sie das so oft desillusionierte Versprechen dieses Spiels einmal einlösen. Es ist klar, dass auch diese Erwartung fehlgeht - was wiederum durch verstärkten Mega-Aufwand an medialem Begleit-Getöse wettgemacht werden muss.
Denn das Selektionskriterium für das erwartete hohe „Weltmeister-Niveau“ ist (heute) vollkommen absurd: Die gegeneinander antretenden Mannschaften werden nicht aus den wirklich besten Spielern gebildet, sondern nur aus den (angeblich) besten Spielern EINES Landes. Das in Zeiten avanciertester Globalisierung und Kulturvermischung unnatürlichste und reaktionär-konservativste aller Kriterien, das der „Nationalität“, soll nun jene „Zusammengehörigkeit“ einer Mannschaft garantieren, die für die Spielqualität als maßgeblich eingeschätzt wird. Wie weit an den Haaren herbeigezogen dieses Kriterium ist, erhellt ein einziger Blick auf die Nachnamen und Wohn- und Arbeitsorte unserer sogenannten „Nationalspieler“. Spielen darf nicht, wer richtige Pässe schlägt, sondern wer den richtigen Pass hat. In der Tat muss hier das chauvinistische Identifikationsangebot an die zuschauenden Massen das zu erwartende niedrige Gesamtniveau der Darbietung kompensieren.
In der Tat wird auch ein Kenner nicht bestreiten, daß Fußball, als Mannschaftssportart, eben von der Qualität, der Erfahrung, der Kohäsion einer wirklichen „Mannschaft“ abhängt. Mannschaften im eigentlichen Sinn gibt es aber heute nur auf Vereins- und Clubebene; hier wird mit ausreichender Regelmäßigkeit und Kontinuität trainiert und gespielt, während die sogenannten „Nationalmannschaften“ stark fluktuierende, ad hoc zusammengewürfelte, unbeständige Zufallsagglomerate mit sehr kurzer Halbwertszeit sind. Dass man von solchen Nicht-Teams keine akzeptable kollektive, alle zwei Jahre einmal auf den Punkt abrufbare (!) Leistung erwarten kann, liegt auf der Hand und beweist wieder, daß es darum offenbar auch gar nicht geht.
So wie die Nation eine „Erfindung“ ist (B. Anderson), so ist es die „Nationalmannschaft“. Sie soll Einheit und Zusammengehörigkeit demonstrieren, wo Differenz und Individualität die Realität darstellt. Sie orientiert sich einzig an identifikationssüchtigen Zuschauerinteressen, nicht an der Frage der Spiel-Qualität. Jede bessere Clubmannschaft wäre heute in der Lage, jede sog. „Nationalmannschaft“ in Grund und Boden zu spielen. Aber auch das wäre wieder nur: langweilig.
Die aktuelle Weltmeisterschaft ist daher lediglich als meisterlich inszeniertes Medienphänomen, als unternehmerisch-kommerzielle Glanzleistung und als anachronistisch-alteuropäische soziale Pathologie interessant. Wer den sog. „Sport“ wirklich liebt, verbringt vor dem Fernseher nur sinnlose Zeit.
8. Darum: Ja, natürlich schaue ich mir alle „deutschen“ Spiele an. Man muss ja auch seine Vorurteile auf dem Laufenden halten.
Titelbild: Alexander Hüsing / flickr.com
Bilder im Text: Arne List / flickr.com, Rainer Mittelstädt, René Stark / jeweils Wikimedia Commons)