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Heribert Dieter wurde geboren 1961 und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er lehrt seit dem Fall Semester 2009 an der Zeppelin Universität. Dieter studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Keine Frage: Die internationale Handelspolitik ist in eine Sackgasse geraten. Für die Doha-Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO bestehen kaum noch Erfolgschancen. Auch die Gespräche über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA kommen nicht voran und treffen auf massive Widerstände in der Öffentlichkeit. Es besteht die Gefahr, dass die großen Wirtschaftsmächte gleich mehrere handelspolitische Scherbenhaufen produzieren und enormes Wachstumspotenzial verschenken. Daher macht es Sinn, nun über „Second-best-Lösungen“ nachzudenken. Als Alternative zu TTIP etwa könnten EU und USA auf eine konventionelle Strategie setzen – und unilateral Handelshemmnisse abbauen.
Besonders gut geeignet dafür ist die Automobilindustrie. Die USA erheben seit über 50 Jahren einen hohen Zoll von 25 Prozent auf sogenannte leichte Lastwagen, während bei Personenwagen nur ein geringer Zoll von 2,5 Prozent anfällt. Pro Jahr werden etwa acht Millionen „light trucks“, mehr als die Hälfte des gesamten Fahrzeugmarktes, in den USA neu zugelassen. Ein Import in diesem Segment aus Europa oder Asien findet wegen des hohen Zolls so gut wie nicht statt.
Der Zoll existiert seit dem deutsch-amerikanischen „Hähnchenkrieg“ der frühen Sechzigerjahre. Deutschland hatte damals den Zoll auf den Import von gefrorenem Hühnerfleisch aus den USA erhöht. Dagegen klagten die USA erfolgreich vor dem Schiedsgericht des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt). Am 4. Dezember 1963 erhöhte Präsident Johnson in einer Vergeltungsmaßnahme den Zoll auf leichte Lastwagen von 8,5 auf 25 Prozent – und auf diesem Niveau liegt er bis heute.
Die EU ihrerseits erhebt einen einheitlichen Zollsatz von zehn Prozent auf Personen- und leichte Lastwagen. Aber auch dieses Niveau ist unangemessen hoch für eine reife und wettbewerbsfähige Industrie. Die europäische Automobilindustrie benötigt keinen Schutz vor ausländischer Konkurrenz. 2013 exportierten die europäischen Hersteller Personenwagen im Wert von 112 Milliarden Euro, während die Fahrzeugimporte lediglich 23,8 Milliarden Euro ausmachten. Auch im Handel mit den USA zeigten sich die Europäer überlegen: Exporten im Wert von 28 Milliarden Euro standen Importe von 4, 4 Milliarden gegenüber.
Eine Branche, die einen Handelsbilanzüberschuss von rund 90 Milliarden Euro erwirtschaftet, kann stärkeren Wettbewerb vertragen. Zudem dürfte der politische Widerstand gegen eine Zollsenkung in Europa heute geringer ausfallen als noch vor wenigen Jahren. Italien und Frankreich, traditionell Befürworter einer protektionistischen Handelspolitik, haben kaum noch Argumente gegen eine Liberalisierung des Handels im Automobilsektor.
Deutsche Hersteller, die vergangenes Jahr 5,6 Millionen Pkw in Deutschland und weitere 8,5 Millionen im Ausland produzierten, würden von der Abschaffung der EU-Zölle erheblich profitieren. Zahlreiche in Europa verkaufte Fahrzeuge von BMW, Mercedes und VW werden in den USA oder Mexiko hergestellt. Nahezu alle Geländewagen von BMW und Mercedes etwa werden in Alabama oder South Carolina montiert. Der zehnprozentige Zoll fällt bei diesen hochpreisigen Fahrzeugen ins Gewicht. Heute zahlen deutsche Hersteller im transatlantischen Handel pro Jahr etwa eine Milliarde Euro an Zöllen, davon 600 Millionen Euro in den USA.
Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks sollten sich den Nutzen handelspolitischer Liberalisierung wieder vor Augen führen. Zwar droht der EU der Verlust von Zolleinnahmen: Sie kassiert aktuell pro Jahr etwa 21 Milliarden Euro an den Grenzen, wovon etwa zehn Prozent auf Autoimporte entfallen. Verbraucher würden jedoch von niedrigeren Preisen profitieren, und leistungsfähige Hersteller würden gedeihen. Die USA müssten bei einer Senkung des Zolls auf leichte Lastwagen noch nicht mal auf nennenswerte Einnahmen verzichten, während US-Autokäufer künftig die Auswahl unter Anbietern aus Europa, Asien und den USA hätten.
Eine Initiative der EU und der USA zur unilateralen Liberalisierung – unabhängig von Doha und TTIP – würde die Führungsrolle dieser beiden wirtschaftlichen Schwergewichte unterstreichen. Die USA, die während der Doha-Runde die Reduzierung sämtlicher Zölle für Industriegüter auf null vorgeschlagen haben, könnten beweisen, dass ihre Verhandlungsposition nicht nur ein Bluff war. Die EU mit ihrer wettbewerbsfähigen Automobilindustrie sollte ihrerseits zeigen, dass schärferer Wettbewerb nicht nur für Entwicklungs- und Schwellenländer ein gutes Rezept ist – und den Zoll auf Fahrzeugimporte vollständig abschaffen. Beide Maßnahmen könnten innerhalb weniger Wochen umgesetzt werden; unilaterale Liberalisierung ist eben ohne langwierige internationale Verhandlungen möglich. Brüssel und Washington können hier ein handelspolitisches Zeichen setzen.
Der Artikel ist in der WirtschaftsWoche Nr. 41 vom 06.10.2014 erschienen.
Titelbild: Bilderandi / pixbay.com
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Beitrag (redaktionell unverändert): PD Dr. Herbibert Dieter
Redaktionelle Bearbeitung: Florian Gehm und Alina Zimmermann