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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Ein stilbewusster Intellektueller, zumal ein stilbewusster akademischer Intellektueller (wenn man den Begriff trotz seiner potentiellen Widersprüche stehen lassen will), wird sich den Gebrauch des Wortes „global“ eher verbitten. Denn die Rede vom „Globalen“ fällt sofort unter den Brennstrahl einer Kritik, die schon immer zum Pflicht-Repertoire der Intellektuellen gehört hat, aber seit den späten achtziger und frühen neunziger Jahren, seit jener jüngeren Vergangenheit, die nichts für so überlebenswichtig hielt wie „kulturelle Identitäten“, unnachgiebiger und lauter denn je geworden ist. Dass jeder Begriffsgebrauch Unterschiede zwischen den Phänomenen verwischt, auf die er sich bezieht, ist als Vorbehalt und Warnung so alt ist wie die Texte, die wir gerne „philosophisch“ nennen – Lichtenberg zum Beispiel wurde in seinen „Sudelbüchern“ nicht müde, immer wieder an solche Ungenauigkeiten der Sprache gegenüber der Welt der Dinge zu erinnern.
In der Hoch-Zeit der kulturellen Identitäten lud sich dann ein bis dahin nur mitlaufendes skeptisches Raunen moralisch zu dem Vorwurf auf, dass viele unserer zentralen Begriffe – je inhaltlich breiter desto skandalöser – die Identität von Minderheiten nicht hinreichend berücksichtigen und also beschädigen. Soweit ging diese Differenzierungs-Vigilanz, dass eine ganz Reihe von Wörtern tatsächlich „ausgemerzt“ wurden (wie man der Zeit nationalsozialistischer Sprachpolitik gesagt hätte). Vollkommen konsequent wäre freilich allein eine Reaktion gewesen, die den Gebrauch von Sprache überhaupt verboten hätte, denn es kann ja – nach ihrer Natur und Funktion – keine Begriffe geben, die nicht Unterschiede verwischen, sie nicht – so heißt das stets kritisch gemeinte Verb – „totalisieren“.
Das Wort „Globalisierung“ tauchte nun, wenn ich mich recht erinnere, ausgerechnet in jenem Moment der Geschichte auf, wo nichts moralisch frevelhafter wirkte als eben das „Totalisieren“. Indirekt kam es wohl aus der Implosion des Staats-Sozialismus als jenem politischen und ideologischen System, dessen Konkurrenz mit dem Kapitalismus den Kalten Krieg befeuert hatte. Solange Ideen, Werte und zahllose Phänomene stets vorab entweder als „sozialistisch“ oder als „kapitalistisch“ zu identifizieren waren, kam der sprachliche Ausgriff aufs „Globale“ niemandem in den Sinn. Und als er sich dann, plötzlich fast, nach dem Ende des Kalten Krieges anbot, da stieß er nicht nur auf den moralischen Widerstand von Minoritäten-Beschützern, sondern war Teil einer tatsächlich problematischen Totalisierung.
Dabei haben die Begriffe des „Globalen“ (für eine Struktur) und der „Globalisierung“ (für einen Prozess) durchaus das Potential, Grundformen – vielleicht sogar zentrale Form – unserer Gegenwart zu beschreiben, wenn man sich nur die gar nicht so große Mühe einer Differenzierung macht. „Global“, ließe sich vorschlagen, sind im wörtlichen Sinn welt- und menschheitsumspannende Phänomene, die gleichwohl nicht alle heute lebenden Menschen betreffen und einschließen. Dann bezieht sich das Wort also auf Phänomene und Situationen, die für die meisten – aber eben nicht für alle — Zeitgenossen eine Rolle spielen. Vom Totalisierungsvorwurf ist „Globalisierung“ ausgenommen, sobald sich genau angeben lässt, worauf sich das Wort“ nicht beziehen soll oder was (ohne Wertungsimplikationen) „marginal“ oder „peripher“ erscheint.
Es gibt in dieser Hinsicht sehr verschiedene Dimensionen des nicht-globalen Peripheren und Marginalen. Nordkorea und Kuba etwa muss man hier nennen, als Staaten und Gesellschaften, denen es nach 1989 gelungen ist, an der orthodoxen Form des Staatssozialismus (beinahe ohne Zugeständnisse gegenüber dem Kapitalismus als Sieger im Kalten Krieg) festzuhalten, und die deshalb zur Abschottung gegenüber ihrer globalen Umwelt neigen. Solche ideologisch begründete Fälle der Abschottung unterscheiden sich, graduell zumindest, von Systemen oder Nationen wie Burma, deren Schließung offenbar der Kontinuität lokaler Machtstrukturen dient. Die beiden genannten Typen der Marginalität sind wiederum grundsätzlich verschieden von Zonen unseres Planeten, bis zu denen bestimmte, heute „global“ selbstverständlich gewordene Technologien und Formen der sozialen Organisation noch nicht vorgedrungen sind. Dies scheint auf einige Regionen von Madagaskar zuzutreffen und (zumindest aus der romantisch gestimmten und politisch einflussreichen Perspektive der Anthropologie in Brasilien) auch auf Gebiete des Bundesstaats Amazonien.
So zeichnet sich eine intern heterogene Peripherie ab, deren einzig wirklich gemeinsamer Nenner in der jeweiligen Distanz zu dem einen Syndrom von „globalen“ Strukturen und Gegebenheiten liegt. Doch was könnte nun – unterschieden von der Peripherie — ein nicht totalisierender Begriff des Globalen sein? Die am deutlichsten optimistische Antwort auf diese Frage macht das Globale zum Ergebnis des von Europa ausgehenden, fortgesetzten und angeblich noch nicht an sein Ende gelangten „Prozesses der Aufklärung“. Allerdings sind die Konsequenzen eines solchen Verständnisses strukturell kaum verschieden von den Ideologien aus der großen Zeit des Imperialismus, als „Britannien über die Wellen der Weltmeere regieren“ und „Deutschland die Welt an seinem Wesen genesen“ lassen wollte. Alle Bewohner von Madagaskar und Amazonien wären dann vom Prozess (oder wie Jürgen Habermas sagen würde: vom „Projekt“) der Aufklärung mit den Segnungen der neuesten Technologien zu beglücken (in der friedlichst denkbaren Weise natürlich), während auf Burma oder in der Volksrepublik China etwa moralischer Druck zur Herstellung parlamentarisch-demokratischer Institutionen ausgeübt werden müsste.
Mögliche Argumente oder Erfahrungen, die in Frage stellen könnten, dass einer Mehrheit chinesischer Bürger nach der Kapitalisierung der nationalen Wirtschaft nun auch an „westlichen Verhältnissen“ in der Politik gelegen sei, dürfen in diesem Kontext keine Geltung haben, da der Prozess der Aufklärung sich selbst und seine Werte ausschließlich und normativ setzt. Die meisten Intellektuellen unser Gegenwart, glaube ich, haben wahre Phobien gegen Totalisierung als Verwischung von Phänomen-Differenzen entwickelt, ohne mit der Absolut-Setzung westlicher Moral-Werte auch nur das geringste Problem zu haben (aus ihrer Sicht ist das einzig denkbare Problem in diesem Zusammenhang jede Verzögerung bei der Herstellung einer politisch korrekten Welt).
Wer die Normativität von Aufklärungs-Werten im Kern eines nicht-totalisierenden Begriffs von Globalisierung vermeiden will, der muss also versuchen, Aufklärung als Struktur und als Prozess aus einer anderen Perspektive zu sehen. Wenn aus diesem Grund noch einmal auf die Kulturen und Nationen an der Peripherie des Planeten (und des Globalen) blickt, dann fällt auf, dass sie sich – aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Intensitätsgraden – auf Distanz zu den elektronischen und vor-elektronischen Netzwerken der Kommunikation befinden. Vielfache Nachrichten über die Ambivalenzen des chinesischen Staats in dieser Hinsicht haben sich längst zu einer Fortsetzungsgeschichte der politischen Berichterstattung zusammengefügt, und eine konvergierende Geschichte aus strukturell ähnlichen Ambivalenzen hat nun auch in Nordkorea eingesetzt. Aus ganz anderen Gründen, nehme ich an, würde es sich wohl als schwierig erweisen, bestimmte Regionen Madagaskars und Amazoniens mit dem Handy zu erreichen.
Dieser auf weitreichende, aber nicht den gesamten Planeten abdeckende Kommunikations-Netzwerke fokussierte Begriff der „Globalisierung“ ist empirisch in doppelter Hinsicht: er soll nicht nur normative Implikationen ausschließen, sondern auch theoretische Setzungen, welche intern unbegründbar bleiben (wie zum Beispiel die Prämisse der soziologischen Systemtheorie, dass jede Gesellschaft – und letztlich die ganze Welt – ein Kommunikations-System sei). Das real existierende Globale hat seine Basis in technologischen Kommunikationsstrukturen, ist aber gewiss nicht auf ihre Materialität beschränkt und auf die Kompetenz, sie zu bedienen. Zu dieser Kompetenz gehört ja etwa ein bestimmtes Kompetenzprofil im Gebrauch der englischen Sprache – die hier einmal nicht (wie „kritische“ Intellektuelle einzuwerfen sich früher verpflichtet gefühlt hätten) als ein Instrument hegemonialer Unterwerfung funktioniert, sondern als ein Medium, das wohl einfach leichter zugänglich ist als andere Sprachen mit einer großen Anzahl von Sprechern. An die elektronische Kompetenz und den Gebrauch der englischen Sprache schließen sich neue, „global“ voraussetzbare Wissensstrukturen an (die im Detail wohl noch nie beschrieben worden sind) und daneben auch bestimmte Höflichkeitsregeln (man verfügt etwa über ein Repertoire erwartbarer Komplimente) und sogar ein gewisser Ton harmlosen Humors (es ist „global“ zulässig und erwartbar, in einer E-Mail ironische Bemerkungen über die elektronisch mitlaufende Rechtschreibkontrolle („spell check“) zu machen). Vor allem aber sind auf der Basis der elektronischen Netzwerke vielfache Beziehungen des wirtschaftlichen Austauschs — und vielerlei Waren — global verfügbar geworden.
In weniger als zwei Jahrzehnten hat „Globalisierung“ als eine Kommunikationsform, in der wir uns lebenslang aufhalten können, weil sie eine früher undenkbare Vielfalt der Kontakte und der Wissensbestände zur Verfügung stellt, noch eine ganz andere Entwicklung im Prozess der Aufklärung zu einem kaum mehr überbietbaren Extrempunkt geführt. Im Sinn jenes berühmten Mottos aus dem siebzehnten Jahrhunderts „ich denke, also bin ich,“ sind wir ausschließlicher bewusstseinsorientiert, ausschließlicher „cartesianisch“ geworden als dies je zuvor der Fall war. Diese Reduktion auf das Elementare in der menschlichen Existenz geht einher mit einer Nivellierung kultureller (und vielleicht sogar individual-psychischer) Unterschiede. Deshalb sind wir so (angenehm oder unangenehm) überrascht, wenn wir nach langen und stromlinien-funktionalen Sequenzen elektronischer Kommunikation zum ersten Mal den Umriss eines individuellen Körpers und die Züge eines individuellen Gesichts mit einem bestimmten, längst zur Gewohnheit gewordenen Gestus des Schreibens verbinden können.
Die Energien verschiedener Gegenbewegungen sind uns vertraut und zwar so deutlich, dass wir wohl auch sie zum Begriff des „Globalen“ rechnen sollten. Auf die Einklammerung unserer Körper in der elektronischen Kommunikation haben wir mit der „Wiederentdeckung“ des Körpers, mit einer neuen „Sehnsucht“ nach Körpern reagiert — und auch mit einer neuen Körper-Selbstbewusstheit, welche sichtbar und bis heute bestimmte Segmente der Produktion und des Marktes, zum Beispiel die Modeindustrie, stimuliert. Dabei zeigt sich einerseits — als Gegeneffekt zum Nivellierungstrend der Globalisierung – ein neues Bestehen auf Differenzen, paradoxal gesagt: globale Trends der Ent-Globalisierung oder Regionalisierung. Regionale Kleidungskonventionen (vor allem in den islamischen Nationen), regionale Gastronomien (vor allem von der Peripherie Europas) und regionale Formen und Farben des Designs (etwa in Südamerika) wären ohne Globalisierung als Herausforderung wohl nie mit der gegenwärtigen Intensität wiederauferstanden (und zum Impuls neuer Industrien geworden). In den meisten Fällen freilich stehen solche regionale Formen neben der — alltäglich ganz neutral-funktionalen — westlichen Tradition.
Möglicherweise heißt „global“ also vor allem, sein Erwachsenen-Leben im Wechsel zwischen zwei kulturellen Schichten und Repertoires zu verbringen, der westlichen und einer „eigenen“.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Daniela Hartmann /flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: „Bundesarchiv Bild 102-17049, Joseph Goebbels
spricht“ von Bundesarchiv, Bild 102-17049 / Georg Pahl /
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European Parliament / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann