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Alexander Ruser vertritt seit Januar 2016 den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie und promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich „Global Institutional Development“ am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Nach Forschungsaufenthalten in Südkorea und Japan wechselte er als Dahrendorf Fellow an die Hertie School of Governance in Berlin. 2013 war Alexander Ruser Visiting Dahrendorf Fellow an der London School of Economics and Political Science, bevor er im Januar 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an den Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften kam.
Im Dezember 2015 wurde die Habilitationsschrift „Science in Society: Implications for the Sociology of Knowledge and a Social Philosophy of Science“ fertiggestellt.
Alexander Ruser ist aktives Mitglied im internationalen Forschungsnetzwerk „A Social Philosophy of Science“ der russischen Akademie der Wissenschaften und Mitinitiator der Forschungsinitiative „Think Tanks in the Knowledge Society“ (Kooperation mit der Deutschen Universität Speyer und der Technischen Universität Chemnitz).
Der „Skandal“, insbesondere der „politische Skandal“, ist einerseits ein besonders interessantes, andererseits ein besonders schwer zu fassendes Phänomen. Skandale sind Kulminationspunkte politischer Geschichte, können Auslöser moralischer Debatten, Anlässe intellektueller Auseinandersetzungen und Katalysatoren sozialen Wandels sein. Nicht zuletzt sind sie aber auch ein Fest für die Medien, Gelegenheit zur kollektiven Empörung, Bigotterie und natürlich Klatsch und Tratsch.
Skandale können zu wichtigen Daten im kollektiven Gedächtnis werden und gewissermaßen pars pro toto als Ausweis bestimmter Probleme und Fehlentwicklungen stehen. Das bedeutet, dass Skandale, die immer in einem spezifischen sozio-historischen Kontext entstehen, über diesen hinausweisen können und somit zu einer Art „Lehrstück der Geschichte“ werden können. Die genauen Umstände der Dreyfuss-Affäre müssen – ebenso wenig wie der genaue Inhalt Emil Zolas „J´accuse“ – heute nicht mehr bekannt sein, um sie etwa als Beispiel für das ungute Zusammenspiel antisemitischer und antirepublikanischer Kräfte mit einer gut organisierten, „meinungsmachenden“ Presse heranziehen zu können.
Ein wichtiger Grund, warum Skandale einen solchen Erinnerungswert erlangen können, ist ihre Seltenheit. Skandale sind Abweichungen von der Norm, treten selten auf und folgen einer mehr oder weniger klaren Dramaturgie („Enthüllung“, „Dementi“, „neue Beweise“, „Zuspitzung“ usw.).
Ganz anders im aktuellen US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf: Unter der Überschrift „Clinton vs. Trump“ wird der amerikanischen und Weltöffentlichkeit seit Monaten eine Parade von Skandalen und Skandälchen präsentiert, die zwar bisweilen an die großen politischen Skandale erinnern („BenghaziGate“ etwa), ohne aber die gleiche soziale Bedeutung erreichen oder auch nur in Erinnerung bleiben zu können.
Man könnte das mit dem Hinweis auf die Besonderheiten des amerikanischen politischen Systems relativ leicht abtun. Präsidentschaftswahlkämpfe in den USA sind nun mal hochgradig personalisiert und das in Zweifelziehen der persönlichen Integrität der Kandidaten hat eine lange Tradition. Dennoch scheint das Duell „Clinton vs. Trump“, das die Skandalisierung zum Normalzustand erklärt, ein besonderer Wahlkampf zu sein. Dafür sprechen nicht nur die katastrophalen Zustimmungswerte der beiden Kandidaten – und das nicht etwa beim politischen Gegner, sondern in den jeweils eigenen Parteien. Die Skandale scheinen auch merkwürdig ritualisiert, sind immer nur Anlass für neue Skandalisierungen und niemals Ausgangspunkt echter Dispute über die Erneuerung der amerikanischen Demokratie.
In diesem Sinne ist die Skandalisierung vielleicht das letzte verbliebene Mittel politischer Kommunikation im post-visionären Amerika. Nach acht Jahren Barack Obama – einem in vielen Fällen an den politischen Realitäten gescheiterten Visionär und Hoffnungsträger – erleben die USA im Moment einen Wahlkampf zweier zutiefst reaktionärer Kandidaten.
Auf der einen Seite Donald Trump, den man als populistisch-progressiven Reaktionär beschreiben könnte. Trump ist in gewisser Weise die „logische Folge“ jahrzehntelanger konservativer Politik in den USA, die neben Anti-Intellektualismus vor allem die Heroisierung des Unternehmers – kaum ein konservativer Politiker, der nicht seine Bewunderung für die kapitalistische Trash-Autorin Ayn Rand zum Ausdruck brachte und bringt – und eine Idealisierung des „American Heartland“ predigte. Trump verspricht den „wahren Amerikanern“ (eine klassisch populistische Geste), die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen und das Amerika der 1960er-Jahre – freilich ohne Vietnam – im 21. Jahrhundert wiederherzustellen. Da er bereit ist, dafür massive politische Veränderungen herbeizuführen, kann er als progressiver Reaktionär bezeichnet werden.
Auf der anderen Seite Hillary Clinton, die man als moderierend-restitutive Reaktionärin bezeichnen könnte. Obwohl mit Clinton erstmals eine Frau das wichtigste politische Amt bekleiden könnte, bedeutet ihre Kandidatur und dann auch ihre Präsidentschaft eine Rückkehr zum „alten Washington“, den alten politischen Eliten und den traditionellen Netzwerken der schon in den 1950er-Jahren von Charles Wright Mills beschriebenen „Power Elites“. Hillary Clintons kommunikativer Stil ist zweifellos mehr auf Ausgleich und Vermittlung angelegt. Gleichwohl verspricht ihre Präsidentschaft keinen Aufbruch, keine Vision eines neuen Amerika. Clinton ist eine Kandidatin, die im Grunde ihre politische Erfahrung und Seriosität einzusetzen gedenkt, um die Vereinigten Staaten in den sicheren Hafen der prä-Obama- und prä-Bush-Ära zu steuern. Das macht sie bei Vertretern der traditionellen Elite – zunehmend auch bei den Republikanern – attraktiv. Eine Antwort auf die tiefgreifenden Veränderungen, die sich gegenwärtig in den USA abspielen und die massive Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit und damit den sozialen Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft haben werden , bleibt sie jedoch schuldig.
Solche Antworten verspricht Donald Trump – zumindest für die selbsterklärten und zum Teil auch tatsächlichen Verlierer der vergangenen Jahrzehnte. Trump verspricht die Sehnsüchte einer von Abstiegsängsten gequälten (weißen) Mittelschicht zu erfüllen und das „gute“ Amerika, eine fiktionale Version der 1960er-Jahre, zu restaurieren.
Somit bleibt beiden Kandidaten im Grunde nur die Integrität des Gegners anzugreifen, um so von der Ideenlosigkeit der Gegenseite und des eigenen Lagers abzulenken. Wenn keine Ideen auf abwegige Forderungen treffen, bleibt als Brennpunkt politischer Kommunikation nur der Skandal und die persönliche, in schrillem Ton vorgetragene Attacke. Weil diese aber nicht auf Themen abzielen kann, verfängt sie nur bedingt, provoziert nur Gegenangriffe und perpetuiert den Skandal als Dauerzustand.
Im Jahr 1955 veröffentlichte Isaac Asimov seine Kurzgeschichte „Wahltag im Jahr 2008“ (im Englischen „Original Franchise“). In der für Asimov fernen Zukunft sind die politischen Kandidaten einander so ähnlich, dass die Wahl praktisch vollständig autonom von dem mehrere Meilen langen Supercomputer MULTIVAC berechnet werden kann. Lediglich ein Bürger, der sogenannte WÄHLER, ist notwendig, um die Berechnungen unter Einbezug des menschlichen Faktors abschließen zu können.
Der Wahltag im Jahr 2016 scheint sich gänzlich anders zu präsentieren: Die Kandidaten scheinen maximal unähnlich und die Wählerschaft ist tief gespalten. Anstatt den menschlichen Faktor auf ein Minimum reduzieren zu können, wird der menschliche Faktor – in Ermangelung anderer Themen – zum dominanten Thema des Wahlkampfes. Viel wichtiger scheint aber, vor allem mit Hinblick auf die zukünftigen US-Präsidentschaftswahlen, die Rolle der Wähler und die Frage, ob sie eine Vision einfordern und vielleicht auch bekommen können.
Coverbild:
| Anna Black / Publicdomainpictures (CC 0 1.0)
Bilder im Text:
| Gage Skidmore / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Alexander Ruser
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann