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Dr. Tim Wegenast ist seit 1. September 2016 Vetretungsprofessor für den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen. In seiner Forschung konzentriert er sich auf vielfältige Forschungsthemen, die unter anderem Ressourcenreichtum und Gewaltkonflikte, politische Ökonomie der Entwicklungsländer, institutionelles Design und Bereitstellung öffentlicher Güter, Wirtschaftsgeschichte und Ungleichheiten in Lateinamerika umfassen.
Vor der symbolträchtigen Unterzeichnung des Friedensabkommens in der Stadt Cartagena betonte Santos stets, dass jeder Friedenprozess unvollkommen sei und eine perfekte Gerechtigkeit dem Frieden im Wege stehe. Laut dem Präsidenten orientieren sich viele Menschen an einer nach Vergeltung strebenden Gerechtigkeit anstatt eine restaurative Übergangsgerechtigkeit anzustreben. Das Ergebnis des Referendums zeigt denn auch, dass Vergebung oft schwieriger als Vergeltung ist. Für die Gegner des Vertrages hat die Regierung den Frieden unverhältnismäßig über die Gerechtigkeit gestellt. Das „Nein“ schwächt daher den Präsidenten, erschwert die Regierbarkeit des Landes und schließt das entstandene Zeitfenster für einen neuen Abschnitt in der kolumbianischen Geschichte nahezu komplett.
Ob der an Santos verliehene Nobelpreis es vermag, den schmalen Fensterspalt wieder etwas weiter zu öffnen, bleibt unklar. Um umfassendere Akzeptanz für das Friedensabkommen zu erzielen, sind weitgehende Zugeständnisse der FARC in etwaigen Nachverhandlungen nötig. Gleichzeitig muss Santos einen breiten Dialog mit den Vertragsgegnern eingehen und dabei insbesondere seinen politischen Kontrahenten und Amtsvorgänger Álvaro Uribe dazu bewegen, den Frieden über die eigenen politischen Ambitionen zu setzen. Angesichts eines geschwächten Präsidenten ein mehr als schwieriges Unterfangen.
Aussichtslos erschienen bereits die mehr als vier Jahre andauernden Friedensgespräche zwischen der Guerillaorganisation und der kolumbianischen Regierung auf Kuba, die mehrfach kurz vor dem Scheitern standen. An einem Tiefpunkt der Verhandlungen im Juni 2015 wurde gar ein spiritueller Lehrer und Friedensbotschafter aus Indien eingeschaltet, der den Kriegsparteien die gandhischen Prinzipien der Gewaltlosigkeit nochmals nahelegte. Die unkonventionelle Mediation zeigte Wirkung: Nur wenige Tage später beschloss die FARC einen Waffenstillstand. Ein gutes Jahr später verkündete Präsident Santos „das Ende des Leidens, des Schmerzes und der Tragödie des Krieges“ während der Unterzeichnung des Friedenvertrages.
Um dem Abkommen Legitimität zu verleihen, lies Santos jüngst in einem Referendum darüber abstimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von lediglich 37 Prozent sprachen sich 50,2 Prozent gegen den Vertrag aus. Die Gründe für das „Nein“ sind vielfältig. Zum einen deuteten Wahlprognosen auf ein komfortables „Ja“, was viele Befürworter scheinbar dazu verleitete, den Wahlurnen fern zu bleiben. Zum anderen hat es Präsident Santos versäumt, eine öffentliche Debatte über den Friedensvertrag zu führen. Die organisierte Zivilgesellschaft wurde nur sehr spät in den Prozess miteingebunden, der Vertrag dagegen zu komplex und der Öffentlichkeit in wenigen Wochen kaum vermittelbar. Darüber hinaus hat es Álvaro Uribe, einst politischer Weggefährte von Santos und nun erbitterter Gegner, geschafft, das „Nein“-Lager durch eine einfache und populistische Botschaft zu mobilisieren. „Frieden ist eine Illusion, das Havanna-Abkommen täuschend“, schrieb Uribe beispielhaft auf Twitter.
Besonders umstritten sind zwei Punkte im Friedensabkommen: der Strafnachlass für die einstigen Guerillakämpfer und ihre politische Integration mit Zuweisung von zehn der insgesamt 268 kolumbianischen Kongresssitze. Auch die im Vertrag vorgesehene Landreform wird von rechten Kräften im Land kritisiert. Dabei zeigen die Beispiele Südafrikas und Nordirlands, wie wichtig Amnestie und politische Integration als Eckpfeiler für andauernde Friedensbemühungen sind. Das Misstrauen gegenüber der Politik und der FARC ist schließlich ein weiterer Grund für die Ablehnung des Abkommens. Santos Popularitätswerte sind niedrig und immerhin ist die FARC für einen 52-jährigen Konflikt verantwortlich, in dem Morde, Entführungen und Drogenhandel auf der Tagesordnung standen. Der Krieg zwischen Regierung und Guerilleros verursachte mehr als 220.000 Tote und Millionen Vertriebene. Einst zog die FARC mit einer starken kommunistischen Orientierung viele Idealisten an, die für mehr soziale Gerechtigkeit, eine fairere Landverteilung und gegen Korruption einstanden. Seit vielen Jahren hat sie jedoch ihre Glaubwürdigkeit verloren.
Doch es gibt auch frohe und Optimismus verbreitende Botschaften: So unterstreicht etwa Rodrigo Londoño, Anführer der FARC, nach dem gescheiterten Referendum seine Bereitschaft, nur Worte als Waffe zur Gestaltung der Zukunft zu nutzen. Der beiderseitige Waffenstillstand, der weiterhin von der UN überwacht wird, wurde bis Ende Oktober verlängert. Selbst Uribe konnte sich nach Jahren erstmals auf eine Einladung Santos einlassen, um bei der Gestaltung eines neuen Abkommens mitzuwirken. Der frisch verliehene Nobelpreis gibt den Fürsprechern des Friedensprozesses dabei ein neues Herz (auch wenn er den Rivalen Uribe sauer aufstoßen lässt).
Klar ist aber auch: Im unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Fall, dass ein auf breiterem gesellschaftlichen Konsens basierender Friedensvertrag nachverhandelt werden kann, steht Kolumbien vor noch größeren Herausforderungen. Damit der Frieden nachhaltig ist, muss zum einen gewährleistet werden, dass ein von der FARC hinterlassenes Machtvakuum nicht von der „Nationalen Befreiungsarme“ (ELN), der zweitgrößten Guerillabewegung des Landes, oder von paramilitärischen Gruppierungen gefüllt wird. Zum anderen muss eine größere Ressourcengleichheit hergestellt werden. So herrscht im ländlichen, vom Neo-Extraktivismus geprägten Kolumbien ein Vakuum an Staatsgewalt, der von Aufständischen zur Errichtung von Gewaltökonomie und Parallelstrukturen ausgefüllt wird. Bauern dürfen Kokablätter etwa nur an Guerilleros für einen vorbestimmten Preis verkaufen. Zinn- und Wolframminen werden von FARC-Kämpfern betrieben. Es muss also verhindert werden, dass Kokaplantagen oder Minen lediglich den Pächter wechseln oder FARC-Mitglieder sich anderen Bewegungen anschließen.
Die Intensivierung der Friedensgespräche mit der ELN ist dabei ein erster Schritt. Es wird aber hauptsächlich davon abhängen, wie schnell der kolumbianische Staat die sozioökonomische Entwicklung von entlegenen Regionen vorantreiben kann. Dabei müssen Bauern beispielsweise bei der Umstellung von Kokablättern auf andere Agrarprodukte finanziell unterstützt werden – schließlich kann ein Frieden nur unter einer gerechteren Ressourcenverteilung gelingen. Eine umfassende Agrarreform ist zwar eine der sechs Einzelvereinbarungen im abgelehnten Friedensvertrag, doch wie schwierig es ist, eine Landreform zu beschließen und zu implementieren, zeigen Versuche in anderen lateinamerikanischen Ländern. Ohne eine stärkere soziale Inklusion wird der Konflikt auch nach einer möglichen FARC-Auflösung unter einem anderen Namen weitergeführt werden. Die FARC ist nicht die Ursache, sondern eher das Symptom der Probleme Kolumbiens.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Norma Gòmez / originally posted to flickr.com (CC BY 2.0)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Tim Wegenast
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm