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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Was mich als Adele-Süchtigen (ohne ihre Stimme kann ich derzeit kaum auskommen) zum Nachdenken über das Phänomen dieser heute weltweit erfolgreichsten Sängerin brachte, war der brummende Kommentar eines Einlasskontrolleurs bei ihrem Konzert vor Kurzem in der etwas heruntergekommenen Oracle Arena im kalifornischen Oakland, wo sonst die unvergleichlichen Golden State Warriors ihre Basketballshows abziehen: „Enjoy the evening – although they have trashed her for talking too much at the previous concerts“, sagte der alte Mann und schien mit den zitierten Journalisten („they“) die moralische Gewissheit zu teilen, dass sich Sänger vor zahlendem Publikum strikt auf ihre Lieder beschränken sollen.
Adele hatte natürlich auch von der Kritik erfahren und reagierte auf der Bühne in ihrem eigenen Stil: „I got bad reviews in San Jose. I was like, shut up dude, suck my dick.“ Einmal abgesehen von der, wörtlich genommen, wohl eher problematischen Unterstellung, dass sie über ein männliches Geschlechtsteil verfüge, löste dieser obszöne Satz bei den Adele-Fans im prüden Amerika einen Sturm der Begeisterung aus. Nach dem Abend in Oakland waren die sozialen Medien überschwemmt von Botschaften, denen zufolge Adele durch ihr Fluchen nur noch beliebter werde. Tatsächlich unterstreicht der gekonnte Fast-Dialog mit dem Publikum, für den sich Adele jetzt mehr Zeit nimmt, einen wichtigen Teil von ihrem Image: Es ist jene Dimension, von der die meisten Mütter meiner Generation der 60-jährigen noch verächtlich (und insgeheim schon etwas neidisch) als „gewöhnlich“ geredet hätten.
Manchmal stelle ich mir vor, wie Adele hinter den Kulissen einen Sprachlehrer (den dunklen Bruder von Professor Higgins aus „My Fair Lady“) beschäftigt, der ihre Sprache auf den gewöhnlichen Akzent der britischen Arbeiterklasse trimmt. Keine Gelegenheit lässt sie aus, um ihren ebenso „gewöhnlichen“ Mangel an Bildung oder ihre Neigung zur Rolle der „verdammten Drama-Queen“ zu unterstreichen – und bis zum Erscheinen ihres jüngsten Albums gehörte es wesentlich zu der aus ihren Liedtexten und aus knappen Andeutungen über ihr Privatleben entstehenden Kunstfigur, dass Adele „unglücklich in der Liebe“ sei. Das gab der Stimme in ihrem besten Lied „Someone Like You“ jene spezifische Affektaufladung, die unter die Haut geht.
Inzwischen ist Adele glücklich geworden. Sie lebt mit dem Eventunternehmer Simon Konecki zusammen, die beiden haben einen dreijährigen Sohn. Gemäß ihrem anscheinend sehr ernsthaften Authentitizitätsgrundsatz versuchen die Texte auf dem neuen Album „25“ den Umschwung so gut wie möglich nachzuvollziehen. Dies allerdings ist eine Herausforderung, an der schon andere gescheitert sind. Zunächst scheint ja – auch in der Welt der Klassischen Musik – die Assoziation zwischen großen Stimmen und den Welten des sozial „Gewöhnlichen“ auf einen nicht bloß zufälligen Zusammenhang zu verweisen. Das gilt für Enrico Caruso und Maria Callas genauso wie für Edith Piaf, Elvis Presley oder Amy Winehouse.
In Piafs Leben hatte das Gewöhnliche den hyperdramatischen Stich des Existentialismus (in einem Bordell aufgewachsen zu sein), bei Elvis den ambivalenten Flair der amerikanischen Südstaaten (der sympathische, gospelsingende Lastwagenfahrer mit seinem gelegentlich rassistischen Blick auf die Gesellschaft), bei Amy Winehouse die Drogenbanalität unserer Gegenwart. Weder Piaf noch Presley ist es bis zu ihrem Tod gelungen, eine Variante zu dieser Stimm- und Lebensidentität zu finden – und niemand ist daran so hilflos zerbrochen wie Amy Winehouse.
Adele setzt für den Übergang nun auf eine andere Spielart des Gewöhnlichen. Ohne auf Obszönitäten oder schockierende „Bekenntnisse“ plötzlich zu verzichten, was ihre bei den Fans etablierte Authentizität in Frage stellen müsste, inszeniert sie jetzt ihr gar nicht mehr so exzentrisches Leben und Aussehen als eines, das sie mit den allermeisten Frauen ihrer Generation teilt: „Wenn ich vor die Tür gehe, trage ich Leggins und ausgeleierte Pullis. Ich bin stolz darauf, so auszusehen wie die meisten Frauen auf der Straße oder im Supermarkt. Und nun eine Botschaft an die zehnjährigen Mädchen dieser Welt: Wenn eine wie ich es geschafft hat, dann könnt ihr es auch“, sagte sie vor Kurzem in einem Interview.
Natürlich setzt so ein Image (das natürlich Adeles Übergewicht einschließt) fast grenzenlose Identifikations- und Motivationspotentiale frei. Aber ich vermute (und hier könnte ein „Geheimnis“ liegen, das auch Adele selbst verschlossen bleibt), das Gewöhnliche hat nicht ausschließlich mit Identifikation zu tun. Primär ist die Faszination von Stimmen ja eine ihrer räumlichen Präsenz. Die Wirkung von technischen Reproduktionen dieser Stimme, so lesen wir bei Physikern und Medientheoretikern, bleibt hinter jener des Live-Erlebnisses kaum zurück. Diese Wirkung (wir nennen sie ganz einfach „Stimmung“) lässt sich durch eine Ökonomie steigern – oder auflösen. Wenn sich Adeles Präsenz in Berichten der Klatschpresse und in der Werbung beständig verströmte, dann müsste dies dem Unmittelbarkeitseffekt ihrer Lieder und Konzerte schaden.
Etwas Ähnliches gilt dann wohl auch für ihre Texte. Je gewöhnlicher die Texte von Adeles „25“ sind, je normaler, banaler und offener für die Identifikation der Durchschnittsfan-Frauen, desto weniger lenken sie von Adeles Stimme ab, die in ihren ganz großen Momenten ja nichts weniger ist als ein „Ausdruck“ ihrer Lebensgeschichte oder der eines ihr auf den Leib geschneiderten Images. Anders gesagt: Je deutlicher die Texte ihren Inhalt durch eine vorhersehbare (vielleicht heute bei Adele eher „kleinbürgerliche“ als „proletarische“) Gewöhnlichkeit neutralisieren, desto mehr rückt ihre Stimme als physisches Phänomen und als ein Phänomen der Erhabenheit ins Zentrum.
Ich vermute, dass wir Jahrhundertstimmen wie jene Adeles immer als eher tragisch denn glücklich wahrnehmen werden (deswegen wohl gibt es musikalisch-offiziell „tragische“ Stimmtypen, aber keine „glücklichen“). Vielleicht hat es damit zu tun, dass Stimmen unvermeidlich den Körper in seiner Fragilität und Endlichkeit ins Spiel bringen. Wie immer – es ist gewiss richtig, ganz große Stimmen gegenüber dem gelegentlichen Lebensglück ihrer Sängerinnen immun zu halten. Das genau gelingt Adele mit der Überdosis ihrer neuen Gewöhnlichkeit.
Der Artikel ist am 19.08.2016 auf „Frankfurter Allgemeine Zeitung Online“ unter dem Titel „Adeles loses Mundwerk“ erschienen.
Titelbild:
| CD-Cover "25" / Universal Music Publishing Group | UK
Bilder im Text:
| marcen27, Glasgow / Adele 3 (CC BY 2.0)
| https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47951806 (CC BY-SA 4.0)
| Egghead06, Own work (CC BY-SA 4.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm