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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Latein war die erste Fremdsprache, als ich 1958 von der „Volksschule“ (wie sie damals hieß) aufs „Realgymnasium“ wechselte, und der Lehrer, ein ebenso energischer wie ehrgeiziger Mitt-Dreißiger mit einem weichen Akzent aus dem Sudentenland und authentischer Begeisterung für die politischen Strukturen der damals noch jungen Bundesrepublik (manche seiner Kollegen raunten, er sei „eingeschriebenes Mitglied“ der CSU) ließ keine Gelegenheit aus, uns Zehnjährige wissen zu lassen, dass die Sprache, mit deren Vokabeln und Grammatik wir kämpften, die Grundlage der europäischen Kultur sei. Doch diese gut gemeinten und früh adressierten Handreichungen aus dem staatsbürgerlich-pädagogischen Fundus blieben eigentlich immer weit entfernt am Horizont unserer Unterrichts-„Realien“ wie den Präpositionen mit dem Ablativ oder den weiblichen Endungen der dritten Deklination, und sie wurden auch nicht konkreter, als wir bald von den lateinischen Konversationen am Hof Karls des Großen und der Europa vorwegnehmenden geographischen Form seines Reichs erfuhren.
Fünf Jahre später hingegen traf uns die Realität Europas allzu konkret in der physischen Präsenz eines Französischlehrers (Beginn der dritten Fremdsprache), dessen Begeisterung für das damals immer noch etwas feindlich oder wenigstens exotisch wirkende Nachbarland alle fortbestehenden Grenzen ignorierte. Manchmal hatte er noch die gerade zuende gerauchte Gauloise im Mundwinkel, wenn er das Klassenzimmer betrat, sein fränkischer Akzent war durchsetzt von einem westlich-nasalen Oberton, und manchmal machte er sich einen kalkulierten Spaß daraus, die ohne Widerworte übernommenen moralischen Vorurteile unserer Eltern „kleinbürgerlich“ zu nennen. Kein Wunder, dass der Religionslehrer unübersehbar mit dem Gedanken an eine Strafe Gottes winkte, als sein Kollege auf einer nächtlichen Busfahrt nach Paris den damals mit Lebensintensität assoziierten Infarkt-Tod starb. Bis heute am Leben ist hingegen unser Geschichtslehrer geblieben, der eine dritte und noch einmal andere Europa-Agenda hatte. Von einem Austausch-Jahr in der Patenstadt Rochester zurückgekehrt, beschrieb er die Heimat der GI’s auf den Straßen unserer Stadt und schwärmte von der für uns eher nebulösen Möglichkeit einer Zukunft in den „Vereinigten Staaten von Europa.“
Erst im viel späteren Rückblick sind Dr. Kurt Fina, Erwin Engel und Josef Fick (Gymnasiasten in Bayern waren damals gehalten, ihre Studienräte als „Herr Professor“ anzureden) für mich zu frühen Europäern, ja beinahe zu Propheten der Europäischen Union geworden. Trotzdem halte ich für bemerkenswert bis faszinierend eher die gegenläufige Tatsache, dass jene kalte Schulter, über die wir Schüler mit zehn, fünfzehn oder achtzehn Jahren auf Europa blickten, bis heute die kalte Schulter einer Mehrheit von Europäern geblieben ist – selbst in der europäischen Modell-Nation Deutschland. Breite Begeisterung oder gar starke Gefühle hat das Projekt nie und nirgends entfacht. Stets ist es als ein Plan der politischen Vernunft und der eher gymnasialen Zukunftshorizonte erlebt worden, und manchmal frage ich mich aus meiner pazifischen Ferne von heute, ob ihm nicht immer noch ein Schuss jenes weiter als gefährlich geltenden Nationalismus fehlt, den wir so unendlich weit hinter uns gelassen haben wollen. Nur, was für ein Nationalismus sollte das sein? Und hatte es nicht zu den Dauer-Zielen der EU gehört, gerade die Nationalismen zu überwinden?
Vielleicht wäre Europa schon etwas geholfen, wenn klar würde, dass der Begriff der Nation ein Produkt der Aufklärung war – und nicht der in politischer Hinsicht eher verrufenen Romantik. Ideengeschichtlich gesehen ersetzte er beinahe übergangslos die von der Vernunftkritik in Verruf gebrachte Institution der Monarchie „von Gottes Gnaden“, in der man sein Leben als Geschöpf Gottes und als Untertan eines Königs verbracht hatte. An die Stelle des Monarchen im Status eines Souveräns trat die Souveränität des Volkes, dessen Einheit als Nation sich für Denker wie Herder, Kant oder Fichte „natürlich“, das hieß aus der lokalen Tradition einer Sprache, einer Kultur und auch einer Ethnie ergeben haben sollte. Bald wurden dieser Grundgedanke und seine Werte dann zur Matrix für drei verschiedene Strukturen des Nationenbegriffs – und seines jeweiligen politischen Potentials.
Wo sich – erstens – die Ablösung der absoluten Monarchie in einer gelungenen „bürgerlichen“ Revolution vollzogen hatte, also vor allem in England und in Frankreich, überschoss die Energie des jeweiligen Nationenbegriffs bald seine territorialen Begrenzungen. Die von England ausgehende koloniale Expansion war wie die europäischen Eroberungsfeldzüge Napoleon Bonapartes begleitet von dem ebenso hochfliegenden wie ernst gemeinten Anspruch, anderen Völkern die Werte der individuellen Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz innerhalb nicht mehr national begrenzter Reiche zu vermitteln. Strukturell gesehen folgte selbst die Oktoberrevolution von 1917 noch diesem Muster, wenn sie von ihrer Zukunft eine permanente und Welt-Revolution erwartete.
Gerade die napoleonischen Feldzüge und europaweiten Besatzungszeiten aber machten den kulturellen Nationen in den unterlegenen Monarchien schmerzhaft bewusst, dass ihnen selbst der bahnbrechende Schritt einer Revolution – und im Fall von Italien oder Deutschland: auch der nationalen Einigung – nie gelungen war. So entstand dort ein – zweiter – nicht der über-nationalen Zukunft sondern einer idealisierten nationalen, meist mittelalterlichen Vergangenheit zugewandter Nationenbegriff, eben der Nationenbegriff der Romantik. Er war mit der Aggressivität des Ressentiments geladen und von Träumen über das eigene Gewalt-Potential vergiftet. Nicht zufällig inszenierte sich die erste deutsche Reichsgründung nach dem preußisch-französischen Kriegs im Januar 1871 als Wiederkehr des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation aus dem Mittelalter.
Zugleich entstand ein – dritter – Nationenbegriff im gedemütigten Frankreich der neu gegründeten „Dritten Republik“. Er folgte der (nicht nur) christlichen Logik der erhofften Erlösung von einer Situation, die unter dem Verlust früherer Gnade litt – und ihn durch ein Opfer in einen Zustand der neuerlichen Gnade umkehren wollte. Die Kirche von Sacré Coeur auf dem Montmartre von Paris zum Beispiel ging aus einer in diesem Sinn ausgelegten und verstandenen nationalen Buß-Kollekte hervor. Außerhalb Frankreichs wurden solche nationalen Erlösungs-Träume und affektiven Erlösungs-Investitionen bald nach dem Ersten Weltkrieg – vor allem wieder in Italien und in Deutschland – zur ideologischen Grundlage der faschistischen Bewegungen.
Eine Rückkehr des Nationalismus in faschistischer Form ist der europäischen Bewegung – trotz aller Unkenrufe während der sogenannten „Studentenrevolution“ von 1968 und ihrer Nachbeben – glücklicherweise erspart geblieben. Andererseits aber hat der Gedanke vom „Vaterland Europa“, wie meine Lehrer gerne sagten, nie die Energie jenes – ersten – Typs von Nationalismus entfaltet, der über seine ursprünglichen Ziele hinauszugehen vermochte. Denn die Vorstellung von einer vielsprachigen und multikulturellen „Heimat“ ist wohl für die meisten Europäer bis heute allzu abstrakt und fragmentiert geblieben; außer ihrer gemeinsamen Währung hat die Union nie Werte mit einer Aura der Innovation geschaffen; und im Blick auf weltpolitische Ziele und Krisenlagen hat sie sich beständig eine eigenartige (oder einfach nur bequeme) Zurückhaltung auferlegt. Vor allem aber war – mit der möglichen Ausnahme Deutschlands wohl – die Furcht vor nationaler Fremdbestimmung stets größer als die von gemeinsamer Stärke befeuerte Europa-Euphorie.
Vor allem während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte hat sich deshalb in der Europäischen Union statt einer Transformation des aus der Tradition ererbten Nationalismus in transnationale Energie eine vielfache Wiedergeburt des ressentimentgeladenen, zweiten, „romantischen“ Nationalismus ereignet. Seine sichtbarste – und aus der Vergangenheit vertrauteste – Form hat er wohl in Frankreich mit dem anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg der Familie Le Pen und ihrer Partei bis in die Nähe des Präsidentenamts entwickelt. In Spanien hingegen ist ein schon immer vielfach gebrochenes Nationalgefühl mittlerweile in mehrere neue Nationalismen implodiert, deren Kritik sich vor allem auf den existierenden Nationalstaat als Antagonisten und als Statthalter abstrakter europäischer Machenschaften richtet. Keinesfalls hat die Gegenwart der Europäischen Union also die Hoffnung erfüllt, den Nationalismus schlechthin als politischen und kulturellen Bezugsrahmen hinter sich zu lassen. Vielleicht war dies vom Beginn an bloß ein einseitiger Traum der Intellektuellen unter den Politikern.
Eine Wiederbesinnung auf Charles de Gaulles Vision vom „Europa der Vaterländer“ muss unter diesen Bedingungen der Gegenwart halbherzig wirken, während ein Abschied von der Union in vieler Hinsicht allzu kostspielig würde. Vielleicht hat sich Europa also in jenen Momenten der Vergangenheit zu permanenter Form- und Energielosigkeit verdammt, als es die Chance versäumte, einen ganz anderen Nationalismus zu entdecken, zu entfachen und zu kultivieren.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann