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Dr. Nadine Meidert ist seit September 2015 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Zeppelin Universität. Von 2003 bis 2008 studierte sie – mit Auslandsaufenthalten in Belgien und Australien – in Konstanz Politik- und Verwaltungswissenschaften. Ebenfalls in Konstanz wurde sie im Jahr 2013 mit der Dissertation „Selektion oder Einfluss? Dynamische Analyse der Wirkungsmechanismen von politischen Einstellungen und Partizipation in studentischen Freundschaftsnetzwerken“ promoviert. Sie ist neben ihrer Tätigkeit an der Zeppelin Universität als Beraterin bei der Durchführung von Evaluations- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten tätig.
Die Wahl in Niedersachsen ist vorbei. Um die Wählerinnen und Wähler nicht zu verwirren, wurden die Sondierungsgespräche zwischen Union, Grünen und FDP auf Bundesebene auf nach der Niedersachsenwahl verschoben. Schließlich wäre es fatal, die Wahlkampflogik (Aufzeigen der Unterschiede, Angriffsrhetorik) mit der von Sondierungsgesprächen (Finden von Gemeinsamkeiten, kooperative Kommunikation) zu vermischen. Dass ausgerechnet vor allem die Jamaika-Parteien CDU, Grüne und FDP bei der Niedersachsenwahl im Vergleich zu 2013 Stimmen verloren haben und die SPD eindeutige Siegerin des Wahlabends wurde, mag hauptsächlich Gründe haben, die in Niedersachsen selbst liegen. Aber vielleicht hat das Ergebnis der Landtagswahl auch ein ganz kleines bisschen damit zu tun, dass die SPD nach der Bundestagswahl mit der klaren Ansage „Wir gehen in die Opposition“ eine eindeutige Position bezogen hat, während die Jamaika-Parteien mit ihrer „Wir stehen für Gespräche zur Verfügung, aber wir warten noch“-Haltung nicht sonderlich anpackend und engagiert wirkten.
Nun kann es endlich losgehen. Aber wie stehen die Erfolgschancen für Sondierungsgespräche und die folgenden Koalitionsverhandlungen? Jamaika auf Bundesebene ist und bleibt ein großes Experiment mit vielen schwer abschätzbaren Unsicherheiten, aber aus den folgenden Gründen stehen die Chancen nicht schlecht:
Zuerst muss festgehalten werden, dass das Vorhandensein von inhaltlichen Unterschieden eine Koalition nicht per se unmöglich macht. Ohne Zweifel gibt es diese großen unterschiedlichen Vorstellungen. Sei es bei der Klimapolitik, wo der grüne Verbotsduktus gar nicht zum liberalen Ideal des Gleichgewichts der Marktkräfte passt, oder die Flüchtlingspolitik, wo die magische Obergrenze für die Einen Koalitionsbedingung, für die Anderen die nicht überschreitbare „rote Linie“ ist. Diesem ständigen Aufzeigen der Unterschiede sind aber zwei Argumente gegenüber zu stellen: Zum einen konnte man gerade am Beispiel der Obergrenze und dem Unionskompromiss sehen (Kompromiss heißt: Wir nennen es jetzt Richtwert, nennen die Zahl 200.000, aber wenn wegen humanitärer Krisen mehr kommen, dann geht das schon auch), dass man sich durchaus annähern kann, wenn man muss. Zum anderen muss man sich bewusst machen, wie viel die Parteien eigentlich gemeinsam haben.
Bei der Steuerpolitik wollen alle, sagen sie zumindest, Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen. Auch bei Themen wie Bildung oder Digitalisierung müsste es möglich sein, einen nicht so kleinen gemeinsamen Nenner zu finden. Nicht zu reden davon, dass auch bei Themen wie Europa oder Einwanderungspolitik viele Gemeinsamkeiten in den Grundsatzprogrammen von Grünen und FDP zu finden sind. Dies besonders dann, wenn Letztere sich darauf besinnen, dass es nicht nur um Marktliberalität, sondern auch um Werteliberalismus geht.
Zweitens darf man nicht vergessen, worum es in der Politik geht: um Macht. All diejenigen, die das nicht glauben, seien auf „House of Cards“ oder alternativ Machiavelli verwiesen. Parteien sowie ihre Kandidatinnen und Kandidaten ziehen in den Wahlkampf, um Macht zu erlangen und in der Regierung gestalten zu können. Insbesondere der grünen Doppelspitze wird nachgesagt, dass beide großes Interesse an je ihrem eigenen kleinen Ministerium haben. Die Einzigen, die hier vielleicht zurückhaltender sind, sind die Liberalen. Die haben damit zu tun, nach vier Jahren Auszeit die Fraktion im Bundestag wieder aufzubauen. Es mangelt in Berlin nicht nur an liberalen Spitzenpersonal, das sich in den vergangenen Jahren vielfach in die Länder bewegt hat, sondern auch an gelben Arbeitsbienchen, die den Verwaltungsapparat zusammenhalten, der hinter einer politischen Fraktion steckt.
Drittens darf man nicht vergessen, dass der Druck groß ist. Was wäre die Alternative zu einer Jamaika-Koalition? Die SPD hat sich auf Opposition festgelegt, und es ist kaum vorstellbar, dass Andrea Nahles von „in die Fresse“ wieder zurück auf Zusammenarbeit umstellen kann und möchte. Eine große Koalition scheidet damit aus. Was dann? Neuwahlen? Das Risiko ist zu groß, dass die AfD, auch wenn sie mit ihrer eigenen Zerlegung beschäftigt zu sein scheint, das Scheitern einer Regierungsbildung im Wahlkampf für ihre Rhetorik gegen das Establishment nutzen wird.
Dass die Bildung einer Jamaika-Koalition grundsätzlich möglich ist, zeigt das schleswig-holsteinische Beispiel. Die Kunst dabei war, dass die beteiligten Parteien sich auf ihre Kernthemen fokussiert haben, um hier Akzente zu setzen. Nach zwei großen Koalitionen in den vergangenen zwölf Jahren und ihrem gemächlichen Regieren würden die Themen der kleinen Parteien der politischen Agenda durchaus gut tun.
Und nicht zuletzt: Der Vorteil der Jamaika-Koalition ist, dass es keine große ist. Es besteht die Hoffnung, dass der SPD die Erholung bekommt. Sie kann, während die Union mit den Grünen und der FDP regiert, mit der Linkspartei ausloten, ob auch sie etwas eint. Vielleicht sogar soziale Gerechtigkeit.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Nadine Meidert
Redaktionelle Umsetzung: CvD