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Situation in der Türkei

Ein Prosit auf die Demokratie

Der illiberale Geist der Regierungspartei, der sich in der Türkei nach dem Putsch in Verhaftungswellen äußert, wird sicherlich für die Stabilität des Staates, aber insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger im Land verheerende Konsequenzen haben. Der Verlust demokratischer Werte ist gefährlich.

Deniz Bayraktaroğlu
Studierender SPE | Sociology, Politics and Administration
 
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    Zur Person
    Deniz Bayraktaroğlu

    Deniz Bayraktaroğlu studiert Soziologie, Politik und Ökonomie in Friedrichshafen mit Aufenthalten in Peking, Tel Aviv und Istanbul. Als studentischer Senator engagierte sich Deniz hochschulpolitisch an der Zeppelin Universität, sammelte praktische Erfahrungen im diplomatischen Dienst, der Beratung und in der Berliner Start-up-Szene. Sein persönliches wie akademisches Interesse hat momentan seinen geographischen Schwerpunkt im Nahen und Mittleren Osten.
    Deniz ist in Berlin geboren und aufgewachsen.

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Als Student lebte ich zum ersten Mal in der Türkei, einem Land, das schon immer ein Teil von mir war, ich aber bisher nur aus Familienurlauben kannte. Der Campus meiner Universität am Bosporus wurde für mich zur Metapher für eine Türkei, die ich mir so sehr gewünscht hatte: Modernität, Fortschritt und Weltoffenheit; Gleichberechtigung zwischen Professorinnen und Professoren; Bier mit Sicht auf die Meerenge zwischen Europa und Asien; Kopftuch und Tattoo als so gegensätzliche, aber dennoch selbstverständliche wie tolerierte Symbole auf dem Campus.

Kampfflugzeuge über Istanbul und Ankara, Zivilisten gegen Panzer, ein umstrittener Präsident, der nicht fallen wollte: Der Putschversuch am 15. und 16. Juli brach völlig überraschend über die Türkei herein, verlief blutig und forderte vor allem im Nachgang viele politische Opfer: Mehr als 290 Menschen getötet und mehr als 2.100 Menschen verletzt. Das Parlament, der Präsidentenpalast und einige der Einheiten, die an dem Putsch nicht teilgenommen hatten, wurden bombardiert. Nach dem Putschversuch wurden die Armee und andere staatliche Institutionen radikalen Maßnahmen unterzogen, mehr als ein Drittel der Offiziere im Generals- und Admiralsrang wurden verhaftet, 3.185 Armeeangehörige wurden unehrenhaft entlassen, 2.500 Richter abgesetzt und 10.000 Pässe für ungültig erklärt.
Kampfflugzeuge über Istanbul und Ankara, Zivilisten gegen Panzer, ein umstrittener Präsident, der nicht fallen wollte: Der Putschversuch am 15. und 16. Juli brach völlig überraschend über die Türkei herein, verlief blutig und forderte vor allem im Nachgang viele politische Opfer: Mehr als 290 Menschen getötet und mehr als 2.100 Menschen verletzt. Das Parlament, der Präsidentenpalast und einige der Einheiten, die an dem Putsch nicht teilgenommen hatten, wurden bombardiert. Nach dem Putschversuch wurden die Armee und andere staatliche Institutionen radikalen Maßnahmen unterzogen, mehr als ein Drittel der Offiziere im Generals- und Admiralsrang wurden verhaftet, 3.185 Armeeangehörige wurden unehrenhaft entlassen, 2.500 Richter abgesetzt und 10.000 Pässe für ungültig erklärt.

Am Anfang schien es für mich so, als hätten insbesondere die jungen Leute alte gesellschaftliche Unterschiede und Denkweisen überwunden. So verbrachten unterschiedlichste Menschen ihre Nachmittage zusammen auf dem Campus – bei Bier, Cay, Gitarren- und Sazmusik. Dabei war es egal, woher man kam oder welcher Glaubensrichtung man angehörte. Was zählte, war die Musik und das Beisammensein. Ganz einfache Dinge eben. Die junge Generation auf dem Campus – ja, ich gebe zu, der Raum der Universität ist ein spezieller Raum – hatte also für mich jegliche Form von alter politischer Denke überwunden. Das Kopftuch war kein Zeichen der religiösen Rückständigkeit mehr. Es gehörte einfach dazu – genauso wie der Typ mit dem Tattoo.

Die Nacht, in der die Kampfjets zum ersten Mal seit Langem wieder tief über den Dächern flogen, hat für mich und viele andere dieses Bild der Türkei verändert. Schon als meine Mitbewohnerinnen und ich von den Gerüchten eines Putschversuches hörten, wurde uns schlecht. Im Laufe der Nacht wandelte sich diese Übelkeit in Taubheit, Angst und Neugier: Wir hatten Angst, bombardiert zu werden, setzten uns aber dennoch aus lauter Neugier auf die Stufen vor dem Hauseingang. Aber nicht zu nah an die Fensterscheiben, denn die Fenster des Hauses neben uns waren schon angebrochen. Die Straßen waren wie leergefegt. Im Café gegenüber unserer Wohnung lief der Staatssender TRT. Plötzlich blieb das Bild stehen. Erst dachte ich, es sei ein technischer Fehler. Ich irrte mich, denn genau in diesem Augenblick hatten die Putschisten das Gebäude gestürmt und den Fernsehsender mit Gewalt übernommen. Die Putschisten hatten nun die Kontrolle.

Istanbul, die Heimat der Hagia Sophia, steht für die Multikulturalität und Lebhaftigkeit der Türkei – und gleichzeitig für Traditionsbewusstsein und eine reiche Geschichte. 2010 als Kulturhauptstadt Europas ausgezeichnet, vereint die Metropole am Bosporus viele Kulturen. Ihre Einwohner sind ein Sinnbild für Diversität, erklärt Schriftsteller Petros Markaris: „Istanbuler ist weder eine Ortsbezeichnung noch hat er mit der Geburt oder direkt mit den Familienursprüngen etwas zu tun. Vielmehr nennen sich Istanbuler jene Bewohner der Stadt, welche deren langjährige Geschichte und Kultur von der byzantinischen bis zur osmanischen Zeit als ein kontinuierliches Ganzes verinnerlicht haben. Diese alteingesessenen Einwohner, ob Türken, Armenier, Griechen oder Juden, nennen sich zuerst Istanbuler, weil sie Istanbul mehr geprägt hat als ihre nationale oder religiöse Zugehörigkeit.“
Istanbul, die Heimat der Hagia Sophia, steht für die Multikulturalität und Lebhaftigkeit der Türkei – und gleichzeitig für Traditionsbewusstsein und eine reiche Geschichte. 2010 als Kulturhauptstadt Europas ausgezeichnet, vereint die Metropole am Bosporus viele Kulturen. Ihre Einwohner sind ein Sinnbild für Diversität, erklärt Schriftsteller Petros Markaris: „Istanbuler ist weder eine Ortsbezeichnung noch hat er mit der Geburt oder direkt mit den Familienursprüngen etwas zu tun. Vielmehr nennen sich Istanbuler jene Bewohner der Stadt, welche deren langjährige Geschichte und Kultur von der byzantinischen bis zur osmanischen Zeit als ein kontinuierliches Ganzes verinnerlicht haben. Diese alteingesessenen Einwohner, ob Türken, Armenier, Griechen oder Juden, nennen sich zuerst Istanbuler, weil sie Istanbul mehr geprägt hat als ihre nationale oder religiöse Zugehörigkeit.“

Am nächsten Morgen kam dann aber alles anders. Geweckt wurde ich von einer SMS, die erklärte, dass der Putschversuch verhindert wurde. Alle Bürger wurden dazu aufgerufen, das Land und seine Demokratie auf den Straßen der Türkei zu verteidigen. Schon am frühen Abend folgten Millionen Menschen dem Aufruf der Regierung und kamen zusammen, um anti-kemalistische und religiöse Parolen zu skandieren. Warum spielte Religion plötzlich wieder so eine wichtige Rolle? Hatte man sich über Nacht dafür entschieden, die religiösen Werte aus den Schubladen zu holen? Wie ließ sich die Dynamik auf den Straßen erklären?

Der kemalistische Laizismus wird oft als das Gegenstück des europäischen Säkularismus beschrieben. Dies ist nicht vollkommen korrekt, denn im Grunde sind sich die beiden Ideologien in vielen Aspekten sehr ähnlich. Allerdings war der europäische Säkularismus schon immer radikaler als jener, der in der Türkei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk etabliert worden war. Während der europäische Säkularismus eine strikte Trennung von Staat und Kirche etablierte und die Religion komplett aus allen staatlichen Institutionen verbannte, reichte Atatürk eine politische Kontrolle über die Religion aus. So sollte das Ministerium für religiöse Angelegenheiten schon ein Jahr nach der Gründung der Republik 1923 den Bürgern eine korrekte Form des Islam lehren. Ziel war es, alte Traditionen des Osmanischen Reiches aufzulösen. Die Religion verschwand also nicht ganz aus der türkischen Gesellschaft. So blieb der Islam neben dem Kemalismus weiterhin als ein wichtiger Identitätsfaktor bestehen. Lange Zeit hatte die kemalistische Elite die Überhand in dieser Beziehung.

Am andere Ende des Landes – weit weg von den strahlenden Farben der Hagia Sophia und den vielfältigen Kulturen Istanbuls – herrschen Leid, Krieg und Elend an der türkisch-syrischen Grenzen. Türkische Soldaten bewachen die eilends mit Klingendraht gesicherte Grenze zu Syrien nahe der Stadt Suruç. Auf syrischer Seite harren Zivilisten in der prallen Sonne aus. Sie sind vor der Terrormiliz IS geflohen. Das Bild aus dem Jahr 2014 hat sich kaum gewandelt: Vor wenigen Tagen überquerte die türkische Armee die Grenze zu Syrien mit Panzern – offenbar um Angriffe des Islamischen Staates auf türkische Grenzstädte blutig zu vergelten. Seitdem wird die Lage im Grenzgebiet immer verworrener: Während nahe des Flughafens von Diyarbakir Raketen einschlugen, geht Ankaras Armee weiter gegen die Kurden in Nordsyrien vor. Offenbar wurden dabei Zivilisten getötet. Die Türkei wies dies zurück, doch binnen weniger Tage forderte die neue Eskalation bereits 35 Tote.
Am andere Ende des Landes – weit weg von den strahlenden Farben der Hagia Sophia und den vielfältigen Kulturen Istanbuls – herrschen Leid, Krieg und Elend an der türkisch-syrischen Grenzen. Türkische Soldaten bewachen die eilends mit Klingendraht gesicherte Grenze zu Syrien nahe der Stadt Suruç. Auf syrischer Seite harren Zivilisten in der prallen Sonne aus. Sie sind vor der Terrormiliz IS geflohen. Das Bild aus dem Jahr 2014 hat sich kaum gewandelt: Vor wenigen Tagen überquerte die türkische Armee die Grenze zu Syrien mit Panzern – offenbar um Angriffe des Islamischen Staates auf türkische Grenzstädte blutig zu vergelten. Seitdem wird die Lage im Grenzgebiet immer verworrener: Während nahe des Flughafens von Diyarbakir Raketen einschlugen, geht Ankaras Armee weiter gegen die Kurden in Nordsyrien vor. Offenbar wurden dabei Zivilisten getötet. Die Türkei wies dies zurück, doch binnen weniger Tage forderte die neue Eskalation bereits 35 Tote.

Diese Rangfolge scheint sich nun unter der religiös-konservativen AKP umzukehren. Denn schon lange vor dem Militärputsch war Kritik am Kemalismus salonfähig geworden: Im türkischen Parlament sprach man sich gegen die kemalistische Staatsideologie und die Person Atatürks aus, was vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Spätestens seitdem die Menschen auf den Plätzen der türkischen Städte religiöse und anti-kemalistische Parolen skandieren dürfen, scheint diese alte Rangfolge aber komplett überwunden. Das Problem daran ist nicht die Rückkehr der Religion, das Problem liegt vielmehr in der Intention der Regierung, die Religion zur Erreichung von parteieigenen Machtinteressen und zur Ausgrenzung von politisch Andersdenkenden zu instrumentalisieren.

Was passiert in der Türkei? Wer ist für den Putsch verantwortlich? Warum werden alle gefeuert und festgenommen? Kannst du dir noch vorstellen, in so einem Land zu leben? Es sind Fragen, die mir in den vergangenen Wochen oft gestellt werden. Der illiberale Geist der Regierungspartei, der sich in der Türkei nach dem Putsch in Verhaftungswellen äußert, wird sicherlich für die Stabilität des Staates, aber insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger im Land verheerende Konsequenzen haben. Der Verlust demokratischer Werte ist gefährlich.


Fraglich ist, ob der Mikrokosmus der Universität weiterhin so frei und friedlich bleiben wird und kann. Eine Prognose fällt mir schwer. Ich hoffe aber trotz allem, dass ich das nächste Mal, wenn ich in Istanbul bin, weiterhin friedlich und frei auf dem Campus feiern und trinken kann. Ich hoffe, Land und Leute anzutreffen, die glücklich in der Türkei leben. Diese Hoffnung in mir wird nur immer schwächer, wenn ich mir die Vorkommnisse der vergangenen Wochen, die Verhaftungen, Übergriffe und Einschüchterungen, durch den Kopf gehen lasse. Die Türkei ist nun polarisierter als je zuvor und die Wahrscheinlichkeit auf einen bunten Abend bei Bier und Cay am Bosporus wird von Tag zu Tag kleiner.

Der Artikel ist am 22.08.2016 im deutsch-türkischen Online-Magazin „renk.“ unter dem Titel „Die Türkei im Wandel – Eine persönliche Momentaufnahme“ erschienen.


Titelbild: 

| geralt / pixabay.com (CC0 Public Domain)


Bilder im Text: 

Lubunya / Eigenes Werk (CC-BY-SA 4.0)

| David Spender / flickr.com (CC BY 2.0)

| Fraktion DIE LINKE. im Bundestag / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)


Beitrag (redaktionell unverändert): Deniz Bayraktaroğlu

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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