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Prof. Dr. Dietmar Schirmer ist seit August 2015 Vertretungsprofessor für Empirische Policy-Forschung. Nach dem Studium in München und Berlin sowie der Promotion in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lehrte er an der Freien Universität Berlin, der Cornell University, der Universität Wien sowie der University of British Columbia und der University of Florida. Er war außerdem Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und ist Mitglied der American Political Science Association und des Council for European Studies.
Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der historisch-institutionalistischen vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Kulturforschung. Gegenwärtige Forschungsprojekte befassen sich mit dem Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und regionalen Minderheitennationalismen in der EU sowie mit der Staatsarchitektur Europas seit der Renaissance.
Emmanuel Macron ist zwar kein unbeschriebenes Blatt, aber was darauf geschrieben ist, ist unklar. Zarte 39 Jahre jung, ins Amt gekommen nicht auf dem Rücken einer der etablierten Parteien, sondern den Flügeln von „En Marche!“, das er praktischerweise selbst ins Leben gerufen hatte, Ex-Banker und Ex-Minister einer sozialistischen Regierung, Liberaler qua Selbstbekenntnis, vollständig unideologisch im Urteil vieler, die ihn kennen, und einer, der in diesem visionsbefreiten Europa europäische Visionen mit Pathos und Leidenschaft beschwört wie es seit Jacques Delors niemand geschafft hat – Macron ist eine Art schwebender Signifikant, auf den man projizieren kann, was immer einem beliebt.
Manche sehen in ihm einen unrekonstruierten Neoliberalen, dessen einzige Qualifikation fürs Amt darin besteht, nicht Marine Le Pen zu sein. Andere vermuten in ihm einen Third Way-Sozialdemokraten, vom gleichen Tuch geschnitten wie vor ihm Blair, Clinton (Bill, in diesem Fall) oder Schröder – was man angesichts der Reformresistenz der französischen Wirtschafts- und Sozialpolitik als Hoffnungszeichen nehmen mag oder als Anlass zur Verzweiflung, weil es ein weiteres Mal die ungebrochene Hegemonie des neoliberalen Projektes der Dominanz des Marktes über die Politik bestätigte. Überlagert werden diese Mutmaßungen zumindest für den Moment aber von dem in diesen Zeiten bemerkenswerten Umstand, dass hier einer eine Wahl gewinnen konnte, indem er sich ohne Wenn und Aber zur Europäischen Union bekannt hat – und zwar nicht im Sinne einer Zwangs- und Notgemeinschaft, der man zähneknirschend die Treue hält, weil die denkbaren Alternativen noch elender wären, sondern im Sinne eines Projektes, das noch viel weiter getrieben werden müsse, um sein historisches Versprechen einlösen zu können. Was Macron über die EU zu sagen hat, läuft darauf hinaus, schlussendlich jene politische Union durch politisches Handeln herbeizuführen, von der man einst in gut funktionalistischer Weise annahm, dass sie der Wirtschafts- und Währungsunion von selbst folgen würde.
Hinsichtlich der Entwicklung der europäischen Einheit sagt Macron die richtigen Dinge: Europäische Solidarität statt nationalistischem Protektionismus; Koordination und Harmonisierung der Finanz-, Fiskal- und Sozialpolitik; ein eigenes Budget für die Eurozone; der Kampf gegen das Handelsungleichgewicht, das der deutschen Wirtschaft einen absurden Exportüberschuss nach dem anderen beschert; eine soziale Wachstumsperspektive für die Länder, die erst unter die Räder der Staatsschuldenkrise gerieten und dann von der Austeritätsmetaphysik des deutschen Ordoliberalismus überfahren wurden. Programmatisch liefe das darauf hinaus, der erfolgreichen negativen Integration – also der Freisetzung des europäischen Marktes – endlich die bislang stets gescheiterte positive Integration – also die Schaffung politischer Institutionen zur Domestizierung des Marktes – zur Seite zu stellen.
Und dann überlegt man, wie das gelingen soll angesichts der Kakophonie der nationalen Egoismen und der Heterogenität der wirtschaftlichen und sozialen Lagen in Europa. Hat nicht Friedrich August von Hayek schon in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts argumentiert, dass die Föderierung Europas der rechte Weg sei, um die lästigen politischen Interventionen in den Markt loszuwerden? Haben nicht etwa Fritz Scharpf oder Stefano Bartolini Hayeks Analyse überzeugend bestätigt – wenn auch mit anderen normativen Präferenzen –, indem sie nachwiesen, wieso negative Integration vergleichsweise leicht von der Hand geht und positive Integration nicht beziehungsweise wieso die europäische Integration die Sozialstaatlichkeit untergräbt – und zwar inhärent und unabhängig von den programmatischen oder ideologischen Vorlieben der Akteure in den Institutionen der EU?
Man denkt an die Nationalisten in den Regierungen einiger Mitgliedsstaaten und wird pessimistisch. Aber vielleicht, mag man sich trösten, lässt sich das ja überwinden – Stichworte: Kerneuropa, Eurozone, Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dann hört und liest man, was ranghohe Politiker in der Bundesrepublik zu Macrons Europaideen zu sagen haben, und alle Hoffnung schwindet dahin. „Dead on arrival“ ist in der US-Politik die Redewendung, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Gesetzesvorschlag des Repräsentantenhauses im Senat keine Chance habe; „dead on arrival“ fasst zusammen, was aus Unionsparteien und FDP zu Macrons Vorstellungen zur Wiederbelebung der europäischen Einigung zu hören ist.
Gewiss, man müsse, so heißt es, dem französischen Präsidenten hilfreich zur Seite stehen. Das scheint sich aber ausschließlich auf die Vorhaben zur Binnenreform zu beziehen: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes etc. Wenn es um die EU geht, kommen viele beherzte Neins: Nein, die institutionelle Architektur der europäischen Finanz- und Stabilitätspolitik müsse nicht verändert werden; nein, an den Verträgen sollte nicht geschraubt werden; nein, Eurobonds seien nicht hilfreich – Frankreich und Europa litten nicht an zu wenig Schulden (als ob es darum ginge). Und, nein, eine Politik der Eindämmung der deutschen Exportüberschüsse brauche es ganz und gar nicht, denn es könne ja nicht darum gehen, dass Deutschland schwächer, sondern dass die anderen stärker werden.
Besonders das letzte Argument zeugt von einer bemerkenswerten intellektuellen Trägheit, die sich nur schwer erklären lässt. Vielleicht hat sie damit zu tun, dass – als mit dem Ende der D-Mark den Deutschen eine zentrale Stütze ihrer Nachkriegsidentität verloren gegangen war – der Exportüberschuss zu einer Art Ersatzfetisch der Nationalsymbolik geworden war.
Dabei sind die enormen deutschen Exportüberschüsse keineswegs der gerechte Lohn des Marktes für die Weitsicht deutscher Unternehmer oder die Innovationsleistungen des Ingenieurwesens, sondern in erster Linie die unintendierte Spätfolge der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften ab den frühen 1990er-Jahren, als man mit dem „Jobs gegen Lohnverzicht“-Deal auf die Beschäftigungskrise reagierte, die die vereinigte Bundesrepublik im Zuge der Deindustrialisierung der vormaligen DDR ereilt hatte. Das war in dieser historischen Situation durchaus vernünftig – und wäre es auch geblieben, wenn man gewusst hätte, wann es damit genug ist. Denn ab 2002, als die Bundesrepublik nach der Vereinigungsdelle wieder Leistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen begann, konnte von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit keine Rede mehr sein. Nun wäre eigentlich eine Phase höherer Tarifabschlüsse angezeigt gewesen, um die Arbeitnehmer für die Jahre des Verzichtes zu kompensieren und eine gewisse Balance zwischen Exportorientierung und Binnennachfrage zu bewahren. Stattdessen wurde mit der Agenda 2010 noch einmal nachgelegt, mit dem Resultat, dass die Stücklohnkosten in Deutschland in der gesamten Periode 1990 bis 2010 relativ zu anderen EU-Ländern sanken, und zwar in einem dramatischen Ausmaß. Die Kehrseite der tollen Leistungsbilanz sind die schwindende Beteiligung der Beschäftigten am Ertrag – und die Schulden der anderen. Wer von den deutschen Exportüberschüssen nicht reden will, soll von Verelendung in Griechenland und massenhafter Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Italien schweigen.
Damit sind wir wieder bei Macron – und der Rolle der Bundesregierung, von der es nun tatsächlich abhängt, ob er eine Chance haben wird oder nicht. Man sollte sich so schnell wie möglich darüber klar werden, dass die Reform der EU und die des französischen Staates zusammengehören. Ohne das eine wird Macron am anderen genauso scheitern wie seine sämtlichen Vorgänger seit Jacques Chirac. Es geht letztendlich um die Balance zwischen Marktintegration und gesellschaftlicher Integration, und in Macrons Programmatik sind die Reformen im Inneren auf die Stärkung des Marktes, und die der EU auf die Stärkung sozialer Solidarität gerichtet. Wenn die Bundesregierung, ohne die in Europa nun einmal gar nichts läuft, zum einen „Ja“ und zum anderen „Nein“ sagt, reicht sie Macron nicht die Hand, sondern den Giftbecher. Denn eine gesellschaftliche Koalition, die Macrons Präsidentschaft tragen könnte, wird es dann nicht geben.
Nach Schließung der Wahllokale brauchten die Damen und Herren von der Union (und von der FDP, aber die ist im Moment nicht so wichtig) keine 24 Stunden, um die Franzosen wieder in Sachen Schulden und Haushaltsdisziplin zu beschulmeistern. Man kann das machen. Man sollte sich dann aber darauf einstellen, das Ganze in fünf Jahren noch einmal zu besprechen. Mit Präsidentin Le Pen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm