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Britisches EU-Referendum

To brexit or not to brexit?

Brexit ist der leere Signifikant, um den herum sich der britische Populismus kristallisiert. Brexit ist Donald Trump, die FPÖ, der Front National, die AfD. Um die EU geht es dabei gar nicht so sehr.

Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Vertretungsprofessur für Empirische Policy-Forschung
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Dietmar Schirmer

    Prof. Dr. Dietmar Schirmer ist seit August 2015 Vertretungsprofessor für Empirische Policy-Forschung. Nach dem Studium in München und Berlin sowie der Promotion in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lehrte er an der Freien Universität Berlin, der Cornell University, der Universität Wien sowie der University of British Columbia und der University of Florida. Er war außerdem Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und ist Mitglied der American Political Science Association und des Council for European Studies.

    Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der historisch-institutionalistischen vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Kulturforschung. Gegenwärtige Forschungsprojekte befassen sich mit dem Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und regionalen Minderheitennationalismen in der EU sowie mit der Staatsarchitektur Europas seit der Renaissance. 

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Im Mai 2014 versprach David Cameron, damals Premierminister der Koalitionsregierung aus Tories und LibDems, im Vorgriff auf den kommenden Wahlkampf ein Referendum über den Verbleib des United Kingdom in der Europäischen Union. Er kettete sogar sein Amt daran, womit er de facto die Erneuerung der Koalitionsregierung ausschloss und alles auf eine absolute Tory-Mehrheit setzte.


Cameron lehnte sich also weit aus dem Fenster. Die Idee muss ihm brillant vorgekommen sein, eine Art Zauberstab zur Lösung aller Probleme: seiner eigenen Glaubwürdigkeit, der UKIP sowie der Anti-EU-Kräfte in seiner eigenen Partei. Und es sollte das Pfund sein, mit dem er in Verhandlungen zur Reform der EU würde wuchern können, um die Union im britischen Sinne neu zu gestalten. Danach würde er sich ein überzeugendes Mandat pro EU abholen – ein Ritter in glänzender Rüstung, der Partei, Königreich und Europa in einem Streich gerettet hat.

Musste Jo Cox sterben, damit Großbritannien bleibt? Die Labour-Abgeordnete wäre in wenigen Tagen 42 Jahre alt geworden, als sie nach einer Bürgersprechstunde auf offener Straße erschossen wird. Cox galt als glühende Verfechterin der EU-Mitgliedschaft des Landes. Nach dem Attentat setzten beide Lager ihre Kampagnen rund um das anstehende EU-Referendum für einige Tage aus. Die Ex-Chefin der britischen Konservativen, Sayeeda Warsi, verließ die Brexit-Kampagne und warf ihr Rassismus vor. Moderate Stimmen für den Brexit seien im Wahlkampf untergegangen, erklärte sie. Erstmals konnten sich pro-europäische Kräfte in Umfragen nach dem Mord an Cox deutlich vor den Brexit-Befürworten platzieren.
Musste Jo Cox sterben, damit Großbritannien bleibt? Die Labour-Abgeordnete wäre in wenigen Tagen 42 Jahre alt geworden, als sie nach einer Bürgersprechstunde auf offener Straße erschossen wird. Cox galt als glühende Verfechterin der EU-Mitgliedschaft des Landes. Nach dem Attentat setzten beide Lager ihre Kampagnen rund um das anstehende EU-Referendum für einige Tage aus. Die Ex-Chefin der britischen Konservativen, Sayeeda Warsi, verließ die Brexit-Kampagne und warf ihr Rassismus vor. Moderate Stimmen für den Brexit seien im Wahlkampf untergegangen, erklärte sie. Erstmals konnten sich pro-europäische Kräfte in Umfragen nach dem Mord an Cox deutlich vor den Brexit-Befürworten platzieren.

Wie man weiß, kam es anders. Weder Angela Merkel noch François Hollande verspürten den Drang, ein Jahr vor nationalen Wahlen und in einer veritablen Legitimationskrise die EU-Verträge zur Disposition zu stellen. Bei der Neuverhandlung der britischen Sonderstellung kam man Cameron zwar entgegen, aber zu wenig, um auch nur einen EU-Skeptiker umzustimmen. Gleichzeitig hatte sich in der Zwischenzeit die populistische Grundstimmung überall im Westen verstärkt. Der Slogan der Tea-Party-Bewegung wurde britisch repatriiert: „I want my country back!“


Brexit ist der leere Signifikant, um den herum sich der britische Populismus kristallisiert. Brexit ist Donald Trump, die FPÖ, der Front National, die AfD. Um die EU geht es dabei gar nicht so sehr. Brüssel hat nun einmal das Pech, in einem traditionell integrationsskeptischen Land zu dem Gefäß zu werden, in das man alle Ängste und Enttäuschungen, die ganze Wut aufs britische Jetzt gießen kann: auf die Eliten und Bürokraten, die Immigranten, mit denen man um Jobs und Wohnungen konkurriert, die jungen Schicken, die sich in der City eine goldene Nase verdienen, den National Health Service, der einen auf Arzt- und Operationstermine warten lässt, die Schrumpfung der Industrie und die infrastrukturellen Folgen der Austerität.

Zum Ausgang des Referendums keine Prognosen – zu knapp sind die Umfragen. Möglich, dass am Ende die Angst vor dem Sprung ins Dunkle den Ausschlag für den Verbleib gibt. Ebenso möglich, dass Brexit gewinnt, weil die Überzeugung der Brexiter größer ist als die der Remainer. Im ersteren Falle wird man erleichtert sein, aber besser wird dadurch auch nichts werden. Und im letzteren Falle? Man weiß es nicht. Dass der Brexit für die britische Ökonomie ein empfindlicher Schlag sein wird – gewiss. Aber wie empfindlich? Und wie lange werden die Turbulenzen, die sicher kommen werden, anhalten? Wie werden die Beziehungen zwischen UK und EU neu geordnet werden? Was wird die Finanzindustrie tun, an deren Tropf nicht nur London hängt, sondern die Ökonomie des ganzen Landes? Wird die SNP schon bald ein neues Schottland-Referendum anstreben?


Noch unübersichtlicher sind die möglichen Folgen für die EU. Manche glauben, dass der Austritt des United Kingdom der Idee der „ever-closer union“ neues Leben einhauchen könnte. Angesichts der allgemeinen populistischen Konjunktur ist das aber nicht plausibel. In der Staatsschuldenkrise als auch in der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, wie eng die Grenzen transnationaler Solidarität und wie dünn das europäisierte Furnier ist, unter dem die alten Nationalismen lauern. Der Spielraum für EU-Kollektivhandeln ist geringer geworden; eine neue Phase der Eurosklerose à la 1975 bis 1985 scheint naheliegend und der Zerfall der EU in einer Parade der Souveränitäten nicht ausgeschlossen.

Wenn die Brexit-Befürworter sich durchsetzen, werden Fotos von Premierminister David Cameron auf europäischen Gipfeltreffen der Vergangenheit angehören. Im Endspurt vor dem Votum verhärten sich die Fronten zwischen beiden Lagern zunehmend: EU-Außenminister warnten vor einem Ausscheiden: „Wir verlieren Geschichte und Tradition Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union, die wichtig ist und war für uns“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Cameron warf dem Brexit-Lager vor, bei zentralen Themen nicht die Wahrheit zu sagen: Es treffe nicht zu, dass die Türkei demnächst in die EU komme. Falsch sei ebenfalls, dass London jede Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel zahle. Der Austritts-Wortführer und Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson hielt Cameron Ideenlosigkeit vor. In der EU zu bleiben bedeute „hinten in einem Auto eingesperrt zu sein, das jemand fährt, der nicht gut Englisch spricht und in eine Richtung steuert, in die wir nicht wollen“, schrieb er im „Daily Telegraph“.
Wenn die Brexit-Befürworter sich durchsetzen, werden Fotos von Premierminister David Cameron auf europäischen Gipfeltreffen der Vergangenheit angehören. Im Endspurt vor dem Votum verhärten sich die Fronten zwischen beiden Lagern zunehmend: EU-Außenminister warnten vor einem Ausscheiden: „Wir verlieren Geschichte und Tradition Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union, die wichtig ist und war für uns“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Cameron warf dem Brexit-Lager vor, bei zentralen Themen nicht die Wahrheit zu sagen: Es treffe nicht zu, dass die Türkei demnächst in die EU komme. Falsch sei ebenfalls, dass London jede Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel zahle. Der Austritts-Wortführer und Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson hielt Cameron Ideenlosigkeit vor. In der EU zu bleiben bedeute „hinten in einem Auto eingesperrt zu sein, das jemand fährt, der nicht gut Englisch spricht und in eine Richtung steuert, in die wir nicht wollen“, schrieb er im „Daily Telegraph“.

Wie gesagt, Brexit ist die britische Variante des Populismus, der gerade dabei ist, die Koordinaten der Politik in Europa neu – und gegen Europa – zu bestimmen. Aber Populismus ist immer ein Epiphänomen. Letzten Endes ist der prekäre Zustand der EU eine Konsequenz der konstitutionellen Asymmetrie von Marktintegration und sozialer Integration. Historisch gab es Gelegenheiten, einen anderen Pfad zu wählen – doch die soziale Integration Europas, für die der französische Premier Guy Mollet in den 1950ern und der Kommissionspräsident Jacques Delors in den 1980ern warben, blieb, wie Fritz W. Scharpf schrieb, „the road not taken.“


Das aber ist „the elephant in the room“: Der Populismus der Gegenwart ist die Reaktion auf die Riskanz sozialer Existenz im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus. Die Europäische Union hätte ein Schild des Schutzes gegen dessen negative Externalitäten werden können – sie wurde seine regionale Vertretung. Objektiv mag selbst die neoliberal halbierte Union mehr Sicherheit bieten als ein Zustand ohne sie. Subjektiv –zumal aus Sicht derer, die in der globalisierten Ökonomie mehr zu verlieren als zu gewinnen haben – mindert sie die Risiken nicht, sondern steigert sie.


Gut möglich, dass, wäre der Weg des „sozialen Europa“ versucht worden, wir uns jetzt nicht über die Folgen eines Brexit unterhalten müssten. Ebenfalls möglich, dass das nur so wäre, weil die Briten einer sozial integrierten EU gar nicht erst beigetreten wären.

Titelbild: 

| Webmaster VoluntaristDK / youtube.com (CC BY 2.0)


Bilder im Text: 

| Garry Knight / flickr.com (Public Domain)

| Number 10 / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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