ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Beinahe 30 Grad am letzten Mai-Wochenende, die Medien berichten übers Wetter, wie immer, als ob sich dahinter die Launen eines verwöhnten Teenagers verbärgen, und in den ausgebuchten Berliner Hotels lösen zum DFB-Pokalendspiel angereiste Edelanhänger aus Frankfurt und Dortmund die frisch erbauten Teilnehmer des Evangelischen Kirchentags ab. Samstagmorgen und Samstagnachmittag werden so zu einem breiten Päuschen für lauschige Biergärten unter Lindenbäumen, wo sich Traditionen deutscher Freizeitkultur und die Modetrends des beginnenden Sommers begegnen. Zum Beispiel im Innenhof des „Schwarzen Kaffees“ auf der Kantstraße, das tagesübergreifend Frühstücksgedecke anbietet, sodass sich kein Spätaufsteher diskriminiert fühlen muss. Verliebt blinzelnde lesbische Paare sitzen dort, pensionierte Stammtischbrüder vor Bierkrügen und Enkelkindern, jungverheiratete Beamtentypen über einem geteilten Schnitzel, und die rot- oder gelb-bunten Fans natürlich, die noch so viel Zeit bis zum Anpfiff totschlagen müssen.
Sie alle, was immer ihre speziellen Wochenendpläne sein mögen, sehen aus, als wollten sie den Sommer begrüßen wie eine sechs Wochen weiter verschobene Version des Osterspazierganges aus dem „Faust“. Entsprechend hoch liegt die Stimmung, locker, wie man immer noch gerne sagt, etwas verschwitzt schon und spürbar glücklich mit sich selbst. Mehr rasierte Glatzen als je zuvor registriere ich auf den Plätzen und im „Schwarzen Kaffee“, deutlicher denn je scheinen sie auch den Status eines traurigen Schicksals hinter sich gelassen zu haben und zu einem Konvergenzpunkt von positiven Gefühlen und Statements geworden zu sein. Ein Statement von unbestimmt-inhaltsfreier Radikalität vor allem, denn wer sich mit einer gewollten (also säuberlich gepflegten) Glatze zeigt, der will freundliches Aussehen nicht nötig haben, und dazu wiederum gehört der Anspruch eines sogenannten „Charakterkopfes“ (der leichter erhoben als gehabt ist). Denn Schädel in Stabform oder ohne Rundung über dem Hals, große Köpfe mit flachen Gesichtern oder Segelohren an kleinen Köpfen wecken ja eher genetische Neugierde, als dass sie differente Charaktere tiefsinnig zum Ausdruck bringen. Eher schon führen unter glatter Haut hervortretende Gefäße und besonders Narben zu unverhohlen individuellen Profilen zurück.
Keinesfalls hat die Glatze ihren Beliebtheitszenit überschritten — eher lässt sie, mittlerweile best-etabliert, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Supplement eines Ohrringes erwarten. Hier zeigt sich eine empirische Norm der Gegenwart, welche historische Erklärung verlangt. Denn früher einmal muss ja die weiter unbestritten männliche Glatze wie ein Widerspruch zu jener Genderliberalität geleuchtet haben, als deren Symbol der Ohrring längst gilt. Ein möglicher Standard unterstellt, dass sich Biergarten-Männlichkeit solche Exzentrizitätsgesten allemal leisten kann. Oder wagt sie gar einen Schuss von Ambiguität? Soziologisch gesehen wird man allemal das Fazit ziehen, dass eine frühere Abweichung jetzt zur Norm geworden ist, womit Aufklärung als Überwinden „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (wie jedermann vom Kulturfernsehen weiß), symphonisch fast, zu populärer Erfüllung gelangt.
