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Die spanischen Wahlergebnisse haben die Entwicklung der letzten Monate bestätigt und markieren das Ende des bisherigen Zweiparteiensystems. Die neue parteipolitische Konstellation ermöglicht eine Vertiefung der Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Demokratie – trotz Wirtschaftskrise und Korruptionsskandalen. Deshalb ist der Wahlabend erfreulich für Spanien. Das spanische Parlament bildet nun besser den Pluralismus im Land ab. Richtig ist allerdings auch, dass (nachvollziehbare) Koalitionsaussagen die Regierungsbildung fast unmöglich machen werden.
Die Wahl stellt das spanische politische System vor eine komplett neue Situation, in der alte Gewissheiten nicht mehr zählen. Auch die erfahrensten Beobachter vermögen nicht einzuschätzen, wie die Verhandlungen zur Regierungsbildung verlaufen werden. Außerdem deutet sich an, dass sich das Mehrparteiensystem schnell wieder in die alten Lager (Rechts-Links) sortieren wird und damit alte Unterscheidungen wiederbelebt werden. Trotz Mehrparteiensystem erscheinen Koalitionen über die Rechts-Links-Lagergrenzen hinweg gegenwärtig als unwahrscheinlich. Das erschwert die Regierungsbildung und wird in den kommenden Wochen für Unklarheit sorgen, wer das Land letztlich regieren wird.
Doch zunächst einige erfreuliche Gewissheiten, die den Wahlabend überdauern werden: Im zukünftigen spanischen Parlament wird – wie auch bisher – keine einzige rechtsradikale oder auch nur europaskeptische Partei vertreten sein. Vielmehr unterstützen alle Parteien dezidiert den europäischen Einigungsprozess und die Einhaltung europäischer Verträge. Ebenso ist die Wahlbeteiligung um vier Prozentpunkte auf über 73 Prozent angewachsen. Die Wahlergebnisse haben allerdings viele etablierte Prozeduren und alte Gewissheiten aufgelöst. Die institutionelle Stabilität ist dennoch gegeben, andere europäische Regierungen können beruhigt die anstehenden Verhandlungen beobachten.
Alle Parteien können sich zugleich als Sieger und Verlierer sehen. Das neue komplexe Mehrparteiensystem löst zunächst die traditionelle Lagerbildung auf. Bei der Wahl hat die regierende konservative Partido Popular (PP) mehr als ein Drittel seiner Abgeordneten verloren und ist nun weit entfernt von der bisherigen absoluten Mehrheit (28,7 Prozent der Stimmen und 123 Sitze, kann damit alleine Verfassungsänderungen verhindern). Dennoch bleibt sie stärkste Kraft. Auch der traditionelle Gegenpol, die linke Volkspartei Partido Socialista Obrero Español (PSOE), hat weiter an Sitzen eingebüßt und die Abnutzung der konservativen Regierungspartei nicht für sich nutzen können (nur 22 Prozent der Stimmen und 90 Sitze). Zusammen erringen die Parteien des traditionellen Zweiparteiensystems gerade einmal etwas mehr als 50 Prozent der Stimmen und knapp über 60 Prozent der Sitze – das spanische Wahlrecht bevorzugt strukturell die zwei größten Parteien.
Damit gehört das Zweiparteiensystem endgültig der Vergangenheit an: Podemos („Wir können“) hat es eindrucksvoll geschafft, den Protest der Straße in eine politische Formation zu überführen und regionale Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Strukturen einzugehen, die gemeinsam über fünf Millionen Stimmen (20,7 Prozent) und 69 Sitze errungen haben. Damit nähert sie sich bedrohlich PSOE als linke Alternative an und ist der klare Gewinner der Wahl. Dennoch verfehlt Podemos damit die angestrebte linke Mehrheit im Parlament.
Die neue bürgerliche Alternative Ciudadanos („Bürger“) hingegen hat zwar ein beachtliches Ergebnis erreicht, konnte aber nicht die überhöhten Erwartungen der letzten Wochen erfüllen. Auch das gehört zur neuen politischen Realität Spaniens: dreieinhalb Millionen Stimmen aus dem Stand (knapp 14 Prozent) und 40 Sitze grenzen fast an eine Enttäuschung. Zusammen haben die neuen Parteien fast 35 Prozent der Stimmen geholt und dabei die Figur des Wechselwählers eingeführt. Wahlen werden zukünftig nicht nur durch Mobilisierung von Anhängern entschieden, sondern auch durch ein für die Wechselwähler überzeugendes Programm. Auf fünf im Parlament vertretene Regionalparteien sowie die Linkspartei entfällt eine wichtige Anzahl von 28 Sitzen mit verhältnismäßig enormer Verhandlungsmacht.
Die linke und die rechte katalanische Regionalpartei, die jeweils die Unabhängigkeit anstreben, haben zusammengerechnet lediglich 31 Prozent errungen. Gerade in Katalonien kann Podemos als klarer Wahlsieger gelten: Knapp 25 Prozent aus dem Stand machen sie zur stärksten Partei in dieser Region. Die Arbeit der Wahlplattform und ihrer BürgermeisterInnen (z.B. Ada Colau in Barcelona) sowie die Positionierung für ein Unabhängigkeitsreferendum und zugleich für die Einheit mit Spanien ist von den Wählern belohnt worden. Zusammengerechnet erringen die Parteien, die ein Referendum durchführen möchten, knapp 56 Prozent, was zum einen den Druck auf die Zentralregierung erhöhen dürfte. Zum anderen schwächt der fulminante Erfolg von Podemos in Katalonien die dortigen Regionalparteien. In Katalonien muss bis zum 9. Januar eine Regierung gebildet werden. Gelingt dies nicht, würden Neuwahlen anstehen, von denen Podemos wohl profitieren würde. Diese Situation stellt die Befürworter der Unabhängigkeit mit dem Rücken zur Wand, was in den kommenden beiden Wochen zu einer Verschärfung der Verfassungskrise durch weitere Schritte Richtung Unabhängigkeit führen könnte.
Grundsätzlich hat Podemos in den Regionen, die sich historisch von der Idee eines zentralistischen Spaniens absetzten, überdurchschnittlich viele Stimmen geholt. Ausgerechnet im Baskenland und in Katalonien ist sie die meist gewählte politische Kraft; vor allem zulasten der etablierten Regionalparteien. Dieser Umstand ist insofern ernst zu nehmen, als dass Podemos am klarsten die Idee formuliert, dass Spanien ein multinationaler Staat ist und so den Bestrebungen in vielen Regionen Rechnung tragen muss. Die angestrebte Reform des Föderalismus rückt somit unweigerlich in den Fokus. Sie ist auch überfällig, denn angesichts der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen möchte man die Einheit dauerhaft sicherstellen.
Vielleicht ist das Parteiensystem nicht – wie es im Wahlkampf erschien – dauerhaft pluralisiert. Die Wahl könnte auch den Übergang von einem Zweiparteiensystem zu einem bipolaren Parteiensystem markieren: PP und Ciudadanos vereinigen gemeinsam etwa 10 650 000 Stimmen und 163 Sitze auf sich und die linken PSOE und Podemos etwa 10 700 000 und 159 Sitze. So gesehen erholt sich die Linke in Spanien bei diesen Wahlen substanziell und erringt 50 Sitze mehr als bei den letzten Wahlen. Vielleicht kaschiert das Mehrparteiensystem die traditionelle Rechts-Links-Trennung, und die tiefe Spaltung des Landes bleibt weiterhin unüberwunden.
Das erklärt, warum der amtierende Regierungschef Mariano Rajoy und seine Partei PP, die zunächst mit der Regierungsbildung beauftragt werden, nicht mit der Unterstützung von PSOE rechnen können. Nur diese Koalition würde aber über eine ausreichende Mehrheit verfügen. Eine Minderheitsregierung von PP (oder PP und Ciudadanos) müsste von einer linken Partei oder praktisch allen Regionalparteien geduldet werden, was angesichts der bisherigen Regierungspolitik gegenüber der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ausgeschlossen ist.
Die Regierungsbildung wird zur Frage der vier größeren Parteien: Um eine Koalition zweier Parteien zu ermöglichen, müsste eine dritte Partei sich bei der Wahl des Regierungschefs zumindest enthalten. Würde PSOE das im Falle einer rechten Regierung machen, dann würden das die allermeisten übrig gebliebenen Stammwähler nicht verzeihen und Podemos würde sich wohl zur alleinigen starken linken Partei entwickeln. Ciudadanos hingegen hat ausgeschlossen, eine Regierung unter Mitwirkung von Podemos zu dulden. Unter diesen Umständen ist faktisch keine Regierungsbildung möglich, ohne dass eine Partei umfällt – und das würden die eigenen Wähler nach einem sehr intensiven Wahlkampf nicht verzeihen.
Ob diese Konstellation zu Neuwahlen führt, wird auch an einer Abwägung liegen: Strafen die eigenen Wähler mehr den Bruch der eigenen Koalitionsaussagen ab oder die zwischen den Parteien geteilte Verantwortung Neuwahlen nicht zu verhindern. Womöglich hat Pablo Iglesias, der Parteivorsitzende von Podemos, recht: Unter den gegebenen Umständen einer komplett neuen parlamentarischen Realität wird es zunächst nötig sein, im breiten Konsens grundlegende (Verfasssungs-)Reformen auszuhandeln – zum Beispiel die von den neuen Parteien geforderte Wahlrechtsreform – und dann Neuwahlen anzustreben.
Noch viel dringender könnte die überfällige Föderalismusreform werden, wenn sich in den kommenden beiden Wochen die Verfassungskrise mit Katalonien verschärft. In einer solchen Konstellation könnten sich PP und Ciudadanos zusammen mit PSOE wohl schnell auf ein hartes Eingreifen bei gleichzeitigem Aushandeln einer Föderalismusreform einigen. Die Regierung würde zu diesem Zwecke gebildet werden, mit Neuwahlen wäre auch hier nach der Verfassungsänderung zu rechnen. Am Wahlabend sprachen alle Parteivorsitzenden von einer Kultur des Dialogs, der Konsenssuche und von Pakten. Das ist erfreulich und im Falle des bisherigen Regierungschefs Mariano Rajoy durchaus neu. Ob tatsächlich in den wichtigen Fragen breite Konsense angestrebt werden, bleibt abzuwarten.
Podemos ist ursprünglich angetreten, um die Art und Weise der Politik in Spanien sowie die politische Kultur des Landes umzukrempeln – und hat bereits vor dem Wahlabend für große Veränderungen gesorgt. Das sich abzeichnende Ende des Zweiparteiensystems hat außerdem zur grundlegenden Modernisierung von PSOE beigetragen. Somit sind Podemos, PSOE und Ciudadanos – zwar mit unterschiedlicher Rechts-Links-Orientierung – als progressive Parteien angetreten. Im spanischen Parlament hat somit eine klare progressive Mehrheit die bisherige konservative Mehrheit abgelöst. Sie möchte das Land modernisieren und zugleich soziale Errungenschaften der Vergangenheit bewahren. Ihr steht mit etwa einem Drittel der Sitze eine proeuropäische Konservative sowie zusätzlich sehr europafreundliche katalanische und baskische Regionalparteien gegenüber.
Angesicht von auftretenden europakritischen und rechten Kräften in vielen Mitgliedstaaten der EU ist Spanien ein erfreuliches Beispiel dafür, dass tiefgreifende Probleme nicht zu einer Entfremdung von Europa führen müssen. Kritische Äußerungen etwa von Pablo Iglesias bezüglich einer Bevormundung durch europäische Institutionen sind nicht als europakritische Positionierung zu verstehen, sondern als Wertschätzung europäischer demokratischer Prinzipien. Spanien wird trotz der unklaren Regierungsmehrheiten keine Instabilitäten in das europäische Gefüge einführen, sondern könnte sich nach Überwindung der dringendsten Fragen sogar zu einem Impulsgeber in Europa für progressive Politik und eine Vertiefung der europäischen Integration entwickeln.
Titelbild: Chema Concellón / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Partido Popular de Cantabria / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Ministerio de Cultura de la Nación Argentina / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Martin Valdés-Stauber
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm