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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Das Essen schmeckte so unspezifisch „international“ wie immer in den „Food Courts“, jenen Konvergenz-Zonen von Filialen der beliebtesten Fast Food-Marken, zum Beispiel dem international-chinesischen „Panda“, dem international-mexikanischen „Chipotle“, der fast-nicht-mehr-italienischen „Round Table Pizza“ und dem zuverlässig amerikanischen „McDonalds“, wie sie sich in den letzten Jahren schnell zum Passagier-pulsierenden Herz der großen amerikanischen Flughäfen entwickelt haben. Ich saß zu nah bei den „Panda“-Gerüchen, um das Mexikanische am „Chipotle“-Burrito noch zu schmecken und war denkbar schlecht gelaunt, schon bevor mich die Ansage überfiel, dass der Flug von Houston nach Sao Paulo mit zwei Stunden Verspätung starten sollte.
Am Tisch nebenan sah ich, zwischen wuchtigen Handgepäck-Stücken wie im Hof einer kleinen Burg und für einen Moment anscheinend ohne Eltern, vier Mädchen zwischen drei und zehn Jahren vielleicht, die mit amerikanischem Akzent sprachen und immer wieder die Namen „Lagos“ und „Nigeria“ erwähnten. Die beiden älteren Mädchen schnitten und brachen ihre Pizza-Scheiben in kleine Stücke und schoben sie in den Mund der jüngeren Schwestern, die ebenso hungrig wie artig kauten und schluckten, ohne dass es Streit gab. Eine Ess-Maschine, dachte ich, jedes der vier Mädchen ist nichts als seine Bewegung, ohne zu ahnen, wie richtig und vollkommen sie aussieht. Ich vergaß den internationalen „Panda“-Geruch, bis die Pizza nebenan in den Mündern verschwunden war — und dann stellte ich mir vor, dass mein faszinierter Blick schon Anstoß erregt haben könnte.
Was mich gefreut hatte und kurz die miese Laune vertrieb, war eine Szene der Anmut. Bewegungen, die schön aussahen, ohne der Ausdruck von Schönheits-Absichten zu sein. Wahrscheinlich dachten die größeren Schwestern nicht einmal daran, dass sie ihre kleineren Schwestern gut versorgen wollten. Deswegen war mir der Gedanke von der „Ess-Maschine“ gekommen, und aus demselben Grund hatte Heinrich von Kleist Marionetten beschrieben, um zu erklären, was Anmut sei. Niemand kann Marionetten eine Absicht unterstellen, sie drücken nichts aus, die Anmut steckt an der richtigen Stelle der Körper (nicht gerade „im Ellenbogen“), wie Kleist sagte. Ein Teil ihrer Anmut ist für Kleist auch das Schweben der Marionetten, das Schweben zwischen der Schwere der Erdanziehung und den Drähten, mit denen der Puppenspieler sie hält und bewegt. Denn das Schweben erinnert daran, dass Momente der Anmut immer prekär und am Rande des Umkippens sind, dass sie zuende gehen, wenn die Pizza aufgegessen ist und die Eltern zurückkommen — oder wenn die Mädchen älter werden und an den Reaktionen der anderen entdecken, wie schön sie sind. Früher hieß es, dass zur Anmut Unschuld gehöre, und auch heute wird kein Erwachsener je anmutig sein. Erwachsene können zum Beispiel Eleganz durch den ganz bewusst geweckten Eindruck steigern, dass sie an Eleganz nicht denken (die Italiener haben für dieses Paradox das Wort „sprezzatura“), und Menschen im hohen Alter können Würde zeigen, indem sie wachsende Gebrechlichkeit ohne Klage verkörpern und weder zu verbergen noch herauszustellen suchen.
Doch die Anmut gehört allein der Jugend – deutlicher noch: sie gehört der Jugend auf Distanz von den Erwachsenen. Deshalb befürchte ich, dass die Anmut aus einer Welt verschwinden wird, in der sich die demographische Proportion zwischen Kindern und Erwachsenen drastisch verschiebt, bis hin zur ein-Kind-Familie als gegenwärtigem europäischem Normalfall. Eltern haben nun mehr als genug Zeit, um jeden Schritt ihres einen Kinds zu begleiten, zu organisieren und zu bewachen. Fast nichts mehr kann einfach – und anmutig – geschehen, wie der Moment am Food-Court in Houston. Die schlimmste von allen Reality-Shows (falls der Gattungsname überhaupt so weit reicht) im amerikanischen Fernsehen, „Toddlers and Tiaras“, gehört ehrgeizigen Müttern – nach meinem kalifornischen Vorurteil: fast immer texanischen und massiv übergewichtigen Müttern – die ihre Töchter (und manchmal auch Söhne) zwischen drei und sechs Jahren für Schönheitswettbewerbe ausstaffieren, schminken und frisieren (lassen) wie Puppen – oder wie Hunde, deren Anmut ja auch unter dem entsprechenden Aufwand verschwindet, wenn sie für Ausstellungen herausgeputzt werden. Würde man das erstaunliche Ritual von „Toddlers and Tiaras“ sozialpsychologisch dokumentieren und untersuchen, dann stellte sich wohl heraus, dass es ein Hobby einkommensstarker und bildungsschwacher Familien ist. Eine solche Einordnung wäre dann auch geeignet, meinen Worten etwas von ihrer aggressiven Herablassung zu nehmen. Denn es gibt ja – innerhalb ähnlicher demographischer Strukturen und Proportionen – durchaus äquivalente Phänomene bei den bildungsstarken und tendenziell eher einkommensschwachen Schichten, zu denen ich selbst gehöre.
Das sind vor allem jene Helikopter-Eltern, die sich als Manager, Rechtsbeistand und – was sich wohl noch traumatischer auswirkt – als „Freunde“ ihres Kindes verstehen und jeden Moment seines Lebens im Blick auf Karriere-, Einkommens- und Glücks-Ziele „kognitiv“ durchplanen. Vor allem jene Talente werden identifiziert und gefördert, die in das Eltern-Bild vom Fortschritt der nächsten Generation passen, und jene Lehrer werden mit juristisch informierten Augen beobachtet, die einen Qualifikations-nötigen Notendurchschnitt gefährden könnten. In Deutschland vor allem – das haben empirische Untersuchungen gezeigt – führen solche aufstiegsorientierten Strategien aufs Ganze gesehen ausgerechnet zu einer erstaunlichen Konsolidierung des sozialen Status: Akademiker-Kinder werden wie ihre Eltern auf die Universität gehen, und sie werden ihnen wahrscheinlich sogar noch in der Berufswahl nachfolgen.
Für Anmut bleibt kein Spielraum in einer derart durchgearbeiteten Kindheit und Jugend, und ich vermute, dass die Opfer solcher Standard-Erziehung zu der erstaunlich großen und immer noch wachsenden Zahl der Leser von Selbsthilfe-Büchern werden. Die Unfähigkeit, etwas geschehen zu lassen, ja die Angst davor, bildet eine Lebensform aus, in der selbst Entscheidungen mit durchaus unwesentlichen Folgen ausführlich und in Alternativen durchgedacht werden. Mein liebstes Werk dieser Gattung gibt Antworten auf die Frage „Wie kann ich helfen?“, stellt den Lesern am Ende zehn weiße Seiten für „private Notizen“ zur Verfügung – und nimmt allen Gesten von Freundlichkeit und Großzügigkeit jene Aura des Charmes, die sie eigentlich ausmacht.
Das ist auch eine Welt, in der sich – als Folge von Über-Rationalisierung – niemand mehr verlieben kann. Der Moment des ersten Verliebt-Seins mag früher oft der letzte Akt von Anmut im Leben gewesen sein, denn er war die Bereitschaft, etwas geschehen zu lassen, überwältigt zu werden und die Intensität des Lebens ohne Akt einer Wahl zu spüren. „I am not ready“ heißt dagegen der Satz, der heute in der amerikanischen Gesellschaft zumindest immer mehr das Verlieben ersetzt. Man blockiert das Geschehen-Lassen mit einer Art von psychologischer Check-Liste und vertraut sich den kassenärztlichen empfohlenen Therapeuten an oder den Websites der Partnervermittlung.
Ist aus dieser Welt der Helikopter-Eltern und der von ihnen durchgesetzten Lebensform, ist aus dieser Welt, die ja auch aussieht wie eine überdrehte Erfüllung des Aufklärungs-Traums von der Erziehung als Medium kollektiver und individueller Menschenverbesserung, ist aus dieser Welt die Anmut verschwunden? Vielleicht bin ich nur zu alt geworden, um neue Gesten der Anmut wahrzunehmen, die so sehr der Jugend gehört. Vielleicht braucht Anmut auch prinzipiell einen Hintergrund von Intentionalität und Reflexion, vor dem sie erst wie eine Marionette oder eine Maschine wirken kann — und uns Erwachsene erfreut.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Jack Devant / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: Ethan / flickr.com (CC BY 2.0)
Jennifer Marie Puglia / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
J. Rob McCullough / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm