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Prof. Dr. Dietmar Schirmer ist Vertretungsprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Institutionen, zuvor hatte er die Vertretungsprofessur für Empirische Policy-Forschung an der Zeppelin Universität inne. Nach dem Studium in München und Berlin sowie der Promotion in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lehrte er an der Freien Universität Berlin, der Cornell University, der Universität Wien sowie der University of British Columbia und der University of Florida. Er war außerdem Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und ist Mitglied der American Political Science Association und des Council for European Studies.
Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der historisch-institutionalistischen vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Kulturforschung. Gegenwärtige Forschungsprojekte befassen sich mit dem Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und regionalen Minderheitennationalismen in der EU sowie mit der Staatsarchitektur Europas seit der Renaissance.
Was um den 1. Oktober herum in Katalonien passiert ist, hätte weder passieren sollen noch müssen. Nicht der rüde Polizeieinsatz, der trotz Tränengas und Knüppel, trotz beschlagnahmter Abstimmungsurnen und gestürmter Wahllokale das Referendum zur katalanischen Eigenstaatlichkeit letztlich nicht unterband, aber auch nicht das Referendum selbst, das die Gerichte für illegal erklärt hatten, weil es mit der spanischen Verfassung kollidiert – einer Verfassung übrigens, die 1978 auch die Katalanen mit überwältigender Mehrheit befürwortet hatten.
Das Ganze war ein Unglück mit Ankündigung, weil es Spanien und die katalonische Region unausweichlich zur Kollision trieb: auf der einen Seite der spanische Staat, der sich angesichts der Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Basken, Katalanen oder Galizier immer und egal unter welcher Regierung auf die in der Verfassung festgeschriebene Unteilbarkeit des Landes berufen hatte und mit seinen Regionen zwar Autonomiestatute aushandelte, aber die rote Linie dort zog, wo eine Sezessionsdrohung in der Luft lag; auf der anderen Seite die katalonische Unabhängigkeitsbewegung, die sich nach 2006 zusehends von dem alten Mechanismus der Autonomie durch Verhandlung verabschiedete und stattdessen in Richtung der Forderung nach Eigenstaatlichkeit driftete. Anlass für diesen Kursschwenk war der Umstand, dass ein neu ausgehandeltes Autonomiestatut für die Region zwar von den Parlamenten in Madrid und Barcelona abgesegnet, aber vom Verfassungsgericht kassiert worden war.
Zu diesem Zeitpunkt hätte man entweder das bereits verabschiedete Statut verändern können, um den Bedenken des Verfassungsgerichts Rechnung zu tragen, oder aber die Verfassung selbst ändern müssen. Keiner dieser Wege wurde begangen, obwohl zumindest ersterer möglich gewesen wäre. Stattdessen begann die Verhärtung der Fronten. Den Anfang machte Katalonien, wo sich zumal in den Jahren der Wirtschaftskrise zunehmend die Ansicht verfestigte, dass die Region zu viel zum Budget des spanischen Staates beisteuerte und zu wenig daraus abbekam. Diese wohlstandschauvinistische Stimmung artikulierte sich zunächst in zahlreichen lokalen Unabhängigkeitsreferenden und schließlich im regionsweiten, aber als konsultativ ausgegebenen Referendum von 2014.
Mit dem Regierungswechsel vom Sozialdemokraten Zapatero zum konservativen Rajoy 2011 verschlechterten sich die Aussichten auf eine Verhandlungseinigung weiter. Im Demokratisierungsprozess war die Einführung des Devolutionsmechanismus über die Autonomiestatute angesichts des repressiven Zentralismus der Franco-Diktatur unausweichlich gewesen. Rajoys konservative PP war immer auch ein Auffangbecken für die francistischen Zentralisten gewesen; Autonomie galt vielen in der Partei eher als ein notwendiges Übel denn ein produktives Instrument territorialer Gestaltung.
Fortan waren beide Seiten zunehmend auf Krawall gebürstet. Dass es so weit kam, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn auch, wenn die konservative Regierung die Autonomie der Regionen alles andere als liebte, musste sie doch wissen, dass Regionalisierung angesichts der historischen Last des Zentralismus die Bedingung der Möglichkeit der spanischen Einheit war. Und genauso musste der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung klar sein, dass es einen schiedlichen Weg zur Eigenstaatlichkeit nicht geben konnte.
Selbst eine Regierung in Madrid, die den Autonomieprozess aktiv unterstützte, hätte angesichts der drohenden zentrifugalen Welle – das Baskenland, Navarra, Valencia und die Balearen – unmöglich die katalanische Eigenstaatlichkeit akzeptzieren können, ohne sich bald darauf auf ein Kernspanien aus Kastilien und der ärmlichen Extremadura reduziert zu sehen. Dabei ist die Sturheit der Regierung in Madrid noch weniger erstaunlich als die Intransigenz der katalanischen Regionalregierung. Der katalanische Nationalismus war immer weltoffen, zivil und kosmopolitisch gewesen und ist es noch heute. Nach völkischen Verhärtungen sucht man vergebens, wie Spanien überhaupt sich viel darauf einbilden kann, eines der letzten Länder Europas zu sein, in deren Parteienspektrum sich keine Partei der Xenophobie hat etablieren können.
Wenn man nun nach Erklärungen dafür sucht, weshalb es dennoch zu dieser Eskalation hat kommen können, ist man gut beraten, nicht nur auf das Verhältnis zwischen Madrid und Barcelona zu schauen, sondern auch auf die Binnenverhältnisse in Madrid und Barcelona.
Das Verhalten der Regierung Rajoy folgt wohl einem elektoralen Kalkül: Sie kann die nationale Konkurrenz von der PSOE vor sich hertreiben, indem sie den kompromisslosen Verteidiger der spanischen Einheit gibt. Dass sie dadurch Sympathien in Katalonien verlieren wird, glaubt die PP verschmerzen zu können, weil es dort für sie nicht viel zu verlieren gibt. Auf der anderen Seite verdankt sich die Zuspitzung der katalanischen Forderungen weniger kaltem Kalkül als einer Radikalisierungslogik, die von anderen Minderheitennationalismen – etwa im Baskenland, auf Korsika oder in Nordirland, jeweils in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts – gut bekannt ist.
Im katalanischen Nationalismus wurde die Spaltung in Moderate und Radikale 2013 deutlich, als die Parteienföderation CiU, die die Region seit den frühen 80er-Jahren regiert hatte, ihre absolute Mehrheit verlor. Die eine Hälfte des Bündnisses, die CDC, wollte den Schritt in die Eigenstaatlichkeit forcieren, unabhängig davon, wie Madrid sich verhielt; die andere, die UDC, wollte das Ziel nur im Verhandlungsweg verfolgen. 2015 zerbrach das Bündnis über diese Frage, die Spaltung in einen moderaten und einen radikalen Flügel war vollzogen. Sobald so eine Spaltung eingetreten ist, kann der radikale Flügel die Haltung des moderaten Flügels als Verrat an der gemeinsamen Sache desavouieren. Die Moderaten können mit Argumenten der Vernunft und der Mäßigung kontern, sind aber dabei auf die Kooperationsbereitschaft der nationalen Regierung angewiesen. Denn die Verhandlungsorientierung der Moderaten ist nur dann überzeugend, wenn sie tatsächlich in der Lage sind, im Verhandlungsweg spürbare Zugeständnisse in Sachen Selbstregierung zu extrahieren. Rajoy hat diesen Weg verstopft, weshalb die moderaten Teile der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung nur die Wahl blieb, entweder als ineffizient und kraftlos zu erscheinen und sich selbst zu marginalisieren oder auf den radikalen Kurs einzuschwenken.
Die vorläufigen Resultate dieser Entwicklung können wir derzeit besichtigen. Wie die Dinge liegen werden, wenn dieser Text gelesen werden wird, weiß ich nicht. Zum Zeitpunkt seines Schreibens jedenfalls hat die katalanische Regierung entgegen früherer Ankündigungen noch keine Unabhängigkeitserklärung ausgesprochen. Ich nehme das als Zeichen, dass der Weg zurück zum Verhandlungstisch noch – oder wieder – möglich ist.
Aber egal, wie es weitergeht, der Schaden ist bereits angerichtet, und ob er wieder repariert werden kann, ist unklar. Das vergangene halbe Jahrhundert hat insgesamt große Fortschritte für die Autonomieforderungen kleiner Nationen gebracht, die sich in größeren Staaten finden – vor allem in den Staaten, die Teil des europäischen Integrationsprojektes sind. Die Rolle der EG/EU dabei ist indirekt. Prinzipiell hat die EU mit Fragen der territorialen Strukturierung ihrer Mitgliedstaaten nichts zu tun, aber sie ermutigt Dezentralisierungsprozesse etwa durch die regionale Orientierung ihrer Strukturfonds oder durch die Stimme, die sie den Regionen im Committee of Regions gibt. Vor allem aber trägt sie dazu bei, dass sich ihre Mitgliedstaaten an komplexe Souveränität und Bürgerschaft gewöhnen: Wer dazu sozialisiert wurde, Souveränitäts- und Bürgerschaftsrechte mit anderen Staaten und der EU zu teilen, wird es weniger riskant finden, das Gleiche gegenüber seinen eigenen regionalen Einheiten zu praktizieren.
Seit Beginn der europäischen Einigung wurde das zentralistische Italien regionalisiert, das ebenso zentralistische Belgien hat sich in eine Art Konföderation verwandelt, im Vereinigten Königreich haben Schotten und Waliser ihre eigenen Parlamente und Nordiren ihr Home Rule; selbst das erz-napoleonische Frankreich verfügt heute über gewählte Regionalparlamente mit beschränkten Selbstregierungsrechten. Aber diese historische Bewegung in Richtung Eigenständigkeit der kleineren Einheiten hängt zumal im Falle der regionalen Nationalismen entscheidend daran, dass sie nicht zur feindlichen Sezession führt. Die Sezessiondrohung soll in der EU dadurch verunmöglicht werden, dass ein aus dem Holz eines EU-Mitgliedstaates gegründeter neuer Staat automatisch seine Mitgliedschaft in der EU verliert. Er könnte dann die Aufnahme beantragen, aber der Staat, von dem er sich abgespalten hat, behält durch sein Vetorecht die Kontrolle darüber, ob der Antrag erfolgreich sein kann. Dadurch sollen staatliche Spaltungen eigentlich nur noch möglich sein, wenn sie in beiderseitigem Einverständnis vollzogen werden, nach Art der „Velvet Divorce“ Tschechiens und der Slowakei 1992. Im schottischen Unabhängigkeitsreferendum war die Lage ähnlich, weil Westminster im Vorfeld signalisiert hatte, dass man den Schotten keine Steine in den Weg legen wolle. Bislang hat diese Rückversicherung funktioniert. Wenn Katalonien gegen alle Widerstände und Erwartungen mit seinem Projekt der Eigenstaatlichkeit erfolgreich sein sollte, wäre der Frühling der Regionen nicht nur in Spanien zu Ende.
Titelbild:
| Philipp Reichmuth / Eigenes Werk (CC BY-SA 4.0) | Link
Bilder im Text:
| Robert Bonet / eldiario.es (La Policía dispara balas de goma el 1-O cinco años después de la última víctima en Catalunya, CC BY-SA 3.0 es) | Link
| Pxhere / Public Domain (CC0 Public Domain) | Link
| European People's Party / European People's Party (CC BY 2.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: CvD