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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es ist eine Alliteration, in der manche Zeitgenossen mehr sehen als einen Zufall: Populismus und Provinz. Sind Leute, die populistischen Politikern an die Macht verhelfen, nicht am treffendsten als Provinzler und Pensionäre abzuurteilen? Zugegeben, das ist eine zugespitzte Formel, aber man kann schon sagen: Seit Trumpismus und Brexit geraten die Provinzbewohner zusammen mit den älteren Bevölkerungsschichten nicht nur in den Vereinigten Staaten und Großbritannien unter den Druck einer zunehmend aggressiven Öffentlichkeit.
Wer außerhalb der Metropolen wohnt und nicht mehr zu den Jungen zählt, muss sich einiges gefallen lassen von den Medienmanagern, die so gerne den Part von Verwaltern der Aufklärung geben. Aus dieser Position angemaßter Würde verurteilen diese nicht nur die gefallenen Entscheidungen, sondern stellen tatsächlich deren demokratische Legitimität infrage – als dürften ausschließlich die Meinungen von Wählern unter dreißig und von Bewohnern der Großstädte zur politischen Geltung kommen.
Es stimmt zwar, dass sich aufgrund anhaltend niedriger Geburtenraten der Bevölkerungsanteil pensionierter Mitmenschen ausdehnt. Anderseits nutzen aber gerade Bürger nach dem Ende ihrer aktiven Arbeitszeit die Chancen zur Übersiedlung in urbane Zentren – um der kürzeren Wege willen und auch wegen des „kulturellen Angebots“. Die Urbanisierung ist zweifellos ein globaler Trend, an dem die älteren Semester teilhaben.
Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Berlin wächst jährlich um sechzigtausend Bewohner, zu denen viele Pensionäre zählen, wie der dortige Regierende Bürgermeister jüngst bei einer von dieser Zeitung organisierten Diskussion mit sichtbarem Stolz ausführte. Sie finden seine Dankbarkeit, weil sie bereit sind, ihr Einfamilienhaus in der Provinz gegen eine Zweizimmerwohnung in der Hauptstadt einzutauschen. Werden sich die Pensionäre zur neuen urbanen Elite mausern?
Diese nicht ganz ernste Frage lässt sich in mindestens zwei Richtungen entwickeln. Das in den Medien gehegte Schreckensbild einer sich verhärtenden Provinzbastion aus populistischem Ressentiment bedarf ebenso einer Revision wie die unterstellte Aura der jung-dynamischen Metropolen. Nicht nur absorbieren ausgerechnet die Metropolen einen erheblichen Anteil der alternden Bürger. Die großen Städte und ihre möglichen Zukünfte kann heute nur verstehen, wer sich klarmacht, dass sie der Ort jener Überfülle an Komplexität und Ungewissheit geworden sind, die unsere Gegenwart kennzeichnet – und existenziell belastet.
Nicht zufällig ist zum zentralen Motiv im Metropolen-Lob der Begriff des Netzwerks avanciert, der auf eine unbegrenzte Vielzahl von Alternativhorizonten gegenüber den jeweils bestehenden Lebensweisen verweist. Er steht für Potenziale eines beständig neuen Handelns, für andere Beschäftigungen in Beruf und Freizeit, für Ratschläge, was Moden, Ferienorte und Kapitalinvestitionen angeht. So verwandeln Netzwerke Lebensentwürfe in Potenziale ohne Verbindlichkeit, machen lebensweltlich fundierte Freiheit, die entlastet, zu einer dauerbeanspruchenden Wahlfreiheit und lassen ihr Versprechen permanenter Ereignis-Ekstasen in die Banalität eines verflachten Lebens münden.
Diese europäische Netzwerk-Euphorie hat ihren Kondensationspunkt in einer staatlich geförderten Startup-Szene gefunden, wo das Bereitstellen von Möglichkeiten zum Selbstzweck wird, weil am Ende niemand fragt, ob der geschenkte Anfangsimpuls denn am Ende zu irgendeiner Form des Erfolgs oder gar zur Ausbildung einer Institution führt. Rein strukturell gesehen liegt hier eine Analogie zu jener ungeschriebenen Regel des Metropolitan-Lebens, wonach man sich Listen über Ausstellungen, Inszenierungen und Konzerte anfertigt, für die dann doch nie Zeit bleibt.
Doch wo findet dann die harte Wirklichkeit des einundzwanzigsten Jahrhunderts statt, wo wird jener Reichtum produziert, der die beiden ebenso wirklichen wie erstaunlichen Formen des Überlebens in den sich entleerenden Dörfern und in den ausufernden Millionenstädten ermöglicht? Ganz offenbar könnten diese beiden sozialen Dimensionen ihre eigene Existenz wirtschaftlich nicht tragen. Und andererseits brillieren sie auch nicht als Zentren intellektueller oder technologischer Innovation in einer Zeit, da Wissensproduktion, Industrie und nationale Prosperität näher denn je zusammengerückt sind.
Auf die Frage nach dem Ort jener Dynamik, die intellektuelle Erneuerung und die Expansion des Kapitals gleichermaßen beflügelt, haben vor allem die deutschsprachigen Kulturen eine altehrwürdige Antwort gegeben. Ihr Kern war das heute unwahrscheinlicher denn je wirkende Motiv von der Provinz als einzigem Ort starken Denkens. Vor allem die thüringischen Kleinstädte Weimar und Jena, aber auch Freiburg, Tübingen und Heidelberg, Marburg, Göttingen und Halle weckten schon um 1800 Bewunderung aufgrund vielfacher Erneuerungsbewegungen, die dort begonnen hatten und weithin Resonanz fanden. Voller Erstaunen, aber auch mit einem Grad von Resignation konstatierte Madame de Staël in ihrem Buch „De l´Allemagne“, dass Europas größte Denker in kleinen Städten «hinter Butzenscheiben» lebten.
Gut hundert Jahre nach der deutschen Romantik hatte Martin Heidegger in seinem Aufsatz „Schöpferische Landschaft: warum bleiben wir in der Provinz?“ die Erfahrung von der intellektuellen Produktivität der Peripherie aus seiner Innensicht zu beschreiben versucht – und kam dabei kaum über das Abrufen abgegriffener romantischer Gemeinplätze hinaus. „Wenn in tiefer Winternacht“, heißt es da, „ein wilder Schneesturm um die Hütte rast und alles verhängt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie.“ Unter gegenwärtigen Vorzeichen müsste diese selbstgefällige Mystifizierung der eigenen Schwarzwaldhütte in die Leere der von den arbeitenden Generationen verlassenen Provinz führen, in die Provinz der unendlichen Fernsehabende. Und längst sind auch Orte wie Weimar zu zwar freundlichen, aber nichtssagenden Bühnen des Kulturtourismus abgestiegen. Weil sie der aktive Geist verlassen hat, überleben ihre Einwohner mit dem Vertrieb von intellektuellem Andenkenkitsch.
Doch nicht etwa in die Metropolen ist die Energie dieses Geistes gezogen, sondern in eine andere Lage der Provinz. Die zwanzig besten Universitäten unserer Zeit, Harvard, Stanford, Princeton und Yale etwa, Cambridge, Oxford und die ETH, gehören zu Städten, die schon allein aus Quantitätsgründen nicht als globale Metropolen gelten können. Dies trifft vor allem auf das Silicon Valley als jene kompakte Kreativzone zu, deren Erfindungen während der vergangenen drei Jahrzehnte den globalen Alltag grundlegend verändert haben.
Google, Apple, Oracle und die meisten jener Startups, die Weltmarken geworden sind, haben Adressen in Mountain View, Sunnyvale oder Palo Alto, in Gemeinden mit etwa sechzigtausend Einwohnern, welche die fünfzig Kilometer zwischen den kleinen Millionenstädten San Francisco und San Jose ausfüllen. Sie alle sind unweigerlich suburban – und nichts weckt heftigere phobische Reaktionen in der gebildeten Mittelschicht der Ostküste als dieses Prädikat und seine amerikanisch-kleinbürgerliche Realität.
Wenn aber nicht mehr Heideggers sturmdurchbrauste Nächte das Wetter für den Eros des Geistes sind – welche Zusammenhänge zwischen der suburbanen Welt und dem produktivem Denken lassen sich heute beobachten? Was die Spitzenuniversitäten angeht, so entspricht ihren sozialen Umwelten ja die Bemühung, Hörerzahlen überschaubar zu halten. Der Alltag eines Studenten in Stanford zum Beispiel oder das Profil eines Fachbereichs entwickeln sich gerade nicht zu Netzwerken als Potenzialen im permanenten Konjunktiv. Vielmehr vollzieht sich die Realität des Lernens und Lehrens im Indikativ, als Anordnung von Bezugspersonen, auf die man angewiesen ist und auf die man sich deshalb einstellen muss.
Der intellektuellen Tonalität solcher neuen Lebens- und Lernwelten entspricht nun erstaunlicherweise gerade jener Satz aus Heideggers Essay, der auf die Schneesturm-Ekstase folgt: „Die Durcharbeitung jedes Gedankens kann nicht anders denn hart und scharf sein.“ Nur in der gemeinsamen Konzentration einer kleinen Gruppe auf dieselben Werke oder Probleme sind wir angehalten, die eigenen Positionen zu immer „härterer und schärferer“ Qualität weiterzuentwickeln.
Anders als in den hochgepriesenen Netzwerken können wir dort nicht darauf hoffen, jener Kollegin, welche uns abends im Labor oder im Forschungsseminar eine Frage gestellt hat, am nächsten Tag aus dem Weg zu gehen, und zugleich entstehen vor allem in langfristigen Formen der Zusammenarbeit jene Sympathien, ohne die der Intellekt nicht fruchtbar sein kann.
An den Rändern der Metropolen muss man sich auf die Filme und Theaterstücke, auf die Rechtsanwälte und Ärzte einstellen, die es eben gibt – sie sind Schicksal statt stets variables Netzwerk. Hier sind die Leute gezwungen, mit dem Vorhandenen zu bauen – und all das in ihrer Imagination zu erschaffen, was ihnen das konkrete Leben vorenthält. Dabei werden Formen des Denkens und Fragens immer neue Konturen gewinnen, statt als Potenziale im Status eines ewigen Konjunktivs zu verbleiben.
Was in der praktischen Alltagsgegenwart der Provinz Indikative und Konturen sind, das kann mit der nötigen Distanz zur Hektik der Metropolen in ein fokussiertes Leben münden: in die ausschließliche Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand; in die Freiheit einer beliebig oft vollzogenen Rückkehr zu diesem Gegenstand; und in das Vordringen zu immer neuen Schichten der Wissenskomplexität, die aus solcher Konzentration und Rückkehr erwachsen. In jenen Jahrhunderten, welche von einem religiösen Welthorizont umgeben waren, hat man diese Form intellektueller Aktivität „Kontemplation“ genannt.
Genau das brauchten sie, sagen jene Studenten im Teen-Alter, die mit ihrem Programmieren die Effizienz künstlicher Intelligenz vorantreiben: solche Ruhe und Gelassenheit, die es ihren Intuitionen gestattet, den erlernten Methoden und der eigenen rationalen Kontrolle immer einen kreativen Schritt voraus zu sein. Diese jüngsten und begabtesten Studenten sind – als Nachbarn der Pensionäre – das wahre Energiezentrum einer Provinz, die nicht mehr romantisch ist, sondern tatsächlich suburban.
Und wer sich um das Geschmacksvorurteil gegen die suburbanen Welten nicht schert, der hat jene Zeitgenossen schon immer überholt, welche von morgens bis abends die Potenziale von Netzwerken Revue passieren lassen. Die Metropole war gestern, Suburbia gehört die Zukunft.
Der Beitrag ist am 6. September auf „Neue Zürcher Zeitung Online“ unter dem Titel „Lob der Peripherie“ erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: CvD