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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Der Vater meiner Mutter starb im Sommer 1958, er muss einundsechzig oder zweiundsechzig Jahre alt geworden sein, und niemand ist mehr am Leben, den ich fragen könnte, wann genau er geboren war. Auf den Photographien aus der späteren Zeit seines Lebens scheint er ein Alter zu haben, das es heute nicht mehr gibt. Fast all diese Bilder waren “mit einem Glas in der Hand” während seiner Kuraufenthalte in Bad Wildungen von einem Photographen gemacht worden, dessen Name in den Karton eingedrückt ist, und sie zeigen einen Mann, der gut ausgeschlafen und doch endgültig erschöpft aussieht, etwas übergewichtig in den grauen Anzügen (mit Hut, Hemd und Krawatte), die trotzdem fast locker sitzen, weil sie auf einen noch massiveren Körper hatten passen sollen. Der Schritt meines Großvaters wirkt fest, und das Gesicht hat nur wenige Falten, doch es ist das Gesicht eines Manns, der sich im Alter als Lebensform eingerichtet hatte, ohne Resignation und mit einer absoluten Angst vor dem eigenen Tod. Ich kann mich erinnern, dass er uns alle immer wieder bat, das Wort “Tod” nie in seiner Gegenwart zu benutzen, und auch, wie er mir für einige Zeit fehlte nach seinem Tod. Denn ich hing an meinem Großvater, auch wenn es vielleicht nur der Stolz auf seinen schwarzen Opel Kapitän mit Weißwandreifen und der roten (wie man damals sagte) “Schnauze” war. Deshalb hätte ich am liebsten weggehört, als seine Freunde bei der Beerdigung sagten, es sei wohl besser für ihn, nicht mehr mit dem Asthma und dem Herzleiden kämpfen zu müssen, welche, wollten meine Eltern als die Ärzte in der Familie wissen, eine Folge von vier kalten Wintern in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs waren. Niemand erwähnte damals, dass mein Großvater seine “Geschäfte” (ich weiß von einem mittelgroßen Hotel, mehreren Bierkneipen und einer ländlichen Schapsfabrik) noch einigermaßen fest in der Hand hatte, als das Herz zu schlagen aufhörte.
Mein Vater war fünfundachtzig Jahre alt, als er 2005 starb, an einer sich langsam und wie systematisch entwickelnden Krankheit, die ihn am Ende ersticken ließ. Anders als sein Schwiegervater, den auch er gemocht und sogar bewundert hatte, war mein Vater zum fünfundsechzigsten Geburtstag in den vertraglich festgeschriebenen und (wie es in der Lokalzeitung natürlich hieß) “wohlverdienten” Ruhestand getreten, so dass noch zwei Jahrzehnte vor ihm lagen, um ausführlich an der Krankheit zu leiden und wohl auch an Unterbeschäftigung, die er täglich mit einer Vielfalt von Aktivitäten ohne Fluchtpunkt unsichtbar machen wollte. Einmal hörte ich, dass mein Vater auf den beiden Friedhöfen unserer Heimatstadt zu Beerdigungen von Mitbürgern ging, die er nur vage oder überhaupt nicht gekannt hatte, um unaufgefordert eher ausführliche Reden an ihrem Grab zu halten. Manchmal kaufte er – wohl auch aus Langeweile – teure italienische Anzüge, Krawatten und Schuhe in dem einen “exklusiven Herrenmode-Geschäft,” das er kannte, und dabei kam ein erstaunlich sicherer Geschmack zum Vorschein, obwohl er die Anzüge kaum trug. Jugendlich aussehen zu wollen, vielleicht sogar etwas sonnengebräunt, war meinem Vater nicht fremd.
Zwischen heute Nachmittag und dem Termin in zwei Wochen, an dem der nächste Blog fertig sein soll, wird mein Geburtstag liegen, an dem ich, sagt meine Frau zurecht, in kindlicher Weise hänge (denn ich erinnere mich allzu gerne an den übersüßen Geschmack der Ananasschnitze aus der Konservendose als meinen Kindergeburtstags-Bonus). Gestern allerdings sagte mir Dr Peschak, ein eher junger kalifornischer Zahnarzt, der in Traunstein geboren ist, dass der Ersatz von zwei Zähnen nun zum ersten Mal wirklich unvermeidbar wird — und vielleicht hat diese Neuigkeit dem anstehenden siebenundsechzigsten Geburtstag einen unerwarteten Stellenwert gegeben. Mein Großvater war ja lange vor dem siebenundsechzigsten Geburtstag gestorben, und mein Vater muss an derselben Zeitstelle wohl geahnt haben, dass er nichts mehr zu tun hatte in und mit seinem Leben. Natürlich sind einige der Kontraste zwischen den späteren Jahren meines Großvaters und Vaters und meinem eigenen Alter jetzt im Juni 2015 individuell geprägt und mithin (“in einem größeren Zusammenhang”) zufällig. Doch zugleich geben mir solche Erinnerungen an die nächsten Vorfahren — neben dem vage erhebenden und auch erschreckenden Gefühl, zwischen ihnen und meinen Enkeln in einer schier unendlich biologisch-historischen Reihe zu stehen — auch den Eindruck, dass einige Schichten des Alterns von heute historisch besonders und wahrscheinlich sogar neu sind.
Gar nicht neu ist natürlich die nach philosophischen Lektüren antrainierte Möglichkeit des Versuchs, mir meinen eigenen Tod (in seiner “Jemeinigkeit,” wie Heidegger schrieb) vorzustellen, ein Versuch, der nie aufhört, manchmal dumpfe und manchmal auch helle Angst auszulösen. Vor genau dieser Angst schützte sich mein Vater durch Friedhofs-Begeisterung und mein Großvater durch Friedhofs-Verbote. Dass ich kein Handy habe, ist wohl nur halb so heroisch (und doppelt so normal,) wie ich mir gerne einrede: in Wirklichkeit markiert elektronische Technologie in meinem Leben die erste Entwicklung, mit der ich nicht Schritt halten wollte oder konnte (aber gibt es wirklich jenen “exponentiellen” Anstieg von Schwellen dieser Art, von dem man so oft liest?). Immerhin, denke ich, hat die elektronische Technik den Entschluss ausgelöst, mir wenigstens allzu schnelle Vor-Urteile gegenüber intellektuellen Innovationen zu verbieten (auf die es in meinem Beruf ja ankommt), obwohl ich verbissene Impulse dieser Art nicht selten spüre. Aber das ging meinem Vater nicht anders mit den damals neuesten Entwicklungen in seinem Metier.
Eher historisch neu ist wohl – trotz des jüngsten Zahnarzt-Bescheids – ein mir erstaunlicher Grad von Gesundheit (den ich auch noch für unverdient halte, weil ich nie die Geduld hatte, mich darum zu kümmern): jährliche kardiologische Tests mit den bisher immer gleichen beruhigenden Ergebnissen; noch keine altersgemäß zu erwartenden (und definitiv nicht aufzuschiebenden) urologischen Beschwerden; nach dem Tod meiner Mutter in fortgeschrittener Demenz eine Sorge um das Gedächtnis, für die es heute eine “Gedächtnis-Klinik” gibt, deren beruhigende Auskunft mich von obsessiv werdenden Selbst-Experimenten erlöste. Die zentrale individuelle – und auch soziale und demographische – Veränderung sind also jene zwei oder mehr weitgehend störungsfreien Jahrzehnte, die im zum Normalfall werdenden Glücksfall heute vor einem Siebenundsechzigjährigen liegen. Zwei Standard-Reaktionen haben sich herausgebildet.
Die eine will ich (in pseudo-jugendlicher Bemühung um maximale politische Inkorrektheit) “prostatisches Glück” nennen. Es ist uns allen vertraut aus einem sich derzeit schnell entwickelnden visuellen Gestus der Werbung, der gut erhaltene Paare auf der endlich möglich gewordenen Kreuzfahrt, in schicker Freizeitkleidung oder manchmal sogar in einer sehr milden Parkbank-Version von erotischer Ekstase zeigt. Eine neue Lebensform, muss man sagen, die aus mittelfristiger volkswirtschaftlicher Perspektive nur begrüßt werden kann, so sehr sie auch die gesellschaftlichen Versorgungssysteme zukünftiger Altersgenerationen aushöhlt. Doch mein Horror vor prostatischem Glück (ist er eine heimtückische Variante der Unfähigkeit, positiv auf Innovationen zu reagieren?), der Horror vor prostatischem Glück hat wohl weniger mit der Sorge um die Zukunft meiner Enkel zu tun als mit der schon immer Ungeduld auslösenden Furcht, sich erst dann “die schönen Seiten des Lebens gönnen zu dürfen,” wenn es für Intensität zu spät geworden ist.
Die schrille und schon längst zur Zielscheibe galliger Kulturkritik gewordene Alternative konkretisiert sich im Bestehen auf fortgesetzter und in der Utopie von ewiger Jugendlichkeit (oder gar Jugend), die sich in den Vereinigten Staaten wohl besonders raumfordernd verbreiten, wo durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofs alle verbindlichen Berufs-Altersgrenzen aufgehoben sind. Angeblich erlauben sich nur zehn Prozent der Kollegen an meiner Universität den Entschluss, mit der Lehre je definitiv aufzuhören. Gegen die banale und zugleich warnende Tatsache einer unaufhaltsam wachsenden Alters-Distanz von ihren Studenten halten sie an Selbst-Einschätzungen ihres pädagogischen Charismas (und auch ihrer intellektuellen Schärfe) fest, die mich an die romantischen Lieder vom – angeblich – immer besser werdendem Wein erinnern. Aber auch die europäischen Sozialsysteme schützen nicht vor der Illusion, dass man im Pensionsalter einen geistigen Zenith erreichen kann.
Das seit zwanzig Jahren immer vertrauter werdende und immer sonorer klingende Kompliment, dass ich nicht so alt aussehen soll, wie ich “nur nach Jahren” bin, ist mir zum Überdruss geworden. Könnte es nicht ein Ziel (oder mindestens eine Möglichkeit) werden, genau so alt zu sein, wie man ist – und immer weiter wird? Ich denke an einen inzwischen verstorbenen Kollegen, der meinem Vater kurz vor dessen Tod begegnete und mir von seiner Bewunderung für ihn als einem “würdigen Greis” schrieb. Die beiden Worte wirkten schon damals exzentrisch – und snd heute dazu verdammt, als Ironie aufgefasst zu werden. Was bedeutet, dass wir uns weiter weg bewegt haben von der Vorstellbarkeit einer Lebensform, die nicht versucht, das Alter durch seine Verleugnung von sich selbst zu erlösen.
Nach einer solchen, ganz anderen Lebensform beginne ich mich zu sehnen, ohne dass ich sie mir vorstellen kann. Gibt es eine lesenswerte Form zu schreiben etwa, die allein alte Autoren erreichen können, ohne “besser” sein zu wollen? Bis vor kurzem habe ich den Begriff des “Altersstils” ausschließlich mit einem Prozess nachlassender Kraft verbunden. Vielleicht aber kann die Rede von der möglichen “Würde” des Alters in unserer Vorstellung den Platz freihalten für eine späte Phase des Lebens, die wir in der Vergangenheit und in anderen Kulturen entdecken können, ohne noch ein Äquivalent in unserer Gegenwart gesehen zu haben.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: JD Baskin / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: Public Domain (2x / ohne Urheber)
Jan Paul Arends / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
„FamiliaOjeda“ von Ojedamd - Eigenes Werk.
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Vorspann: Florian Gehm
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann