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Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Die Landtagswahlen vom 13. März haben die Bundesrepublik – so kann man wohl sagen – aufgemischt. Mit dem Einzug der AfD in gleichzeitig drei Landtage mit jeweils einem zweistelligen Ergebnis hat sich das Parteiensystem der BRD deutlich verändert. Neben diesen Veränderungen gibt es in Baden-Württemberg zumindest zwei Eigenschaften des Ergebnisses der letzten Landtagswahl, die man wohl unstrittig als positiv bezeichnen kann. Die Wahlbeteiligung stieg um mehr als 4 Prozentpunkte auf etwa 70 Prozent an und der Anteil der weiblichen Abgeordneten nahm von 18 auf 23 Prozent zu. Ein differenzierter Blick auf diese Charakteristik ist aufschlussreich. Denn während bei den Grünen die weiblichen Abgeordneten annähernd die Hälfte aller Abgeordneten ausmachen, sind dies bei den anderen Parteien gerade mal ungefähr 10 Prozent, wobei die FDP mit einer einzigen weiblichen Abgeordneten unter insgesamt 12 gewählten FDP-Mandatsträgern am schlechtesten abschneidet.
Wenn es in den letzten Jahrzehnten eine Landtagswahl gab, in der grundlegende Werte eine Rolle spielten, dann war es diese. Worum es letztlich ging, war die Frage, inwieweit wir eine liberale, das heißt weltoffene und tolerante Gesellschaft sein wollen. Der Fortschritt und der Liberalismus sind aber dort zu Hause, wo die Ergebnisse fortschrittlich und von liberalem Geist durchdrungen sind. Daher sind die eben erwähnten Zahlen bezüglich der Repräsentation von Frauen so wichtig, weil sie symptomatisch für das sind, was bei manchen ebenso offensichtlich falsch läuft wie es bei anderen den richtigen Verlauf nimmt. Denn es ist ein bestimmtes Verständnis von politischer und gesellschaftlicher Kultur, das sich in diesen Zahlen ausdrückt. Frauenrechte, insbesondere politische Beteiligungsrechte, gehören wie auch die Rechte homosexueller Menschen zum Kernbestand liberalen Gedankenguts. Eine Bundeskanzlerin Merkel und ein ehemaliger Vizekanzler Westerwelle sind die Nutznießer einer Entwicklung, deren Vorkämpfer vor allem in den Reihen der SPD, angefangen mit Clara Zetkin, und in den letzten dreißig Jahren in denen der Grünen zu finden sind. Wenn also die Grünen 30 Prozent der Stimmen erhalten, dann kann man dies eben auch als großen Sieg des Liberalismus bezeichnen. Dass sich dieser Liberalismus mit einer gehörigen Portion Pragmatismus verbindet, ist zu seinem Schaden nicht, und auch dass er bei manchen Grünen gelegentlich von einem nervig-moralinsauren Anflug von Paternalismus begleitet wird, ändert nichts an der grundlegenden Tatsache, dass sich die Grünen in den letzten Jahrzehnten als maßgeblicher Vertreter der Bürgerrechte hervorgetan haben. Auch eine Bildungspolitik, konzipiert von der grün-roten Regierung unter Führung eines SPD-geführten Ministeriums, die den blamablen Zusammenhang zwischen Bildungschancen und sozialer Herkunft zumindest zu mildern versucht, trägt das Erkennungszeichen urliberaler Politik.
Genauso berührt das Flüchtlingsthema, das dominierend im Landtagswahlkampf war, unmittelbar liberale Prinzipien. Der Grundgedanke des Liberalismus besteht darin, den Menschen den Freiraum und die Möglichkeit zu geben, ihre Lebenspläne zu verwirklichen, solange dabei nicht in grundlegende Rechte anderer eingegriffen wird. Das aus Sicht von Liberalen grundlegendste Recht muss daher darin bestehen, allen Menschen das Recht zuzugestehen, sich auf die Suche nach einem besseren Leben machen zu dürfen, wenn sie unter Bedingungen leben, unter denen die Verwirklichung eines solchen Lebensplans nicht mehr möglich ist. Daher gehört die berühmte Formel des „pursuit of happiness“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu den unveräußerlichen Menschenrechten, deren Geltung sich nach Ansicht der amerikanischen Gründungsväter als „selbstevidente Wahrheit“ erschließen muss. Wer auf Menschen, die dieses Recht für sich in Anspruch nehmen, schießen lassen will, hat mehr verlassen als ein gemeinsames Rechtsverständnis, er (oder sie) negiert die Bedingungen, unter denen Menschen überhaupt als Gemeinschaft zusammenleben können.
Das negative Recht der Flüchtlinge, an der Wahrnehmung ihrer grundlegenden Menschenrechte nicht mit Gewalt gehindert werden zu dürfen, zieht nicht zwangsläufig ein positives Recht auf explizite Unterstützung in materieller Hinsicht nach sich. Absurd aber wäre es, daraus ein Verbot einer solchen Unterstützung abzuleiten. Sicherlich stößt jede Form der Unterstützung irgendwann an ihre Grenzen, aber ebenso sicher sind diese Grenzen nicht schon allein dadurch erreicht, dass bestimmte Parteien ein paar Prozentpunkte bei Wahlen verlieren könnten. Man sollte das Glück nicht gering schätzen, für die Verteidigung der eigenen Werte lediglich mit mehr oder weniger geringfügigen finanziellen Opfern einstehen zu müssen und nicht mit der Gefährdung des eigenen Lebens.
In einem populistisch aufgeheizten Wahlkampf wie dem letzten können die etablierten Parteien nur verlieren. Es bleibt allerdings zu konstatieren, dass das grün-rote Lager lediglich 4 Prozentpunkte der Stimmen verloren hat, während das schwarz-gelbe Lager 9 Prozentpunkte verloren hat. Die Grünen gingen als die stärkste Partei und Kretschmann als der klare Gewinner unter den Spitzenkandidaten aus der Wahl hervor. Auch wenn in einem parlamentarischen System der Sieger am Ende derjenige ist, der eine Mehrheit an Sitzen hinter sich bringen kann, so würde nicht jede Mehrheit in gleichem Maße von der Bevölkerung als Ergebnis der Wahl akzeptiert werden. Unter den gegebenen Umständen muss eine Regierungsbildung an Kretschmann vorbei als wenig vermittelbar betrachtet werden, eine Deutschlandkoalition würde nicht nur den politischen Selbstmord der SPD bedeuten, sondern zudem sämtliche Vorurteile über machtversessene Politiker zu fundierten Urteilen gerinnen lassen. Eine gute demokratische Kultur würde es erfordern, dass alle Parteien das Wählervotum akzeptieren, indem sie ihre Positionen mit dem Gewicht in Koalitionsverhandlungen einbringen, wie es ihrem Ergebnis in der Wahl entspricht. Es mutet merkwürdig an, wenn die kleinste von fünf Parteien schon Gespräche über die Bildung einer Koalition mit dem Argument ablehnt, den von ihr gewollten Politikwechsel in einer solchen nicht herbeiführen zu können. Denn hätte es ein Bedürfnis nach einem solchen Politikwechsel gegeben, hätte das Wahlergebnis wohl ein anderes sein müssen. Das Lesen von Wahlergebnissen sollte man tunlichst ohne die rosarote Brille der Selbstverliebtheit unternehmen.
Titelbild:
| pjt56 / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0)
Bilder im Text:
| Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
| Robin Krahl / Eigenes Werk (CC-BY-SA 4.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm