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Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Sein Forschungsschwerpunkte liegen auf Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Frauen in der Politik scheinen „Normalität“ geworden zu sein. „Mami, können Männer auch Bundeskanzlerin werden?“, las ich vor kurzem in der FAZ die Frage eines Fünfjährigen. Angela Merkel ist seit Jahren die mächtigste Frau der Welt. Aber auch eine Reihe hinter ihr stehen Power-Frauen bereit: Ursula von der Leyen, Andrea Nahles – ein Drittel der Minister ist weiblich. Deutschland scheint auf dem Weg nach vorn zu sein.
Doch der Blick auf das Bundesland Baden-Württemberg verdeutlicht: Hier sind gerade einmal 20 Prozent aller Mandatsträger im Landtag weiblich. Dabei geht man heute davon aus, dass ein Anteil von 30 Prozent als Mindestmaß für eine einigermaßen gleichberechtigte Repräsentation gilt. Während Länder wie Bremen einen Frauenanteil von über 40 Prozent haben, liegt Baden-Württemberg am untersten Ende der Frauenrepräsentation. „Während bundesweit ein positiver Trend zu verzeichnen ist, sind die Zahlen in Baden-Württemberg sogar rückläufig“, erläutert Jens Wäckerle. Der frischgebackene Absolvent hat sich sowohl in seinem Humboldt-Projekt, das er im sechsten und siebten Semester durchgeführt hat, als auch in seiner Bachelor-Arbeit mit der Thematik auseinandergesetzt. Wäckerle hat sich dabei die Landesparlamente von 1990 bis 2014 angeschaut, um den Erfolg und entscheidende Faktoren für eine Wahl herauszufiltern. Unterstützt und begleitet hat ihn dabei Professor Dr. Joachim Behnke. Doch wer oder was trägt „Schuld“ daran, dass in Baden-Württemberg eine solche Unterrepräsentation herrscht?
„Grundsätzlich kann man die Entwicklung als linear beschreiben. Vor 1990 war die Repräsentation eher gering, die Wende begann meistens um 1990 – heute ist die Repräsentation im Mittel um 10 Prozent gestiegen“, erklärt Wäckerle. „Besonders signifikant lässt sich die Frauenquote mithilfe von Parteistärken messen, da sich die internen Quoten sehr stark unterscheiden“, fügt Behnke hinzu. „Je stärker die CDU ist, desto geringer ist der Frauenanteil.“ Denn dort ist lediglich ein Sechstel weiblich.
Weitere wichtige Punkte sind die herrschende politische Kultur und die Kultur zu Frauenrechten, die in den einzelnen Bundesländern herrscht. „Vor allem spiegeln sich Faktoren wie die katholische Prägung, die Geburten- und Scheidungsrate in der Nominierung wider“, legt Wäckerle dar. „Als wichtigsten Faktor kann man aber das gesellschaftliche Frauenbild nennen.“
„Klar ist, dass das Wahlsystem sich auswirkt – bundesweit ist dies eher schwer zu untersuchen, da es größtenteils Zwei-Stimmen-Systeme gibt. In Baden-Württemberg hingegen haben wir ein Ein-Stimmen-System“, erklärt Wäckerle.
Doch wie funktioniert das Wahlsystem in Baden-Württemberg eigentlich genau? Momentan hat jeder Wähler in Baden-Württemberg bei den Landtagswahlen lediglich eine Stimme, die er einem Kandidaten aus seinem Wahlkreis schenkt. Der Kandidat mit der relativen Mehrheit im Wahlkreis zieht dann automatisch in den Landtag ein, während die restlichen Sitze gemäß Verhältniswahlrecht vergeben werden. Dabei werden die Sitze in einem zweiten Schritt auf Grundlage der von den Kandidaten erreichten Stimmzahl im jeweiligen Regierungsbezirk auf jene verteilt. Innerhalb der Regierungsbezirke erhalten dann diejenigen Kandidaten die Sitze, die die höchsten prozentualen Anteile in ihrem Wahlkreis für sich verbuchen konnten. Somit gibt es keinerlei Listen, lediglich das persönliche Ergebnis zählt, sodass eine vorhergehende Bestimmung der Fraktionszusammensetzung nahezu unmöglich ist. „Unter der jetzigen grün-roten Regierung gibt es deshalb eine deutliche Reformdebatte“, erklärt Behnke. Es werde diskutiert, ob man ein Zwei-Stimmen-Modell analog zur Bundesebene einführen solle, mit einer Quotierung auf den Parteilisten. Ob das die Lösung darstellen könnte, ist allerdings umstritten.
„Die geringe Frauenquote im baden-württembergischen Landesparlament liegt, wie bereits gesagt, vor allem an der CDU. Und diesbezüglich würde sich auch durch eine Einführung einer Zweitstimme, mit der man eine Parteiliste wählt, nichts ändern“, legt Behnke dar. „Denn so gut wie alle CDU-Sitze werden durch Direktwahl besetzt.“
Der entscheidende Moment für die Wahl ist die Nominierung, sind Wissenschaftler sich einig. „Sicherlich liegt das Problem auf der Ebene der Nominierung als ‚entscheidendes Moment‘. Sobald eine Frau bei einer Direktwahlentscheidung nominiert ist, erfährt sie kaum einen systemischen Nachteil. Somit werden oftmals schlichtweg viel zu wenige Frauen überhaupt durch die Parteien aufgestellt“, erläutert Wäckerle. Denn oft sei es so, dass Männer nominiert werden, wenn lediglich eine Person nominiert werden könne. Denkt man an „klassische Werkzeuge“ wie Frauenquoten, so sind sie im momentanen Wahlsystem nicht umsetzbar, denn auf Wahlkreisebene kann man schlecht mit einer Quotierung ansetzen. Wie soll man schließlich auch eine Einzelperson teilen? Dies ist lediglich bei Parteilisten möglich. Dass dort allerdings ein gewisser Ansteckungseffekt existiert, ist nicht von der Hand zu weisen – bei der Bundestagswahl quotierte selbst die CDU auf den ersten Plätzen.
„Mein Vorschlag wäre es, Zwei-Personen-Wahlkreise zu etablieren – jede Partei würde zwei Personen aufstellen, wenn möglich einen Mann und eine Frau, sodass der einzelne Wähler sich entscheiden kann, ob er einen Mann oder eine Frau wählen möchte“, erklärt Behnke. Einziehen würden die zwei Kandidaten, die einzeln die meisten Stimmen erzielen. „Problematisch könnte natürlich sein, dass viele Wähler verwirrt wären und nicht verstünden, was wirklich entscheidende Auswirkungen auf den Wahlausgang hat.“ Dieser Vorschlag würde dazu führen, dass die Wahlkreise weiterhin autonom blieben. Ein ähnliches Modell gibt es beispielsweise bei den englischen Tories: Dort müssen in zwei Wahlkreisen je ein Mann und eine Frau nominiert werden, was jedoch zentral geregelt werden muss und somit in die Autonomie und Basisdemokratie im einzelnen Wahlkreis eingreift.
„Ein ähnliches Handeln kann man in Stuttgart beobachten“, wirft Wäckerle ein. „Dort gibt es vier Wahlkreise – die Grünen verständigen sich stets so, dass in zwei Wahlkreisen Frauen und in zwei Wahlkreisen Männer aufgestellt werden.“
Hebt man den Blick von Baden-Württemberg auf die bundespolitische Ebene, wird klar, dass es abseits von geschlechtsspezifischen Wahlkreisabsprachen bereits eine Vielzahl an Projekten von Parteien gibt, die versuchen, für eine Erhöhung der Frauenquote zu sorgen. Besonders auf Bundesebene wird viel dafür getan, die Repräsentation zu steigern.
Einerseits gibt es Frauenverbände innerhalb der Parteien, das bis jetzt größte und wichtigste Outcome mag aber die freiwillige Quotierung sein, eine bestimmte Anzahl an Frauen auf den Wahllisten zu platzieren. Vor allem – wie bereits erwähnt – kann ein Nachahmungseffekt beobachtet werden. Selbst Parteien, die eine interne freiwillige Quotierung ablehnen, halten sich doch daran – zumindest auf den vordersten Plätzen. „Daran sieht man sehr gut den kulturellen und sozialen Druck auf Parteien, der durch eben diesen Wandel entsteht“, erläutert Wäckerle.
Nicht nur der Hang dazu, Männer zu nominieren, wenn es nur einen zu vergebenden Posten gibt, bremst Frauen auf ihrem Weg zum Mandat aus. „Vor allem die frauenfeindliche Gestaltung des Berufes führt dazu, dass viel weniger Frauen sich überhaupt nominieren lassen wollen“, erklärt Behnke. „Wenn wir in die skandinavischen Länder schauen: Dort enden die Sitzungen am frühen Nachmittag. Man ist weggerückt von der Annahme, jeder Politiker müsse stets 150 Prozent geben und immer überall sein. Warum soll das nicht auch hier gehen?“ Man sollte somit versuchen, Druck von den Frauen zu nehmen, eine bessere Integrität von Familie und Beruf ermöglichen und so ein Klima zu schaffen, dass für mehr Frauen attraktiv erscheint.
„Natürlich sind Quoten zu Beginn ein positives Instrument: Sie eröffnen Spielräume, machen es Frauen überhaupt möglich, in die Arena hineinzukommen. Sobald sie dort angelangt sind, muss aber ein Wettbewerb auf Augenhöhe stattfinden“, legt Behnke dar. Somit muss eine systemische Benachteiligung ausgeschaltet werden – sobald der „Wunschanteil“ erreicht ist, sollte die Quotierung wieder zurückgeführt werden – sofern das Selbstverständnis geändert wurde. „Als besonders gutes Beispiel kann Ruanda genommen werden: Die gesetzte Quote von 50 Prozent wurde sogar um 13 Prozent übertroffen. Der ganz bewusst gesetzte Cut hat entscheidend an der Befriedung des Landes mitgewirkt, indem neue Leute – vor allem auch Frauen – in Führungspositionen gerückt sind und die Macht der Amtsinhaber aufgebrochen wurde“, erläutert Behnke.
Denn diese „Macht der Amtsinhaber“ ist ein weiteres Problem, das Frauen oder auch junge Menschen häufig daran hindert, ein Mandat zu gewinnen. Denn hat einmal ein Politiker seit drei oder vier Wahlperioden ein Direktmandat inne, wird er wohl kaum einfach ausgetauscht werden. „Man kann vor allem beobachten, dass Frauen und junge Menschen in schlechteren Wahlkreisen nominiert werden, während in sicheren Wahlkreisen stets die Amtsinhaber – sofern sie wollen – erneut aufgestellt werden“, bemerkt Wäckerle. Behnke ergänzt: „Man kann das Ganze auch als verzögerten Kohorteneffekt beschreiben: Ein Großteil der Direktkandidaten ist langwierig – langsam wachsen die Leute aus, die seit Jahrzehnten ihr Mandat innehaben und machen Platz für neue junge Leute.“ Besonders bei der CDU ist dieser Effekt durch Amtsinhaberschaft zu bemerken – ob dies eine bewusste Diskriminierung ist, kann nur schwerlich festgestellt werden.
Klar ist, dass bei einem reinen Listenwahlsystem wahrscheinlich durch erhöhten Druck mehr Frauen gewählt würden – aber das personalisierte Verhältniswahlrecht sorgt ja dafür, dass es eine Rückbindung an den eigenen Wahlkreis gibt. „Klar ist aber auch, dass die Parteiwahl die individuelle Wahl übertrumpft. Bei den Erststimmen hängt die Entscheidung zu über 90 Prozent von der Parteienideologie ab – und auch bei den Wechselwählern ist der Wahlkreiskandidat eher zu vernachlässigen, da dort Spitzenkandidaten und Programm eine größere Rolle spielen“, legt Behnke dar.
Auf jeden Fall sollte an der Sichtbarkeit nach außen gearbeitet werden. Es muss vor allem in den Medien gezeigt werden: Frauen machen gute Politik. „Betrachtet man beispielsweise die Wissenschaftsministerin von Baden-Württemberg, Theresia Bauer, die als beliebteste Wissenschaftsministerin ausgezeichnet wurde, dann erkennt man, dass es sehr wohl möglich ist, dass Frauen in Baden-Württemberg erfolgreich Politik machen“, erläutert Wäckerle.
„Der Wettbewerbsvorteil, den die Männer zurzeit noch genießen, sollte schnellstmöglich ausgemerzt werden. 18 Prozent Frauenanteil sind heute schlichtweg nicht mehr tragbar. Ein Anteil von 30 Prozent und darüber hinaus sollte selbstverständlich werden“, ergänzt Behnke.
Titelbild:
| Collage von Alina Zimmermann (basierend auf Bildern im Text)
Bilder im Text:
| Theresia Bauer: Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
| Malu Dreyer: re:publica / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
| Hannelore Kraft: nrwspd / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
| Andrea Nahles: blu-news.org / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
| Ursula von der Leyen: Dirk Vorderstraße / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
| Angela Merkel: www.GlynLowe.com / flickr.com (CC BY 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann