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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Der Zölibat (nicht wenige Deutsche sagen eher „das Zölibat“, aber ich berufe mich, was das grammatikalische Geschlecht angeht, auf die Autorität des „Lexikons für Theologie und Kirche“), der Zölibat hat schon immer zu den Lieblingsthemen und Entrüstungsanlässen jenes Bürgertums gehört, das sich gerne als „liberal“ (vormals „freiheitlich“) ansieht. Keinen anderen Grund als Engstirnigkeit und Kontrollfanatismus der katholischen Amtskirche könne es geben, so die vorherrschende „liberale“ Meinung, ihren Priestern die (unterstellten) wahren Freuden der Erotik im Rahmen der Ehe zu verbieten. Natürlich wurden die Töne der Missbilligung besonders schrill in den Jahren der Kultur- und Studenten-„Revolte“ um 1968, die sich ja zugutehielt, ihre eigene Gegenwart und auch gleich noch die Zukunft von allen denkbaren „Repressionen“ erlöst zu haben. Diesen Anspruch kommentierte dann bald, was die Sexualität angeht, der wahrlich nicht klerikal gesinnte Michel Foucault mit schneidend trockener Ironie als einen grotesken Auswuchs des – eben bürgerlichen – Fortschrittsglaubens.
Mittlerweile hat sich die Begeisterung über die eigene, angeblich erkämpfte erotische Freiheit etwas gelegt, aber katholische Priester, die ihre Abweichung von der Zölibats-Vorschrift nicht mit letzter Konsequenz verbergen, stehen als Party-Gäste weiter hoch im Kurs – zumal wenn sie von gleichgeschlechtlichen Partnern begleitet werden. Jüngst gewann die Zölibats-Empörung wieder etwas an Dynamik im Zusammenhang mit den zum ersten Mal von der Kirche öffentlich angeklagten und geahndeten Fällen sexuellen Missbrauchs seitens katholischer Priester, welche die schlimmsten (und eben auch liebsten) Befürchtungen hinsichtlich der Konsequenzen des Zölibats eindrücklich zu bestätigen schienen.
Innerhalb der Institution Kirche hat der Zölibat eine Geschichte mit eigenartig schwachen Kulturen. Seit den ersten christlichen Jahrhunderten gehörten sexuelle Enthaltsamkeit innerhalb der Ehe oder, etwas radikaler, Ehe-Enthaltsamkeit zu jenen Verhaltensstrukturen, die immer wieder mit dem Priesteramt als Möglichkeiten seiner höchsten Erfüllung assoziiert wurden. Eine eindeutige Antwort auf die Frage aber, seit wann genau Ehelosigkeit für Priester verbindlich – und auch wirklich im Alltag durchsetzbar – wurde, gibt es nicht. 1022 etwa erließen Papst Benedikt VIII. und Kaiser Heinrich II. auf einer Synode im italienischen Pavia zwar gemeinsam entsprechende Verordnungen, doch noch gut dreihundert Jahre später zitierte der „Libro de Buen Amor“ (das „Buch von der guten Liebe“), einer der schönsten Texte der spätmittelalterlichen Literatur in kastilischer Sprache, eine larmoyante Klage von Priestern gegen die Zumutung, aufgrund einer neuen Anweisung ihres Bischofs nun ohne Frauen oder Konkubinen leben zu müssen. Lange vorher schon hatte die literarische Karriere des Zölibats in der Gestalt des „sündigen Priesters“ eingesetzt, dessen durch das Ausbleiben „ehelicher Verpflichtungen“ gesteigerte Libido (so die zentrale, meist implizit bleibende Unterstellung der Minnelieder) die stets verheirateten außerehelichen Liebhaber des Adels angeblich unter erheblichen Konkurrenzdruck setzte. Giovanni Boccaccio hat dann im „Decamerone“ die Variationsmöglichkeiten dieses Motivs geradezu mathematisch ausgespielt.
In den frühen Jahren der Reformation wurde Martin Luthers persönlicher und pastoraler Entschluss zur Geistlichen-Ehe nicht von all seinen Anhängern begrüßt – Philipp Melanchthon zum Beispiel machte keinen Hehl daraus, dass er die Beibehaltung des Zölibats bevorzugt hätte. Das Konzil von Trient (1545-1563), wo sich die Theologie und Politik der erst jetzt „katholischen“ Kirche zur Gegenreformation formierte, stellte die Frage des Zölibats noch einmal ins Zentrum einiger Debatten, um am Ende seine Beibehaltung zu bestätigen. Und nicht einmal für die Zeiten der säkularen „Modernisierung“ und des programmatischen „Fortschritts“ lässt sich die zu erwartende Entwicklung eines wachsenden kircheninternen Widerstands wirklich nachweisen. Selbst während des durch seine Öffnung auf die eigene Gegenwart in die Geschichte eingegangenen Zweiten Vatikanischen Konzils um die Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Zölibats-Frage nur eine marginale Rolle gespielt.
Entgegen allen liberalen Vermutungen hat die Kirche auch nie den Versuch forciert, den einschlägigen Vorschriften aus dem kanonischen Recht eine dogmatische Grundlage zu geben, wohl vor allem deshalb, weil die Evangelien – anders als beim Vorbehalt gegenüber dem Priestertum der Frauen – dafür kaum eine Vorgabe bieten. Auch der Text des einschlägigen Artikels aus dem „Lexikon für Theologie und Kirche“ wirkt in dieser Hinsicht erstaunlich offen für Diskussion und sogar mögliche Revision: An mehreren Stellen hebt er die Notwendigkeit und die praktische Bereitschaft hervor, das Gespräch über den Zölibat – im Hinblick auf je spezifische historische und kulturelle Kontexte – offenzuhalten.
Viel interessanter, überraschender und tatsächlich entscheidend sind die vorherrschenden theologischen und pastoralen Gründe für den Zölibat, die vor allem vom Keuschheitsgelübde der Ordensleute abzuheben sind. Mönche und Nonnen versprechen lebenslange sexuelle Enthaltsamkeit, weil ihr Leben ausschließlich auf die spirituelle Beziehung zu Gott ausgerichtet sein soll. Die Ehe-Enthaltsamkeit der Priester hingegen wird primär als eine Lebensform verstanden, deren „Charisma“ (ein in diesem Zusammenhang häufig verwendeter Begriff) eine in ihrer Öffnung ausschließliche Hinwendung auf die Gemeinde und auf die daraus erwachsenden Aufgaben anzeigen soll. Als „Zeichen“ und Voraussetzung dieser besonderen Zuwendung gilt der Zölibat.
Die zwischen historischer Faktizität und einem romantischen wirkenden literarischen Ton oszillierende Liebesgeschichte von Abelard und Heloise aus dem frühen 12. Jahrhundert illustriert dieses Verständnis. Peter Abelard, ein Priester, der vor allem in Paris lehrte, war als der intellektuell schärfste und Hunderte von Studenten begeisternde Theologe jener Zeit berühmt geworden. Er verliebte sich in Heloise, eine junge Aristokratin, der aufgrund des Ansehens und Einflusses ihrer Familie die damals für Frauen ausgeschlossene Möglichkeit eines intellektuellen Lebens gegeben war. Heloise erwiderte Abelards Liebe und erotische Faszination – und wurde bald schwanger. All das geschah im Haus ihres klerikalen Onkels Fulbert, wo Heloise und Abelard wohnten. Dem Druck Fulberts und ihrer Familie auf Verheiratung widersetzte sich Heloise entschlossener als Abelard – vor allem, wie sie Jahrzehnte später in Briefen an ihn schrieb, weil sie überzeugt war, dass sich der Alltag einer Familie mit seiner Berufung als Lehrer der Kirche nicht vereinbaren ließ – in der doch der Ursprung ihrer Liebe gelegen war. Doch beide unterlagen der Macht der in ihrer Zeit herrschenden Konvention: sie heirateten, Heloise gebar den gemeinsamen Sohn Astrolabius und lebte in einem Kloster, während Abelard nach Paris zurückkehrte, wo ihn Fulbert überfallen und kastrieren ließ. Trotz all des Unglücks ihrer Liebe freilich hatten beide die Ausschließlichkeit von Abelards Zuwendung auf seine Rolle als Theologe und Lehrer nie in Frage gestellt oder gar geopfert. Bis zum Ende seines Lebens entwickelte er die Argumente und Positionen seines Denkens weiter, oft in fruchtbarer Provokation und Auseinandersetzung mit den Lehren der Kirche als Institution.
Aus einer gegenwärtigen Perspektive, deren Wertvoraussetzungen mit dem offiziellen Selbstverständnis der Kirche gewiss nicht vereinbar sind, könnte man sagen, dass sich in der Entscheidung für das Priestertum die Wahl einer Lebensform vollzieht, die exzentrisch vor allem durch ihren ethisch elitären Anspruch ist. Genau in diesem Sinn sorgt das kanonische Recht dafür, dass zukünftige Priester auf dem Weg der Ausbildung mehrfach ihren Willen zu dieser Lebensform mit allen ihren Konsequenzen bestätigen müssen. Dem immer wieder gemachten Einwand, dass im Zölibat ein Hauptgrund für den sogenannten „Priestermangel“ liege, kann man dann vor allem zwei – ganz verschiedene – Argumente (neben vielen anderen) entgegensetzen. Zum einen ist es wohl eine Frage wert, ob angesichts weiter schwindender Zahlen von wirklich praktizierenden Gläubigen und der Übernahme vielfältiger traditioneller Funktionen der Kirche durch säkulare Institutionen wirklich von einem „Priestermangel“ zu reden ist. Voll allem aber scheint die Vermutung plausibel, dass der – nie genannte – Eliteanspruch des Priesteramts in Wirklichkeit diese Rolle gerade attraktiv macht (einmal abgesehen von der Tatsache, dass sexuelle Handlungen von Priestern theologisch keinen anderen Stellenwert haben als die eines jeden unverheirateten Katholiken).
Gerade weil kaum eine andere Verhaltensprämisse für mein eigenes Leben weniger vorstellbar ist als der Zölibat, bewundere ich jene Männer, die sich in Freiheit für ihn entscheiden. Engstirnig sieht in diesem Zusammenhang allein die liberale Zwangsvorstellung aus, gegen den Zölibat als Lebensform der katholischen Priester polemisieren zu müssen. Ganz am Rande will ich noch sagen, dass mit einer Zölibats-Aufhebung durch die katholische Kirche für die nächsten Jahrzehnte wohl kaum zu rechnen ist, obwohl sie theologisch und pastoral jederzeit denkbar und auch durchführbar ist. Vielleicht würde ich – als agnostischer Intellektueller und Sympathisant der katholischen Kirche – eine solche Aufhebung sogar bedauern. Aber nun gehe ich wohl in meiner Sympathie einen Schritt zu weit – zumal ja niemand einen guten Grund haben kann, sich um meine Ansichten zum Zölibat zu kümmern.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild:
| Christiane Birr / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Bilder im Text:
| Dennis Skley / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
| Edgar Jiménez from Porto, Portugal - Papa rock star (CC BY-SA 2.0)
| Jörg-Johannes Heidrich - Datenträger des Urhebers (CC0)
| "St Peter's Square, Vatican City - April 2007" by Diliff - Own work. Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm