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Zeitalter der Selbstoptimierung

Embleme der Gegenwart

Trinkflaschen sind in einer Gegenwart, wo existentielle (Be)Dürftigkeit gleichbedeutend mit sozialem Verantwortungsbewusstsein geworden ist, zu einem im matten Glanz der Schadstoffarmut erstrahlenden Kondensat und Emblem unseres höchsten Wertes geworden. Und dieser Wert heißt Selbst-Erhaltung.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.  

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“Fit wie ein Turnschuh” (ältere Herren halten dieses Bild noch für beinahe hip) sah die Undergraduate Studentin aus, als sie wie vereinbart diesen Freitag Punkt acht Uhr dreißig morgens zu meinem Büro kam, um herauszufinden, ob die Teilnahme an einem Doktoranden-Seminar im Herbst über “Tod und Literatur” für sie lohnend sein könnte. Ihr Haar war noch etwas feucht vom Duschen, sie trug rote Shorts, Nikes natürlich, eine gut geschnittene graue Trainingsjacke und dazu den akademischen Rucksack, wie er jetzt flächendeckend Akten- wie alle andere Taschen ersetzt hat — und selbst den auch sehr praktischen kleinen Rollkoffer auf Popularitäts-Distanz hält. Ob sie ein Sportlerinnen-Stipendium (ein “athletic scholarship”) hätte, fragte ich, und sie sagte nein, aber gut geraten, denn während der High School-Jahre sei sie 5000 Meter gelaufen (Bestzeit um die achtzehn Minuten).

In guter Gesellschaft? Der Trend zum Rucksack scheint ungebrochen. Sind Rückenleiden - schon ab jungem Alter - doch Volkskrankheit Nummer eins. Und wenn man schon den ganzen Tag an ergonomisch ungünstigen Arbeitsplätzen verbringt, kann man ja wenigstens das Eine für seinen Rücken tun. Und dabei auch noch modern sein.
In guter Gesellschaft? Der Trend zum Rucksack scheint ungebrochen. Sind Rückenleiden - schon ab jungem Alter - doch Volkskrankheit Nummer eins. Und wenn man schon den ganzen Tag an ergonomisch ungünstigen Arbeitsplätzen verbringt, kann man ja wenigstens das Eine für seinen Rücken tun. Und dabei auch noch modern sein.
In einer wohl dafür vorgesehenen Außentasche ihres Rucksacks steckte einer jener auch ziemlich sportlichen Behälter, die man in Deutschland jetzt “Trinkflaschen” nennt, so als gäbe es nennenswerte Flaschen, die nicht zum Trinken da sind (Riechflaschen haben ja seit dem neunzehnten Jahrhundert ihre Beliebtheit verloren). Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich betonen, dass nicht jeder Trinkflüssigkeits-Behälter den Namen “Trinkflasche” verdient. Trinkflaschen, bestätigt vielfach das Web, müssen aus “umweltfreundlichem” oder “schadstoffarmem” Material sein (“Tritan” zum Beispiel, was immer das ist) und im Regelfall durchsichtig, damit man sie rechtzeitig nachfüllen kann, fast ausschließlich mit Wasser und nur ausnahmsweise einmal mit Fruchtschorle. Außerdem gehört zu ihnen eine Schlaufe, die nicht nur den (“auslaufsicheren”) Verschluss unverlierbar macht, sondern es der Besitzerin auch ermöglicht, wenn immer das Leben eine physische Herausforderung zu werden droht, die Trinkflasche durch Befestigung an der Gürtelschnalle zu einem Körperteil werden zu lassen. Dort sieht sie dann, aus ökologischer und ästhetischer Perspektive, wie ein Seitenstück der Birkenstocksandalen (eher als der Nikes) aus, auf deren flache Nüchternheit sich heute nicht wenige Existenzen gründen.

Obwohl der Hausarzt und der Kardiologe mir mindestens einmal pro Jahr und alternierend aus zweifellos guten Gründen eine Trinkflasche ans Herz und in meine über die Schulter getragene Tasche legen wollen, kann ich mich mit der Empfehlung nicht anfreunden, zumal ich in einem Land und auf einem Campus lebe, wo an jeder Ecke ein “Water Fountain” wie eine melancholische Geste der Erinnerung auf immer weniger Benutzer wartet (ob das Wasser solcher “Fountains” als minderwertig gilt, vergesse ich immer zu fragen). Meine Studentin vom Freitagmorgen hingegen verstand nicht einmal die Frage, seit wann die Trinkflasche in ihrem Rucksack steckt – derart existentiell unvordenklich ist sie ihr geworden. Im Vergleich zu ihr sehe ich mich als Romantiker einer Zeit lang vor der Trinkflaschen-Gegenwart, der seiner von schadstofffreien Körpern unmerklich angestoßenen Phantasie ihren Lauf lässt: einen tiefen Schluck aus der wie durch ein Wunder nicht eingefrorenen Trinkflasche zu nehmen, stelle ich mir vor, auf der letzten Strecke einer Erstbesteigung im Himalaja; den rettenden Schluck aus der ebenso erstaunlicherweise kühl gebliebenen Trinkflasche bei einem Schwächeanfall mitten in der Sahara; oder, als Öko-Ersatz des katholischen Sakraments von der letzten Ölung, den von einem Sanitäter verabreichten letzten Schluck aus der Trinkflasche, bevor ein Autounglück tödlich wird.

Ist die Trinkfontäne bald ganz allein? Noch stehen sie überall in amerikanischen Universitätsgebäuden und geben auf Befehl eine kostbare Menge (chlorhaltiges) Trinkwasser ab. Während Qualität und Gesundheit heute dauerhaft überprüft werden, scheint der Trend in Richtung "eigenes" Wasser zu gehen. Fraglich bleibt, wo dieses wiederum herkommt.
Ist die Trinkfontäne bald ganz allein? Noch stehen sie überall in amerikanischen Universitätsgebäuden und geben auf Befehl eine kostbare Menge (chlorhaltiges) Trinkwasser ab. Während Qualität und Gesundheit heute dauerhaft überprüft werden, scheint der Trend in Richtung "eigenes" Wasser zu gehen. Fraglich bleibt, wo dieses wiederum herkommt.

Warum beklagt sich aber niemand darüber, dass Trinkflaschen ziemlich unförmig aussehen, wie sie in den Rücksäcken stecken oder zu Beginn des Gesprächs neben das Handy auf den Tisch in meinem Büro plaziert werden? Warum wagt vor allem kein Beobachter zu sagen (wie der kleine Junge in Hans Christian Andersens Märchen von “Des Königs neuen Kleidern”), dass man eigentlich nie jemanden aus der Trinkflasche trinken sieht? Trinkflaschen, heißt die sozialhistorisch gestimmte Antwort, sind in einer Gegenwart, wo – im Gegensinn zu Hölderlin – existentielle (Be)Dürftigkeit gleichbedeutend mit sozialem Verantwortungsbewusstsein geworden ist, zu einem im matten Glanz der Schadstoffarmut erstrahlenden Kondensat und Emblem unseres höchsten Wertes geworden. Und dieser Wert heißt Selbst-Erhaltung. Wer auf Wasser setzt – statt auf Coca Cola, Bier oder Schnaps, der (oder die) tut das Mögliche, um sein (oder ihr) Todesalter über die Hundertjahres-Grenze hinaus zu schieben, schon vor dem ersten Studienjahr und lange bevor jenes Leben beginnt, in dem früher nur noch Gesetze – keine Eltern oder andere “relevanten Erwachsenen“ mehr – dem Genuss im Weg stehen können. Heute findet legitimer Genuss in der “Bionade” seine Grenze. Und wenn man schon zum Wasser-Wert entschlossen ist, dann wird es ganz unwichtig, wirklich Wasser zu trinken, solange nur die Wasser-Bereitschaft durch einen Wasser-Behälter angezeigt ist.

Wo diese Logik herrscht, versteht niemand mehr, dass gerade Rauchen ein scharfer Genuss sein kann – und was für ein Genuss, vor allem in der an Betäubung grenzenden Wachheit nach der ersten Frühmorgen-Zigarette und mit der euphorisierenden Andeutung von Schmerz, den der erste Zug aus der dieser Zigarette in der Lunge auslöst! Meistens setzen die Morgen-Jogger sofort zu einer demonstrativen Kurve an, wenn sie mich mit meiner Zigarette im Weg stehen sehen. Manche von ihnen verwickeln mich aber auch in ein aufklärend therapeutisches Gespräch: Rauchen schade meiner Gesundheit, teilen sie mir in erstaunter Besorgnis mit und lassen sich ihre Zuwendung einen Moment des Mitrauchens kosten. Unvermeidlich folgt darauf eines jener peinlichen Gespräche, wo beide auf verlorenen Posten stehen und kaum noch zu einem Ende finden.

Ist der Raucher bald ganz allein? Studien beweisen: An Amerikanischen Universitäten wird heute mehr gekifft als geraucht. Während laut Forschern der University of Michigan über 20 Prozent in den letzten 30 Tagen zu Marihuana gegriffen haben, war das im selben Zeitraum nur bei unter 13 Prozent der Studierenden und Zigaretten der Fall.
Ist der Raucher bald ganz allein? Studien beweisen: An Amerikanischen Universitäten wird heute mehr gekifft als geraucht. Während laut Forschern der University of Michigan über 20 Prozent in den letzten 30 Tagen zu Marihuana gegriffen haben, war das im selben Zeitraum nur bei unter 13 Prozent der Studierenden und Zigaretten der Fall.
Denn einen Weg zurück gibt es nicht: das als Geste der Selbstzerstörung erlebte Rauchen ist das Gegen-Emblem zum Wasser-Trinken, in Zigaretten konzentrieren sich längst – wie früher einmal in den Kernkraftwerken – alle sonst auseinander strebenden Befürchtungen und Aggressionen dieser Welt. Gescheitert sind allemal die nie wirklich entschlossenen Versuche, dem Rauchen in anspruchsvollen Spezial-Boutiquen eine Aura kosmopolitischer Eleganz zu geben. Und wo nun gerade die Intellektuellen zur Avantgarde der Lebens-Bewahrung geworden sind, wirken auch jene Photos aus der Hoch-Zeit des französischen Existentialismus (vor nicht mehr als sechzig Jahren) wie Relikte aus archäologisch ferner Vergangenheit, als ein Denker-Gesicht ohne Gauloise im linken Mundwinkel nicht überzeugend war. Wer heute von Zigaretten abhängig ist (eine weniger unfreundliche Beschreibung steht kaum zur Verfügung) und also alle Gefahren der Lebensverkürzung in Kauf nimmt, der wird auf manchen Flughäfen (zum Beispiel in Frankfurt) in gelb-schlierigen Plastikboxen gebündelt und den Kindern öffentlich zur Warnung vorgesetzt, wie – berichtete einst Michel Foucault – die Wahnsinnigen des siebzehnten Jahrhunderts hinter Eisengittern. Und wer dort einmal geraucht hat, der weiß, dass er im gesellschaftlich Abseits angekommen ist. Bei den Zeitgenossen mit der billigsten Kleidung, den dünnsten Zeitungen, den meisten Tattoos und den nervigsten Ticks.

So sind Zigaretten heute immer und nur noch Kippen, prinzipiell und schon lange bevor sie angezündet werden, hässlich gebrochene, flach zertretene, von Speichel befeuchtete und mit Asche vermischte Kippen. Nur: welche Gründe und Werte orientieren die aggressive Aussonderung der Raucher und ihrer Kippen aus der Welt des dritten Millenniums? Woran versündigen sie sich? Sozial schädlich sind ja gar nicht die selbst-zerstörenden Raucher, um die man immer einen Bogen machen kann. In einer Demographie, die keine Antwort auf die Frage hat, wie immer weniger aktiv Arbeitende die aus Lebenserhaltungs-Obsession immer breiter werdenden Altersmargen vor ihnen finanzieren sollen, müsste gerade Lebensverkürzung zu einem sozialen Wert avancieren. Als ein positiver Beitrag zum gesellschaftlichen Glück der Zukunft, als funktionales Äquivalent zu freiwillig gezahlten Extra-Steuern wäre deshalb die aktive Selbst-Begrenzung des Lebens zu feiern. Einkommensteuersenkung für Raucher sollte ein politisches Ziel sein – und zukünftige Generationen sind beizeiten darauf vorzubereiten, statt dem Alter das Rauchen zu ehren. Ein Thema für “Literatur und Tod” also, in der Creative Writing-Version?


Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.

Titelbild: John Loo / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text:  Parker Knight / flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Paul Domenick / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

David Corral / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)


Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann

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