ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Alexander Ruser leitet das Zentrum für Politische Kommunikation an der Zeppelin Universität. Zuvor vertrat er den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse am Bodensee, nachdem er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie und promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich „Global Institutional Development“ am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg wirkte. Nach Forschungsaufenthalten in Südkorea und Japan wechselte er als Dahrendorf Fellow an die Hertie School of Governance in Berlin. 2013 war Alexander Ruser Visiting Dahrendorf Fellow an der London School of Economics and Political Science, bevor er im Januar 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an den Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften kam.
Im Dezember 2015 wurde die Habilitationsschrift „Science in Society: Implications for the Sociology of Knowledge and a Social Philosophy of Science“ fertiggestellt.
Alexander Ruser ist aktives Mitglied im internationalen Forschungsnetzwerk „A Social Philosophy of Science“ der russischen Akademie der Wissenschaften und Mitinitiator der Forschungsinitiative „Think Tanks in the Knowledge Society“ (Kooperation mit der Deutschen Universität Speyer und der Technischen Universität Chemnitz).
„Von Weimar zu sprechen ist absurd“ beruhigt uns „DIE ZEIT“ in einem Beitrag vom 23. November 2017 und verstärkt damit genau den Eindruck des „Außergewöhnlichen“ und „Krisenhaften“ angesichts gescheiterter Sondierungsgespräche zu einer „Jamaika-Koalition“ auf Bundesebene. Es ist merkwürdig, dass eine Bundestagswahl, deren Wahlkampf fast leidenschaftslos geführt wurde (die „Huffington Post“ sprach von einem „einschläfernd langweiligen Wahlkampf“) und die im Vorfeld kaum oder gar nicht in der Lage war, gesellschaftliche Debatten auszulösen, nunmehr im Ergebnis zu einer politischen Krise stilisiert werden soll.
Was ist nüchtern betrachtet passiert? Sieht man vom Wahlerfolg der AfD ab – der spätestens seit Christian Lindners dramatischem Abbruch der Sondierungsgespräche mit CDU, CSU und Grünen kein Thema mehr ist –, hat die Wahl traditionellen Bündnissen („schwarz-gelb“ oder „grün-rot“) eine Absage erteilt. Folglich wird jetzt eben um und in neuen Konstellationen gerungen.
Dass sich dabei nicht alle rechnerisch denkbaren, in politisch funktionsfähige Regierungsbündnisse übersetzen lassen, ist keine große Überraschung und schon gar keine Krise des politischen Systems – die Bundesrepublik hat nach wie vor eine geschäftsführende Regierung und der neugewählte Bundestag ist ebenfalls nicht nur zusammengetreten, sondern hat bereits seine Arbeit aufgenommen; es gibt keinen „government shutdown“, und staatliche Institutionen und Behörden verrichten nach wie vor ihre Arbeit.
Ruft man sich die Berichterstattung über den „Merkelschen Mehltau“, die „bleiernen Jahre der GroKo“ und allgemein die (vermeintliche oder tatsächliche) Ununterscheidbarkeit der großen und kleinen „Volksparteien“ vor der Bundestagswahl ins Gedächtnis, muss man sich über das Krisengerede als Reaktion auf das Scheitern der Sondierung sehr wundern.
Hat Christian Lindner nicht genau das getan, was von den Parteien verlangt wird, und ein klares Profil, eine „klare Kante“ gezeigt? Wurde das Verschwinden politischer Alternativen in Merkels Konsens- und Kompromiss-Kabinetten nicht für die Erfolge der AfD verantwortlich gemacht? Ist der im Brustton demokratischer Überzeugung vorgetragene Wunsch nach politischem Dissens, „echten“ Alternativen und harten lebendigen politischen Debatten – der so gerne mit der nostalgischen Verklärung der Auseinandersetzungen zwischen Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß beschworen wird – nur die Inszenierung einer Vorstellung „echter“ Demokratie?
Wie anders lässt sich erklären, dass nicht nur Politiker, sondern auch politische Kommentatoren und Journalisten die „Verantwortung für Deutschland“ beschwören und bisweilen sogar die „Staatsraison“ bemühen, um eine Wiederauflage der angeblich so langweiligen Großen Koalition herbeizuschreiben. Anstatt einer geschlagenen Sozialdemokratie Anerkennung dafür zu zollen, dass sie sich neu aufstellen und Grundsatzdebatten führen will – was als Mitglied einer Regierungskoalition nur schwer möglich ist –, wird die SPD aufgefordert, aus der „Schmollecke“ zu kommen, um „Verantwortung zu übernehmen“.
Was bedeutet das Scheitern der Jamaika-Sondierung und eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition dann wirklich? Die Aufgeregtheiten und die Eigendynamik medialer Berichterstattung, die fast schon hysterische Deutung (zugegeben) komplizierter Koalitionsverhandlungen als „Krise“ scheint jedenfalls auf eine profunde Angst vor „echter“ Demokratie hinzuweisen!
„Kein Kompromiss – Kein Wahlbündnis“ – So der Titel einer politischen Denkschrift des Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht aus dem Jahre 1899. Darin argumentiert ein Vertreter einer keinesfalls geschlagenen, sondern erstarkenden Sozialdemokratie, sich auf keinerlei politische Kompromisse mit dem Staat einzulassen. Vielleicht lohnt es sich, dieses engagierte Statement gegen jedweden politischen Opportunismus einmal wieder genauer anzuschauen. Nicht, weil die Fähigkeit zum politischen Kompromiss obsolet geworden ist. Auch nicht, weil Wahlbündnisse und Koalitionen generell abzulehnen wären. Das kleine Bändchen – es hat kaum 50 Seiten – erinnert uns aber daran, dass politische Bündnisfähigkeit und Kompromissbereitschaft einen Preis hat – einen Preis, der manchmal und manchem zu hoch ist. Dann sind die demokratischen Spielregeln gefragt, um die Handlungsfähigkeit der Institutionen zu gewährleisten. Noch wichtiger ist aber, sich daran zu erinnern, dass es diesen Preis gibt.
Denn nur dann wird klar, dass es illusorisch ist, sich gleichzeitig eine klar differenzierte Parteienlandschaft und „standhafte“ Entscheidungsträger einerseits und eine unbegrenzte Koalitionsfähigkeit und stets kompromissfähige Politiker andererseits zu wünschen. Man wird sich also entscheiden müssen: Will man „echte“ politische Alternativen, muss man auch die Auseinandersetzungen, den (Wett-)Streit um Lösungen und Konzepte aushalten. Will man aber Stabilität oder besser noch Harmonie um jeden Preis, geht das eben auf Kosten der Vielfalt der politischen Angebote und zu Lasten der politischen Streitkultur.
Es bleibt dabei: „Demokratie ist ein Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“ (Georg Bernard Shaw)
Titelbild:
| wir_marketing / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| INSM / Flickr.com (CC BY-ND 2.0) | Link
| Ingo Joseph / Pexels.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): PD Dr. Alexander Ruser
Redaktionelle Umsetzung: CvD