Doch auf ihrem Vormarsch durch die Gesellschaft bringt Vernunft auch spezifisch nationale Verkörperungen hervor. Zur Ohrring-unterlegten Glatze gehört als Berliner Frühsommergeste ein Wulst im Nacken, wie er schon die frühe Photo-Würde von Generälen aus dem Ersten Weltkrieg ausmachte. Ohne ihn bliebe die Radikalität der Glatze ein Willensphänomen ohne Substanz, während der Wulst, wie er sich über die Schultern ausbreitet, Gestalten zu lebendigen Büsten macht. So rahmen denn Nackenwulst und Glatze den Ohrring ein und stellen sicher, dass kein Flirt mit Geschlechterambiguität sich je zu einer Tatsache versteift. Denn Erich Ludendorff, ahnt der historisch gebildete Zeitgenosse, oder Paul von Hindenburg gar hätten Ohrringe rundum verweigert.
Die nie ganz schweißfreien Fleischbüsten gehören zur Welt des Monumentalen, wo die Entschlossenheit von Formen mögliche Bedeutungen allemal überschießt. Zum Bildschirm der Kommunikation aber ist anstelle der ordensbesetzten Brust von einst das nie ganz Zeichen-freie T-Shirt als obligatorische Oberkörperbekleidung geworden. Im einfachsten, das heißt: sportlichsten Fall zeigt es Farben und Embleme, meist aber auch den Werbepartnernamen eines Lieblingsclubs, mittlerweile oft in Retroversionen, welche das Prestige eines selbstironischen historischen Bewusstseins erheischen — um von der Namens- und Nummernfülle der Trikotrückenseiten erst gar nicht zu reden, die sich in ihrer Fülle allein dem in die Jahre gekommenen Fussballfreund als hermeneutischem Meister erschließt.
Doch Fussball ist nur eine von vielen Inhaltsmodalitäten. Neben ihr existieren die diskreteren Welten der Kirchentagsshirts, der mehr oder weniger exotischen Reiseziele, der Fashiondesigner, denen man unbezahlte Werbeträgerdienste leistet, und selbst der Klassikerzitate. Hier schlägt die Oberkörperkommunikation wieder ins intellektuell Anspruchsvolle um. Drei junge Frauen mit den Jahreszahlen 1789, 1917 und 1989 über den Brüsten sah ich im „Schwarzen Kaffee“, Wortspiele, sarkastisch verwendete Namen – aber eigenartigerweise kaum je politische Stellungnahmen. Bedeutet diese Abwesenheit einfach, dass T-Shirts zum Medium einer „Freizeitkommunikation“ geworden sind, im Verhältnis zu deren angestrengter Entspanntheit schon jeweils anstehende Landtagswahlen für transzendentalen Ernst stehen können? Auf dem Gendarmenmarkt sehe ich von fern einen Mann, älter noch als ich und mit Krampfaderbeinen, dessen Kinn ein schwarz-rot-goldenes Brustband mit dem Bundesadler überragt, ohne Ironie und Transzendenz, einen Deutschen wohl einfach.
Apropos Krampfadern: das samstägliche T-Shirt unter der fleischlichen Kopfbüste wird von jener die Knie allemal bedeckenden Hose abgerundet, welche mit hinreichend Taschen besetzt ist, um den vollen Inhalt eines Werkzeugkastens zu verstauen. Freilich nutzt man dieses Aufnahmepotenzial nur selten – und belässt es so gleichsam im Konjunktiv. Indikativisch präsentiert sich allein jener Rest von Beinfreiheit, der eine Stil und Einstellungsdistanz gegenüber allen bis zu den Schuhen reichenden Hosentypen anzeigt, einschießlich der zur Bügelfalte berufenen Gattung von Blue Jeans. Die Taschenfülle der Freizeithosen jedenfalls beflügelt unsere Imagination. Zum Beispiel könnte sie eine Kollektion von schottischen Whiskeys im Flachmannformat bereit halten; Handys mit verschiedenen Funktionen und Frequenzen; Miniaturwerkzeuge, wie ich es einmal in Brasilien mitte der 60er-Jahre (tatsächlich) sah; oder auch, für den Fall eines Falles, an das national-ökologische Regelwerk angepasste Kondome.
Hegelianisch gedacht, so lege ich mir meine heraufdrängenden Eindrücke und Thesen zurecht, hatte der Weltgeist die Polyfunktionshose möglicherweise für das Zeitalter und die Kulturform der Schrebergärten bestimmt, aber den richtigen Moment für deren Emergenz verpasst. Wie gut sie Martin Heidegger während seiner ausführlichen Auszeiten in der berühmten Schwarzwaldhütte gestanden hätte, kann man sich anhand des vorhandenen Bildmaterials melancholisch ausmalen. Darüber hinaus und am vertikalen Ende dieser Beschreibung gibt es Anlass zu der – noch einmal hegelianischen – Vermutung, das im Ensemble übliche Sportschuhwerk greife in eine sich heute erst abzeichnende Zukunft voraus. So wie ich mir Heideggers Polyhose ohne Weiteres angefüllt mit Klassikerbänden aus der abendländischen Philosophie vorstelle, gibt es keine denkbare Brücke der Assoziation zwischen seiner konservativen Sportpraxisbegeisterung (Schlagball, Paddeln, Skifahren) und jenen mehrfach luftgefederten Nike-Schuhen, die längst zu einem globalen Accessoire des Homo sapiens (nicht allein ein Element im Summer Look der Glatzenträger) geworden sind – und selbst die bodenständigere Adidas-Version desselben Schuhtypus hätte diese Verbindung nicht stiften können. Sportschuhe markieren den Ist-Stand und gegenwärtigen Inbegriff des Fußkleidung, was insofern zu bedauern ist, als das hier mit Liebe zum Detail evozierte Gesamtwerk gewiss viel passender in Sandalen zu grundieren ist, in möglichst tief ausgetretenen Sandalen, welche der Bodenständigkeit ihrer Besitzer zu einer wörtlichen (nicht nur sprichwörtlichen) Tugend machen (übrigens habe ich den an ein Paradoxon grenzenden Eindruck, dass gerade Sandalenträger (also die Verweigerer des athletischen Schuhwerkes) dazu neigen, ihre nackte Kopfhaut durch Baseballcaps gegen gnadenlose Sonnenstrahlung zu schützen – doch für solche Maßnahmen kommt der Sommer des späten Mai erheblich zu früh)).
Der historische Triumph individualistischer Entspanntheit begegnet uns in diesem nun zu seinem Abschluss gelangten Bild eines Typs von Mann und Menschen. Entlang eines welthistorischen Prozesses hat er sich von dem Stress-erzeugenden Gefühl befreit, irgendeinem anderen Menschen gefallen zu sollen. Er ist mit bestem Gewissen und ganz einfach der, der er ist – und darin auch seinem übergewichtigeren amerikanischen Vetter überlegen, in dessen Körpersprache man immer einen Hauch von Beschämung angesichts der raumfordernden eigenen Existenz ahnt. Zum deutschen Individualismus und seiner Entspannheit gesellt sich dann – durch die schieren Zahlen der Glatzenträger belegt – die Tugend einer praktizierten Gleichheit, welche keinesfalls in Widerspruch zu Individualitätsemblemen wie dem Ohrring tritt.
Und hier, in dieser Gesamtschau erst, erfüllt sich unsere Ahnung von einer Nähe zwischen dem Osterspaziergang des „Faust“ und dem „Schwarzen Kaffee“ am letzten Mai-Wochenende. Goethe beschreibt die Welt des Ostersonntags als „des Volkes wahren Himmel“, um fortzufahren: „Zufrieden rufet Groß und Klein: hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein.“ Dieses sich immer weiter verbreitende Gefühl, Selbst sein zu dürfen, und die Wertschätzung eines solchen Selbst wird schließlich zur schillernden Universalie. Selten hat mich die Zeitlosigkeit eines Klassikerzitats derart überzeugt.
Titelbild:
| Pexels.com / Unsplash (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Stevebidmead / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
| Alexas_Fotos / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
| Pexels / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm