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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Sommer in Deutschland und vor allem Sommer mit Fußball-Weltmeisterschaften sind Jahreszeiten des Grillens, und vielleicht muss man in einem anderen Land leben und älter als ein halbes Jahrhundert sein, um dieses Ritual nicht als unvordenklich und durchaus weltkulturell anzusehen. Als mir mein Freund Jan aus Köln nach dem heißen Pfingst-Wochenende vom Grillen schrieb, ging mir zum ersten Mal die Frage durch den Kopf, warum das Grillen eigentlich so ganz verschieden ist von unseren amerikanischen Barbecues. Es dauerte einige Zeit, bis mir die Lösung einfiel (und die kam mir dann wirklich vor wie eine „Lösung“, nicht einfach wie eine These oder bloß eine Meinung).
Das BBQ steht in der Kultur der Vereinigten Staaten für Texas – und das heißt immer auch für eine tendenziell aggressive Sicht von dem, was „eigentlich amerikanisch“ sein soll, fast unvermeidlich republikanisch (natürlich ist dies ein Stereotyp, das vielen Texanern Unrecht tut, aber eben als solches hat es seine Wirklichkeit). Das Grillen dagegen mag zwar mittlerweile einen etwas kleinbürgerlichen Flair angenommen haben (dem man, wenn daran liegt, durch eine hoch-technische „Ausrüstung“ zu entkommen versuchen kann), aber sein Anfang war ein historisch gesehen tatsächlich erstaunlicher Moment von Offenheit.
Es begann zusammen mit dem sehr früh-bundesrepublikanischen Adria-Tourismus im VW-Käfer, Opel Rekord oder Ford Taunus, mit dem Schlager „Marina, Marina, Marina, Du bist doch die Schönste der Welt“ und den ersten Pizzarien, in denen man über August hinaus den Urlaub nachklingen lassen konnte, bald auch mit jugoslawische Restaurants wie dem von Radi Radenkovic, dem populären Torwart der damals exzellenten Mannschaft von 1860 München (italienische Eis-Salons übrigens haben eine viel längere und kompliziertere Geschichte in Deutschland).
In jenen Zeiten jedenfalls, als man entdeckte, dass es jenseits von Garmisch-Partenkirchen und dem Titisee schöne Landschaften gab, kam auch das Schaschlik ins Land, ganz undeutsch gespießt, „exotisch“ mit gebratenen Nierenstücken, die man nicht mehr „Nierchen“ nannte, und begleitet von der Entdeckung, dass schweißtreibend „scharfes Essen“ so etwas wie eine Mutprobe sein konnte, die zeigte, wie weit man mit der kulturellen Offenheit (für die es noch längst keine Worte gab) zu gehen bereit war. Mein Vater, der gerade den Karrieresprung vom Opel Rekord zum damals neuen Mercedes 190 gemacht hatte, bestellte beim sonntäglichen Restaurantbesuch nun nur noch „Steak mit Pfeffer und Reis“, was mir wegen seines kleinen Lispelns am Anfang und Ende des Satzes noch sehr genau in Erinnerung ist – und was immer, ganz hoch-modern sozusagen, implizieren sollte: „kein Schnitzel, keine Kartoffeln – und sehr scharf!“
Auf diesen Wellen kam auch das Grillen ins Land. Die Bundesrepublik wollte ein anderes Deutschland werden, nicht unbedingt jenes Deutschland, das die westlichen Alliierten sich ausgedacht hatten, aber sicher ein Deutschland mit neuen Klängen, Geschmäcken und manchmal auch Gesichtern (niemand hätte symbolischer sein können in dieser Hinsicht als Italia Walter, die italienische und wirklich sehr schwarzhaarige Frau des Spielführers beim „Wunder von Bern“). Als die schnell folgende nächste Karrierestufe meines Vaters die Möglichkeit mit sich brachte, Assistenten einzustellen, suchte er mit großer (und naiv-authentischer) Begeisterung „ausländische“ junge Kollegen aus, Griechen, Inder, selbst ein Thailänder war nicht zu fremd — und die Schweiz nicht zu nahe. All diesen jungen Ärzten wurde angemutet, dass „Grillen“ zu ihren Kern-Kompetenzen und Leidenschaften gehörte, weshalb kein Familienfest von Mai bis September mehr zu denken war ohne schwitzend grillende Assistenten im Garten des neuen, etwas protzigen Hauses.
Selbst der Schweizer Kollege mit dem eher un-exotischen Namen „Kunz“ wurde unter diese Offensive der Kulturoffenheit subsumiert. Die eine Frau in der Gruppe, sie „war schwarz“, hieß Myrtle Dingwall und stammte aus Liberia, war allerdings nicht zugelassen zum Grillen. Denn es lag ja auch eine Geste von Geschlechter-Revolte in diesem Ritual, positiv gesehen: Frauen durften vom Kochen als damals einzig „natürlicher“ Bestimmung entlastet werden, negativ: auch beim Kochen sollten Männer letztlich „besser“ sein. All die Begeisterung hielt bis mindesten zur „Studenten-Revolte“ der späten sechziger Jahre an, bis zu jenem ganz anderen Deutschland von Willy Brandt und den Olympischen Spielen 1972 in München. Etwa Offeneres und Liberaleres als das Grillen, das bald auch die Schrebergärten erreichte und dort den „Gastarbeitern“ einen kleinen Status gab, hat die sehr alte Bundesrepublik wohl nie gesehen.
Deshalb verwies mich Jan Soeffners Beschreibung der Grill-Gegenwart, die meiner Erinnerung so einen nachhaltigen Impuls gegeben hatte, zunächst einmal auf ganz erstaunliche Kontinuität. In dieser ganz anderen deutschen Generation und Gesellschaft von 2014 ist das Grillen anscheinend immer noch ein Kontext von beinahe lauter Liberalität: „Man saß auf Decken, aß von unterschiedlichen Tellern, trank sich durch mehrere Bier- und Weinsorten, versuchte der Übermenge von Fleisch Herr zu werden und fühlte sich viel jünger und viel verbundener als sonst im Leben. Als einer nach dem anderen die Teller wegstellte, war man schon über das Begutachten von Supermarktsoßen ins Gespräch gekommen und konnte nun beginnen, sich gegenseitig auszufragen.
Da meine Sitztuchnachbarn auch Eltern waren, galt meine erste Frage der Schulwahl. Sofort wurde mir klar, wie die Frage ambivalente Gefühle abrief. Denn liberal und beinahe radikal gleichheitsorientiert will man auch heute noch sein beim Grillen, doch die Sitztuchnachbarn hatten ihre Tochter auf die angesagteste Grundschule des ganzen Viertels geschickt. Es sei dort aber alles demokratisch – nur etwas anders, als sie sich zunächst vorgestellt hatten. Zum Beispiel gebe es eine Art Klassenbuch, das von allen gemeinsam geführt werde. Die Schüler schrieben dort auf, wenn Kemal Charlotte geschlagen hatte (oder umgekehrt natürlich, sollte dies je vorkommen). Es gebe einen Klodienst, das heißt: Schüler, die reihum darauf aufpassen, dass sich Kemal (und Charlotte) immer die Hände abwaschen. Einmal wöchentlich würden die Meldungen dann in einem Klassen-Rat (Klasse plus Lehrerin) besprochen und die Konsequenzen gezogen. Das Verfahren sei sehr effizient. Schulhofschlägereien gebe nicht mehr, und wer die meisten Mitschüler auf den Weg zu gutem Verhalten bringe, werde auch tatsächlich zu den meisten Kindergeburtstagen eingeladen. Wer sich hingegen zu entziehen versuche, habe kaum Freunde und bekomme am Ende auch einen Vermerk ins Zeugnis. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Ein Pädagogikstudium hatte ich ja auch durchlaufen – aber das ließ einen so grundlegenden Wandel kaum ahnen.
Langsam, ein bisschen so, als würde er aufwachen, löste sich neben mir ein Lehrer von seinem Smartphone. Er unterrichtet an einem für seine Fortschrittlichkeit bekannten Gymnasium und meinte, dass es dort ganz ähnlich sei. Das sei eine Generationenfrage. Noch vor ein paar Jahren habe er sich immer gefreut, wenn ein alter Knacker pensioniert wurde. Aber jeder neu eingestellte Lehrer habe ihn enttäuscht. Inzwischen könne man sich kaum mehr gegen die Tendenz wehren, fortschrittliche Erziehungsmethoden in Instrumente möglichst umfassender Disziplinierung umzufunktionieren. Eigentlich hatte ich meine eigene Generation in Deutschland – die der heute gerade Vierzigjährigen – immer als weltoffen und tolerant erlebt. Es war und ist die Generation des ‚Das geht ja wohl gar nicht!’ im Angesicht noch der unscheinbarsten Diskriminierung. Sollte darin etwas ganz Anderes stecken? Ich sah mich um, und keiner der Mitgriller weckte auch nur den leisesten Verdacht einer Disziplinierungswut. Als wir uns wieder setzten, war das Thema verflogen.
Wie jeden Morgen präsentierte mir tags darauf das digitale Netzwerk academia.edu eine Reihe von Wissenschaftlern, die an ähnlichen Fragen arbeiten wie ich. Die noch ganz offene Frage über meine Generation beobachtete mit – und so klickte ich etwas länger als gewöhnlich. Ich meinte, tatsächlich einen Generationenumbruch zu erkennen. Unter den über Fünfzigjährigen überwogen die nichtssagenden Fotos mit Bücherregalhintergrund; Homepages sahen aus wie die Bewerbungsdossiers, aus denen sie wohl auch herauskopiert worden waren.
In meiner Generation standen stattdessen spielerische Fotos im Vordergrund: abstruse Bildausschnitte, postmoderne Selbstbespiegelungen, ironische Grimassen, etwas zu laszive Blicke, Urlaubsaufnahmen usw. Auch die eigenmächtig erstellten Homepages erinnerten mehr an Facebook als an institutionelle Arbeit. ‚Vielleicht ist es ein Effekt des Vernetzens‘, kommentierte am Abend ein alter Freund, und senkte den raumschiffhaften Deckel über seinen Gourmet-Elektrogrill mit den kohleimitierenden Steinen unter den Grillstangen: ‚Früher hatte man Seilschaften und keine Netzwerke. Die funktionierten, indem sie die meisten Kollegen ausschlossen. Vom Networking ist stattdessen niemand mehr ausgeschlossen, da braucht man keine Geheimnisse mehr zu haben.‘
Ich hatte das Thema über ganz wundervoll gerillten Käse- und Gemüsestücken und einigen Gläsern von wirklich samtigem Wein angesprochen. Mein Freund war in ein familiengerechtes Vorortdorf gezogen. Die Gärten gingen ineinander über, und die Siedlungskinder rannten anscheinend glücklich herum, von keiner Straße bedroht und von jedem Fenster aus behütet. Er sagte weiter, dass Freundschaft nichts Exklusives mehr sei. ‚Wie meinst Du das?‘, fragte ich. ‚Bei einem Netzwerk bleibt niemand draußen vor‘, erklärte er, und regelte mit seinem Smartphone aus die Musikanlage im Wohnzimmer etwas runter, ‚deshalb kann es sein, dass Kollegialität freundschaftlicher wird und nicht mehr so formell sein muss.‘ Ich verstand nicht gleich: ‚Aber irgendwie muss man den Laden doch auch am Laufen halten. Wenn alle befreundet sind, kann eigentlich jeder machen, was er will.‘
Doch während ich das sagte, fiel mir auf, dass es ja auch kaum noch hart ausgetragene akademische Kontroversen mehr gibt, wie ich sie in meinem Studium miterlebt hatte. Man sucht jetzt immer den gemeinsamen Boden, findet aneinander dasjenige ‚interessant‘ (oder noch schlimmer: ‚spannend‘) was man für ‚anschlussfähig‘ an den allgemeinen Diskurs hält und würgt in verbrüdernder Umarmung alles ab, was eben nicht passt. Ich musste an die ausbleibenden Schulhofschlägereien in der Klassenrat-Schule denken. ‚Wenn man niemanden mehr ausschließen will‘, sagte ich etwas weihevoll (und auch heimlich wütend), ‚dann muss man halt alle kontrollieren. Das funktioniert offenbar gut. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion um die Finanzkrisen, ist mir zum Beispiel kein einziger neoliberaler Gedanke untergekommen.‘ Mein Freund antwortete mit sehr leiser Stimme, vielleicht um meinen Tonfall zu drosseln. Gerade kamen seine Kinder und nahmen sich vor dem Zähneputzen noch ein paar kaltgewordene Stücke vom Grillteller. Ich checkte Mails auf meinem Handy.
Als wir wieder allein waren, verlieh ich meinem frisch gewonnenen Weltverständnis noch umfassender und feierlicher geschichtsphilosophisch-politischen Ausdruck, indem ich über Google und Snowden sprach und auch sagte, dass eine unübersichtlich gewordenen Zahl von Facebookfreunden nicht zu unterschätzen sei. Könnte die NSA nicht der europäische Sündenbock für das Gefühl sein, in allen Situationen überwacht und in einer schmalen Marge von Gleichheit gehalten zu werden? So ganz weiß ich nicht mehr, wie es weiterging. Ein guter Freund bringt einen in solchen Momenten wieder auf den Boden. Und dieser hier war ein guter Freund, der einen ganz phantastischen Selbstgebrannten hatte.“
Als ich Jans Mail zum zweiten Mal gelesen hatte, fiel mir diese erstaunlich paradoxale Kontinuität auf. Seit das Grillen in den Jahren von Konrad Adenauer über die Deutschen gekommen war, ist es – tatsächlich ganz anders als das texanisch-amerikanische BBQ – ein sozialer Ort der kulturellen Offenheit und vielleicht sogar der Ort eines Gestus der Gleichheit gewesen. Doch was den Horizont vor 1960 tatsächlich aufriss, über den Titisee und Garmisch, über Schnitzel und Kartoffelsalat hinaus, ist zwei Generationen später zu dem geworden, was Marcuse damals (mit ganz anderen Gestalten im Sinn) „repressive Toleranz“ nannte. Nämlich eine Offenheit, die dort endet, wo die Welt und das Leben tatsächlich drohen, anders zu werden: eine Offenheit und Toleranz auch für die teuren Versionen der Grill-Ausstattung, um beim Grillen als Gleichheits-Ritual bleiben zu können; eine Offenheit gegenüber neo-liberalen Positionen, um sie umso definitiver ausschließen zu können; eine Offenheit gegenüber Kemal, um Charlottes Reinheit zu bewahren.
Das Grillen ist sich gleich geblieben, komplizierter geworden – und doch nicht mehr dasselbe.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Markus Tacker / flickr.com
Bilder im Text: Kunstschule Wandsbeck, Tobias, Markus Tacker / flickr.com
Verantwortlich: Florian Gehm / Redaktion