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Justus Jeromin studiert seit September 2015 den Masterstudiengang „Corporate Management & Economics“ an der Zeppelin Universität und wird sein Studium voraussichtlich im Sommer 2017 abschließen. Zuvor studierte Jeromin in Ilmenau und verbrachte im Rahmen seines Studiums der Medienwirtschaft ein Semester in Tallinn. Praktika und berufliche Erfahrungen führten Jeromin bisher unter anderem zum Sharing-Economy-Start-up „useley“ nach München und mit dem Weltwärts-Freiwilligendienst nach Mexiko. Neben dem Studium ist Jeromin Schatzmeister des studentischen Radiosenders Welle20 und bemüht sich als Botschafter der Initiative Foodsharing um den Aufbau eines lokalen Netzwerkes in Friedrichshafen.
Israel bildet das Zentrum eines der komplexesten Konflikte des vergangenen Jahrhunderts, der bis heute andauert und für den sich auf absehbare Zeit keine Lösung abzeichnet. Die Auseinandersetzung, die bereits Generationen währt, hat viel Trauer, Frust und Wut auf beiden Seiten hinterlassen. Ein Resultat der daraus entstandenen Ressentiments ist die strukturelle Benachteiligung arabischer Israelis. Aber ist die Lage tatsächlich vergleichbar mit dem Apartheitsregime, wie es unter anderem der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter vor zehn Jahren behauptete und zuletzt wieder beim CNN anlässlich der UN-Resolution zur israelischen Siedlungspolitik prognostiziert wurde?
In der Unabhängigkeitserklärung Israels von 1948 heißt es: „Der Staat Israel […] wird volle soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse und des Geschlechts gewähren; er wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Sprache, der Erziehung und Kultur garantieren […]“. Und in der Tat wird Israel seit Jahren durchgängig von der Nichtregierungsorganisation Freedom House als freier, demokratischer Staat eingestuft – mit Spitzenwerten für die politischen Rechte im Land. Auch die Forschungs- und Analyseabteilung der Economist Group, die sogenannte „Economist Intelligence Unit“, verortet Israel in diesem Bereich im weltweiten Vergleich auf einer der führenden Positionen. Gibt es also gar kein Gleichbehandlungsproblem in Israel?
Nicht ganz, denn beide Organisationen fanden in Israel zwar offene, gleiche und faire Wahlen vor, strukturelle Diskriminierung findet aber dennoch statt: In ihrem aktuellsten Bericht attestiert Freedom House etwa einen sehr hohen Wert in der Kategorie Pluralismus und Teilhabe, obwohl sie konstatiert, dass arabische Bürger – trotz theoretischer Zusicherung von gleichen Freiheiten – in der Praxis nach wie vor diskriminiert werden. Dies passiert einerseits offen rechtlich: Die israelische Menschenrechtsorganisation Adalah führt derzeit über 60 Gesetze auf, die die arabische Minderheit strukturell benachteiligen. So ist es etwa Opfern von Gewalt und Zerstörung durch das israelische Militär in besetzten Gebieten kaum möglich, für diese Schäden Entschädigung zu erlangen. Gleichzeitig werden Spenden an Institutionen, die „zionistische Siedlungen“ vorantreiben, steuerlich begünstigt. Zudem findet – wenn auch weniger offen – Diskriminierung statt: So entschied das Oberste Gericht 2013 beispielsweise, dass die Registrierung der ethnischen Zugehörigkeit nach wie vor entsprechend der Religion durchgeführt werden muss, die Bezeichnung „Israeli“ sei nicht zulässig. Zwar wird die Volkszugehörigkeit seit 2005 zumindest nicht mehr auf den Personalausweisen aufgeführt, anhand der hebräischen Geburtsnamen seien Juden und Nichtjuden allerdings nach wie vor leicht zu identifizieren.
Freedom House kritisiert darüber hinaus bezüglich der Glaubens- und Ausdrucksfreiheit, dass Muslime seit Jahren immer seltener Zugang zum Tempelberg erhielten, palästinensische Journalisten an der Grenze zurückgewiesen und Schulen in nichtjüdischen Gemeinden weniger Fördergelder zugestanden würden. Die Weltbank fällt in Bezug auf die bürgerlichen Freiheiten in Israel ein ähnliches Urteil. Die „Economist Intelligence Unit“ beschied ihnen sogar nur mittelmäßiges Niveau.
Woher rührt nun diese Verwerfung zwischen gut ausgebauten politischen Rechten einerseits und umfassender Diskriminierung andererseits? Eine Ursache ist die einzigartige Verfasstheit des Staates. Israel verfügt über keine Verfassung, stattdessen wurden seit Staatsgründung zahlreiche Grundgesetze verabschiedet. Das 1992 verabschiedete Grundgesetz zu Menschenwürde und Freiheit beginnt mit dem konstitutiven Satz: „Der Zweck dieses Grundgesetzes ist es, die Menschenwürde und Freiheit zu schützen, um die Werte des Israelischen Staates als jüdischen und demokratischen Staat in einem Grundgesetz zu etablieren.“ Dieser Satz hat seit der Verabschiedung des Gesetzes zahlreiche Kritik erfahren mit dem Argument, dass Israel nicht den Anspruch erfüllen könne, gleichzeitig jüdisch und demokratisch zu sein. Zuletzt wurde diese Kritik prominent und besonders deutlich durch den ehemaligen US-Außenminister John Kerry geäußert. Immerhin: Die israelische Bevölkerung ist zu etwa 20 Prozent arabisch, weitere 5 Prozent sind ebenfalls nicht jüdisch. Wie fühlt es sich für ein Viertel der Bevölkerung an, als Nichtjuden in einem jüdischen Staat zu leben?
Die israelische Denkfabrik „Israel Democracy Institute“ erhebt jedes Jahr ein umfangreiches Stimmungsbild der israelischen Bevölkerung, den „Israeli Democracy Index“. Danach behaupten 45 Prozent der Bevölkerung, die jüdische Komponente in der Ausgestaltung des Staates sei zu dominant. 23 Prozent meinen wiederum, die demokratische Komponente sei zu dominant und 26 Prozent sagen, es herrsche eine gute Balance zwischen beiden. In der aktuellen Umfrage haben mehr als drei Viertel der befragten Araber die Meinung vertreten, dass Israel nicht das Recht habe, sich als jüdischen Staat zu definieren. Auf der anderen Seite sind mehr als die Hälfte der Juden der Meinung, dass Personen, die Israel nicht als Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen, ihr Wahlrecht verlieren sollten.
Die pluralistische Bevölkerungsstruktur spiegelt sich also in einem sehr vielschichtigen Meinungsbild wieder. Und es zeigt sich, dass auch das Thema der Verfasstheit des Staates aufgrund der langen Konfliktgeschichte und den vielen tragischen Erfahrungen auf beiden Seiten ein sehr emotionales ist. Hartung und Lange (2014) identifizieren es sogar als den zentralen Streitpunkt zwischen arabischen und jüdischen Israelis, ohne dessen Lösung sich das Verhältnis beider Gruppen nicht bessern könne. Dieses und viele weitere polarisierende Themen, an denen es im innerstaatlichen Bevölkerungskonflikt Israels leider nicht mangelt, haben das Potential, die Bevölkerung zunehmend zu fragmentieren. Die Diskriminierung der arabischen Minderheit ist eine Ausdrucksform dieser polarisierten und angespannten Situation.
Laut einer weiteren Erhebung im „Israeli Democracy Index“ sind allerdings nur 53 Prozent der jüdischen, aber 91 Prozent der arabischen Bevölkerung der Meinung, dass arabische Bürger diskriminiert werden. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es hier – wie auch bei vielen anderen Fragestellungen – eine erhebliche Differenz zwischen ultra-orthodoxen und säkularen Juden gibt. So antworteten etwa auch 26 Prozent der nicht-orthodoxen Juden, dass jüdische Bürger umfassendere Rechte haben sollten als nichtjüdische Bürger; bei den ultra-orthodoxen Juden sind es dagegen 58 Prozent. Es gibt also nicht nur weit auseinandergehende Meinungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, welche Rechte allen Bürgern zugestanden werden sollten. Vielerorts fehlt es auch an Bewusstsein für die diskriminierenden Umstände im eigenen Land.
2003 hielt die sogenannte Or-Kommision – benannt nach dem ehemaligen Richter des Obersten Gerichtshofs Theodor Or – in ihrem Abschlussbericht fest, der in Reaktion auf den Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000 entstand: „Die Handhabung des arabischen Sektors durch die Regierung war in erster Linie nachlässig und diskriminierend. Institutionen zeigten nicht ausreichend Sensibilität für die Bedürfnisse der arabischen Bevölkerung und haben nicht genug Maßnahmen ergriffen, um staatliche Ressourcen gleichmäßig zu verteilen. Der Staat hat nicht genug getan oder ausreichend Anstrengungen unternommen, um Gleichberechtigung für seine arabischen Bürger herzustellen […]“. Gleichzeitig kritisiert der Bericht auch, dass die arabische Führung keinerlei Vorkehrungen getroffen habe, um die Anwendung von Gewalt zu verhindern. In dasselbe Horn stieß damals auch das US Department of State in einem Bericht zu den besetzten Gebieten Israels: „Die Regierung hat wenig getan, um institutionelle, rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung von arabischen Bürgern des Landes zu reduzieren.“
Diskriminierung – empfundene wie reale – ist also keineswegs ein Relikt aus der Gründungszeit Israels. Doch wie wird sich die Situation im Land entwickeln? Gibt es Zeichen der Besserung oder steuert Israel tatsächlich auf das immer wieder beschworene Apartheitsregime zu?
Der Datenbank von Adalah lässt sich entnehmen, dass die Anzahl neuer restriktiver Gesetze in den vergangenen Jahren nicht nachgelassen hat. So wurde 2014 beispielsweise die Hürde für Parteien, um in die Knesset einzuziehen, von 2 auf 3,25 Prozent angehoben. Kritiker argumentieren, die Regelung benachteilige insbesondere Minderheiten wie Drusen und Araber. Auch in der Bevölkerung ändert sich etwas: Die Anzahl an Personen, die im Rahmen des „Israeli Democracy Index“ sowohl der jüdischen wie der demokratischen Komponente die gleiche Wichtigkeit beigemessen haben, sank in den vergangenen sechs Jahren von fast 50 Prozent auf heute etwa 26 Prozent. Gleichzeitig hat die einseitige Bedeutung nur einer der beiden Komponenten für die Befragten deutlich zugenommen. Die Verfasstheit des Staates polarisiert die Bevölkerung also zusehends.
Ein weiteres steigendes Konfliktpotential für die Zukunft ist die einzigartige Regelung zur Staatsbürgerschaft in Israel, die darauf ausgerichtet ist, die jüdische Mehrheit im Land zu bewahren. Die derzeitige Regelung, so argumentieren Kritiker, diene der Unterbindung der Niederlassung nicht-jüdischer Einwanderer und liefere die Legitimation für die Selbstidentifikation Israels als jüdischen Staat. Die unklare Regelung des Rechtsstatus nicht-jüdischer Einwanderer schüre gesellschaftliche Spannungen und Fremdenfeindlichkeit. Am deutlichsten zeigt sich die Diskriminierung der arabischen Minderheit möglicherweise an den Besitzverhältnissen von Land. Arabischer Landbesitz hat sich seit Staatsgründung 1948 drastisch verringert, vor allem durch Enteignungen durch den Staat bis in die 1970er-Jahre hinein. Der Erwerb israelischen Grund und Bodens durch arabische Bürger dagegen ist bis heute nahezu unmöglich.
Die Bildungschancen der arabischen Bevölkerung haben sich dagegen in den vergangenen 30 Jahren deutlich gebessert, was insbesondere dem tatkräftigen Einsatz und der Zusammenarbeit zahlreicher kleiner gemeinnütziger Initiativen und Organisationen wie dem „Center for Conflict Resolution and Reconciliation“, „Rabbis for Human Rights“ oder dem „Willy Brandt Center Jerusalem“ zu verdanken ist. Dennoch ist der Bildungsstandard der arabischen Minderheit nach wie vor deutlich geringer als der der jüdischen Israelis, insbesondere was die höhere Bildung betrifft. In der Privatwirtschaft hat sich die Benachteiligung von Arabern in den vergangenen 20 Jahren eher verstärkt, auch weil arabische Absolventen in Konkurrenzdruck zu jüdischen Israelis stehen und kaum Einzug in die für die israelitische Wirtschaft bedeutsame Hightech-Branche finden.
Insgesamt ist die Entwicklung ähnlich vielschichtig wie die Bevölkerung. Einerseits gibt es Besserungen, was die Benachteiligung der arabischen Bevölkerung angeht – etwa im Bildungssektor, dem vermehrten Bekenntnis der Bevölkerung zur demokratischen Grundlage des Staates und der gut organisierten Arbeit von NGO. Andererseits bestehen systematische Diskriminierungsmechanismen unter der rechts-konservativen Regierungskoalition fort und werden teilweise sogar erweitert. Die Regierungszusammensetzung ist dabei Ausdruck des zunehmenden Verdrusses vieler Wähler und der damit verbundenen Sehnsucht nach starker Führung. Der Oberste Gerichtshof in seiner Doppelfunktion als Berufungsinstanz und Oberstes Zivilgericht nimmt eine ambivalente Rolle ein, weil er auf Grundlage der nicht eindeutigen Grundgesetze entscheiden muss. So hat er in der Vergangenheit bereits zugunsten, aber auch entgegen der Rechte arabischer Bürger entschieden.
Ein Vergleich mit der systematischen Rassentrennung wie sie in Südafrika während der Apartheit üblich war, ist aufgrund der grundsätzlich vorhandenen demokratischen Komponente, die etwa frei Wahlen zulässt, nicht zutreffend. Letztlich hat es die Bevölkerung in der Hand, diese Komponente hochzuhalten und zu stärken, um einer weiteren Diskriminierung der arabischen Bevölkerung entgegenzuwirken.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Justus Jeromin
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm