In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben sich die Tabuisierung und das Verbot aller Arten von Gewalt zum westlichen Normalfall entwickelt. Ist es dann nicht an der Zeit, Sportarten wie das Boxen zu verbieten?
„Im Boxsport äußert sich diese sportsfeindliche Tendenz“, notierte Bertolt Brecht Ende der zwanziger Jahre, „in der Propagierung des Punktverfahrens. Je weiter sich der Boxsport vom K.o. entfernt, desto weniger hat er mit richtigem Sport zu tun. Ein Boxer, der seinen Gegner nicht niederschlagen kann, hat ihn natürlich nicht besiegt. Sehen Sie sich zwei Männer an einer Straßenecke oder in einem Lokal einen Kampf liefern. Wie stellen Sie sich hierbei einen Punktsieg vor? Die Haupt-Todfeinde des natürlichen naiven und volkstümlichen Boxsports sind jene Gelehrten, die an den Seilen sitzen und in ihre Hüte hinein Punkte sammeln. Sie verstehen mich: je ,vernünftiger‘, ,feiner‘ und gesellschaftsfähiger der Sport wird, und er hat heute eine starke Tendenz dazu, desto schlechter wird er.“
Eine "sportsfeindliche Tendenz" erkannte Bertolt Brecht, einer der bedeutensten Lyriker und Dramatiker des 20. Jahrhundert, im Boxen. Trotzdem sah er zwischen Theater und Boxveranstaltung immernoch gewisse Parallelen.
Es ist schwer, sich eine Position vorzustellen, die deutlicher als Brechts Meinung zum Sport, geradezu dramatischer quer steht zu einer bequemen Konsens-Zone in den breiten Mittelschichten der heutigen westlichen, vor allem der europäischen Gesellschaften. Wenn sich der alltagsprachliche Gebrauch des Wortes „Gewalt“ beschreiben lässt als die Besetzung oder die Blockierung von Räumen durch Körper gegen den Widerstand anderer Körper, dann trifft die Behauptung wohl zu, dass keine uns aus der Geschichte bekannte Kultur so weit wie unsere gegangen ist in der öffentlichen Tabuisierung und in der gesetzlichen Vorsorge zur Minimierung von Gewalt (was natürlich nicht bedeutet, dass sie dabei immer erfolgreich ist, und noch weniger, dass die Akkumulierung von Gewaltpotentialen als „Macht“ überhaupt zu unterbinden ist). Für Brecht hingegen war der „natürliche naive und volkstümliche Boxsport“ ohne Gewalt gar nicht zu denken, und sein Bestehen auf der Notwendigkeit des K.o. macht deutlich, dass dieser – für ihn notwendige – Gebrauch von Gewalt durchaus Todes-Gefahr einschließen sollte.
Und die Provokation seiner Notiz über „Die Todfeinde des Sports“ an die Adresse der zeitgenössischen Leser geht noch viel weiter. Erstens scheint Brecht zu implizieren, dass Gewalt-Gebrauch kein Spezifikum des Boxsports ist, sondern zu jeder Sportart gehört, die diesen Namen verdient. Zweitens polemisiert er gegen die Möglichkeit (vor allem der Zuschauer), im Sport eine Modalität ästhetischer Erfahrung zu vollziehen, wörtlich gegen „die krampfhaften Bemühungen einiger ,Kenner‘, aus dem Sport eine Art ‚Kunst‘ zu machen.“ Drittens schließlich verurteilt Brecht sogar den aus Gesundheitsgründen betriebenen Sport: „Ich glaube nicht, dass Lindbergh sein Leben durch seinen Ozeanflug um zehn Jahre verlängert hat. Boxen zu dem Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kaum Sport.“
Was gegen die rhetorische Verführungskraft solch kerniger Sätze heute als die politisch korrekte Erwartung gegenüber den Intellektuellen zu gelten hat, liegt auf der Hand. Sie sollten sich entrüsten oder, das wäre die mildere und geschmacksbetontere Alternative, sie sollten Brechts Meinung wenigstens „historisieren“ (ungefähr in diesem Ton: „man möchte es ja nicht glauben, welch extremistische Meinungen in den zwanziger Jahren zirkulierten!“). Umgekehrt bedeutet diese Anmutung aber auch, dass ein spezifisches Provokationspotential für unsere Gegenwart bereits in der (ernstgemeinten) Frage liegt, ob Brecht vielleicht in irgendeiner Hinsicht Recht haben könnte. Doch wenn wir einmal davon absehen, dass Definitionen prinzipiell von der Freiheit derer abhängen, die sie vorschlagen, annehmen oder ablehnen, was weiter bedeutet, dass dem Dichter Bertolt Brecht (zum Beispiel) jederzeit beipflichten wird, wer seine Definition des Wortes „Sport“ übernimmt, wenn wir also einen solch glatten Konsens über die Definition ausschließen, was würde es dann bedeuten zu sagen, dass Brecht zwar unter einer ganzen Reihe von Perspektiven Unrecht, aber doch mindestens in einer Hinsicht Recht hat?
Der Grad zwischen Sport und Show ist nirgendwo so schmal wie beim Boxen: Vor den Kämpfen präsentieren Popstars ihre neusten Songs, Ringsprecher werden von anderen Kontinenten eingeflogen und die Werbeblöcke gelten als die Teuersten im Fernsehen.
Anders als Brecht wird man ja gegen regelmäßige Körperbewegung als Übung der Gesundheitspflege nichts einwenden wollen, ob sie nun „Sport“ nennt oder nicht. Mir persönlich liegt – darüber hinaus und auch gegen Brecht – intellektuell wie existential daran, den Sport als Bezugspunkt ästhetischer Erfahrung verfolgen und genießen zu können. Und wenn man schließlich – wohl im Sinn der heutigen Alltagssprache – Sport definiert als Performanz, die sich innerhalb von Regel-geleiteten Choreographien vollzieht und unter einer Motivationsstruktur, in der Agon und Arete oszillieren (das gewinnen-Wollen und das beständige sich verbessern-Wollen), dann wird sofort deutlich, dass zu vielen, zu den meisten Sportarten möglicherweise weder Gewalt noch Todesgefahr als notwendige Dimensionen gehören. Das trifft unter anderem auf die Leichtathletik zu, auf das Schwimmen, das Turnen und auf fast alle Mannschaftssportarten. Da Sport als eine Form von Performanz das menschliche Verhalten prinzipiell unter Betonung des Körpers inszeniert, ist Gewalt zwar als Möglichkeit hier immer im Spiel, doch zugleich durch die Regeln der meisten Sportarten von vornherein ausgeschlossen.
Im Hinblick auf das Boxen (und einige unter dieser Perspektive mit ihm verwandte Sportarten) allerdings trifft der Kern von Brechts Provokation, glaube ich, ins Schwarze. Gewiss, der Vergleich liegt schief, nach dem Schlägereien an „einer Straßenecke“ oder „in einem Lokal“ gleichsam die Urform des Boxens sein sollen — denn Schlägereien sind weder durch Regeln strukturiert noch durch die Oszillation zwischen Agon und Arete motiviert. Aber ich halte die Intuition für zutreffend, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich offenen Auges der Gefahr von Gewalt und das heißt immer auch: der Gefahr des Todes auszusetzen, die existentielle Faszination des Boxens ausmacht. Eine solche Faszination nun wird in der Tat durch das Punktrichtersystem und durch die Möglichkeit von Kämpfen, die „unentschieden“ enden, reduziert, tendenziell vielleicht sogar gelöscht. Das gilt nicht allein für die Boxer selbst, sondern auch für ihre Zuschauer. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass sadistische Energien, das heißt: die Freuden am Schmerz der anderen, für manche Zuschauer primär sind. Doch seit der Antike gibt es eine Tradition der Teilnahme und Bewunderung für den, der es aus eigenen Stücken wagt, sich der Gefahr von Gewalt und Tod auszusetzen. In der römischen Antike stand diese Art der Bewunderung im Zentrum dessen, was wir in jener Kultur „Sport“ nennen können — nicht umsonst hat der Kirchenvater Tertullian die Existenz von Athleten in der Arena als Bild für die Herausforderungen eines christlichen Lebens (nicht allein als Bild für das Schicksal von Märtyrern) verwendet.
Aber trotz aller Vorwürfe, die man dem Boxen machen kann, geht es immer noch brutaler im "Vollkontaktwettkampf": "Mixed Marterial Arts" mischt Schläge und Tritte verschiedener Kampfsportarten. Auch im Bodenkampf wird weiter getreten und geschlagen. Im Deutschen Fernsehen herrscht daher Sende-Verbot für MMA-Profikämpfe.
Noch vor zwei oder drei Jahrzehnten wäre hier der „problematisierende“ Einwand fällig gewesen, dass jede Faszination der Konfrontation mit Gewalt und Tod eine einseitig männliche Leidenschaft sei. Mittlerweile ist diesem Argument wohl durch die wachsende Beliebtheit des Frauen-Boxens etwas der Wind aus den Segeln genommen – ganz abgesehen von der problematischen Implikation einer scharf binären Unterscheidung zwischen den Geschlechtern. Andererseits leben wir nicht in der Antike, deren Kulturen jener Gewalt- und Todes-Faszination eine Vielzahl von Ritualen bereitstellte, sondern in einer Gegenwart, welche das unmittelbare Erleben von Gewalt und Tod auf ein Minimum zu reduzieren versucht. Sollten „sozial verantwortungsvolle“ Sportverbände und der ohnehin fast immer fürsorgliche Staat also nicht im Bewusstsein solcher Geschichtlichkeit, durch Verbote und Gesetze ihre Bürger gegen sich selbst, das heißt: gegen ihre mögliche Macht- und Todes-Faszination und die damit verbundenen Risiken schützen?
Nichts irritiert mich persönlich mehr als die Anmaßung von Institutionen, Glücksbedingungen für mein Leben festzuschreiben — deshalb bin ich Amerikaner geworden. Doch wer heute in Europa einen möglichst weit gehenden Verbots-Vorschlag für das Boxen (und wohl auch das Ringen) machte, der fände sicher massive Zustimmung. Wäre es aber dann nicht konsequent, all jene Sportarten in Frage zu stellen, für die ein ähnliches Gesundheits- oder Lebens-Risiko unvermeidlich ist, obwohl ihr gesellschaftliches Ansehen — derzeit wenigstens — weit über dem des Boxens liegt? Sollten dann nicht auch einige Sportarten ohne primäre Konfrontation der Athleten verboten oder zumindest in Frage gestellt werden, wie der Motor-Rennsport, alle Ski-Sportarten außer dem Langlauf, das Etappenradfahren und, weil wir schon dabei sind, unter den Mannschaftssportarten mindestens Rugby und American Football, wo es ja explizit, konsensuell und im Rahmen gewisser Regeln um einen intelligenten Gebrauch von Gewalt geht? Und wie steht es mit dem Bergsteigen? Ab einem bestimmten Schwierigkeitsgrad, stelle ich mir vor, muss die Unfall- und Todesgefahr dort unvergleichlich höher sein als in irgendeiner anderen Sportart – was vermuten lässt, dass dieser Sport deshalb nie in die Schusslinien sozialfürsorglicher Sorge gerät, weil es dort vor allem um Selbst-Überwindung und Selbst-Steigerung geht — nicht um einen Sieg über (sportliche) Gegner.
Boxen dient aber nicht automatisch Show-Zwecken, sondern hilft auch bei der Selbstverteidigung oder dem Ablassen von aufgestockten Emotionen. Und so zählen Sandsäcke und "Punching Balls" noch immer zu den beliebtesten Sportartikeln.
Vergangenes Jahr waren wir zuletzt im Yosemite National Park, dessen senkrechte Felswände zu einem Eldorado für Bergsteiger geworden sind. Sonntagmorgens beim Frühstück saßen Ricky und ich in der ziemlich rustikalen Cafeteria neben einem Tisch mit zwei jungen, kinderreichen Familien. Die beiden Kinder in Säuglingsalter wurden von ihren Müttern gestillt. Dann entdeckte ich Seile und Steigeisen unter den Bänken, wo die Männer und Väter saßen – und fand mich plötzlich in jener emotional erhitzten Situation, die mir von Box-Gegnern vertraut ist. Ähnlich wie sie fand ich es ganz unerträglich, dass sich junge Väter mit so vielen Kindern dem Risiko des Bergsteigens aussetzen wollten. Ich war empört – und wollte empört sein. „Du ausgerechnet, als Box-Fan“, sagte meine Frau bloß, eher ironisch als vorwurfsvoll. Und das brachte mich auf den Gedanken und auf die Frage, ob sich unsere Kulturen am Ende nicht übernehmen mit ihrer immer radikaleren Todes-, Gewalt- und Gefahren-Phobie. In den Choreographien des Sports, nicht aller Sportarten selbstverständlich, haben die Körper, die Gewalt und der Tod einen Ort – gesucht und – gefunden.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Sophie Merlo / flickr.com
Bilder im Text: Jörg Kolbe, SB68Manm / Wikimedia Commons
Chris Sgaraglino, Henning Welslau / flickr.com
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm | Redaktion