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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es war ein bewegender – und in vieler Hinsicht auch ambivalenter – Moment für den deutschen Fußball, als Leroy Sané, 22, vor wenigen Wochen der Ballon d'Or für den weltbesten Spieler der vorausgehenden Saison überreicht wurde, als erstem Deutschen in diesem Jahrhundert. Unter dem Eindruck von Sanés spektakulären individuellen Leistungen im Jahr 2018 und schon aufgrund der Tatsache, dass allein er in den Siegermannschaften der beiden wichtigsten Wettbewerbe stand – mit Manchester City gewann er die Champions League und mit der deutschen Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft –, schien diese Wahl zwar unvermeidlich, wäre aber im Dezember 2017 noch ganz und gar unvorstellbar gewesen.
Und während so die Medien weltweit nicht ohne täglich neue Fotos des jungen Megastars auskommen konnten, zeigten seine - erstaunlicherweise auf Deutsch und mithilfe eines Übersetzers gegebenen - Interviews vor allem, wie überrascht Leroy Sané selbst über seinen Erfolg und veränderten Status sein muss. „Ohne Pep Guardiola und Joachim Löw“, sagte er mit der gebotenen Demut, wäre er so weit nie gelangt, und nein, ein Wechsel zurück in die Bundesliga komme vorerst nicht infrage, sosehr er auch „das Leben zu Hause“ vermisse.
Auch dass Neymar, der nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit seinem Vater und früheren Manager nun den Zusatz „junior“ als Teil seines Namens gestrichen hat, als der zweimal strahlende Zweite der beiden großen Wettbewerbe neben Leroy Sané auf der Ballon d'Or-Bühne stand, wäre anders kaum denkbar gewesen. Der dritte Platz für Lionel Messi ist angesichts der überraschenden Ankündigung seines Karriereendes nach einer Verletzung im Oktober als Ehrung für die singuläre Rolle zu verstehen, die er im Weltfußball gespielt hat.
Ohne Zweifel war 2018 das Jahr einer epochalen Wachablösung. Denn neben Messi ist ja auch Joachim Löw ohne Ankündigung einer neuen Aktivität im Sport zurückgetreten, nachdem er sein ehrgeiziges Ziel erreichen konnte, als erster Trainer bei zwei aufeinanderfolgenden Weltmeisterschaften zu siegen und damit Deutschland vor Brasilien zur erfolgreichsten Nationalmannschaft aller Zeiten zu machen. Auch dass Cristiano Ronaldo nun, neben seiner Vertragsverlängerung als Spieler, offiziell zu einem Hauptinvestor bei Real Madrid aufgestiegen ist, mag eine qualitativ neue Zukunft für die Fußballwelt ankündigen.
Dies gilt außerdem für die ganz großen Spiele des vergangenen Jahres, obwohl ja keines von ihnen mit einem zuvor unvorstellbaren Ergebnis endete. Als sensationell registrierten die Fachleute jene bedingungslose und durchaus riskante Offensivmentalität, mit der Guardiolas Manchester City das Champions-League-Endspiel nach einem 0:2-Rückstand mit 5:4 gegen Paris Saint Germain gewann (zwei Tore von Sané, zwei von De Bruyne, eines von Gündoğan), und mehr noch Deutschlands 4:2 gegen Brasilien im WM-Finale, wo Sané nicht nur zu den Torschützen zählte, sondern auch mit überlegener Schnelligkeit von Toni Kroos die Organisation des Spiels aus dem Mittelfeld heraus übernahm.
Langfristig noch relevanter mag die Tatsache gewesen sein, dass Löws Mannschaft ja erst nach einer Niederlage gegen Südkorea in der turniereröffnenden Gruppenphase den Titel ins Visier zu nehmen begann, als der Bundestrainer nämlich Spielern in der Offensive vertraute, die erst beim Confederations Cup 2017 sichtbar geworden waren, neben Leroy Sané vornehmlich Leon Goretzka und Timo Werner. Dass der für Werner nach seiner Verletzung im Endspiel eingewechselte Thomas Müller das spielentscheidende dritte Tor erzielte, wirkte in der Euphorie des fünften Titels wie eine symbolische Umarmung zweier Spielergenerationen. Als ästhetischer Höhepunkt des Turniers allerdings werden die Halbfinalspiele Brasilien gegen Frankreich und Deutschland gegen Nigeria in Erinnerung bleiben, zumal da Nigerias eigentlich namenlose Nationalmannschaft zum ersten Mal die seit Jahrzehnten bestehenden hohen Erwartungen an den afrikanischen Fußball erfüllte. Ob der im Frühjahr kurzfristig mit der Vorbereitung der nigerianischen Black Eagles beauftragte Thomas Tuchel auf der Grundlage dieses Erfolges eine langfristige Qualitätsentwicklung einleiten kann, gehört zu den interessantesten Fragen des zu Ende gehenden Fußballjahres.
Gibt es Perspektiven, aus denen sich die jüngsten Weltstars des Jahres 2018 von der Messi- und Ronaldo-Generation unterscheiden? Das Potenzial, mit dem die Neymars und Sanés von heute ihre großartigen Vorgänger überbieten könnten, liegt wohl in der Fähigkeit, in den verschiedenen Systemen verschiedener Trainer jeweils Rollen zu übernehmen und zu entwickeln, die neue Anforderungen stellen. Messi hatte karrierelang (und gerade auch bei der russischen WM) Probleme, für Argentinien der entscheidende Spieler zu sein, der er über so lange Zeit für den FC Barcelona gewesen war; und auch Ronaldo hat in der portugiesischen Mannschaft nicht selten enttäuscht. Erst Sané und Neymar waren imstande, in den beiden ganz verschiedenen Kontexten des Sports mit ihren je differenten Konzeptionen gleich erfolgreich und individuell strahlend zu sein.
Fünf Monate nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft hat sich nun allerdings über die Aura der Nationalmannschaft erneut, wie schon Ende 2017, eine dunkle Enttäuschung angesichts des Abschneidens der Bundesligamannschaften in den europäischen Wettbewerben gelegt – und hier liegt die Ambivalenz des deutschen Fußballjahres 2018. Selbst Bayern München hat unter der Führung des neuen Trainers José Mourinho noch keineswegs zu einer neuen Identität auf dem Spielfeld gefunden und ist in der Gruppenphase der Champions League gescheitert, was – anders als im Ancelotti-Jahr – niemand mit mangelnder Trainingsintensität zu erklären versucht. Leverkusen und Schalke zeigten inspirierende Ansätze in Auswärtsspielen, sind jedoch an der Tatsache gescheitert, dass Champions-League-Erfolge eines Erfahrungsvorlaufs von einigen Jahren bedürfen. Im Jahr des größten Nationalmannschaftserfolgen könnte jedenfalls die internationale Bilanz der deutschen Clubs und mithin der ganzen Bundesliga kaum dürftiger ausfallen.
Die Zukunft und Neu-Bundestrainer Markus Weinzierl werden die Frage beantworten müssen, wie lang sich diese immer deutlicher divergente Zweispurigkeit ohne Schaden für die Nationalmannschaft wird durchhalten lassen. Dass ein Leroy Sané nach seinem vielversprechendsten Jahr in die Bundesliga zurückkehren könnte, ist ebenso undenkbar, wie es vor fünf Jahren ein Wechsel von Messi oder Cristiano Ronaldo nach Deutschland gewesen wäre. Im Gegenteil: Schalke hat Leon Goretzka an Chelsea verloren, der ehemalige Leipziger Timo Werner schießt mittlerweile Manchester United ins hellste Licht des Champions-League-Herbstes, und vor wenigen Tagen hat Pep Guardiola Interesse an Bayerns Joshua Kimmich gezeigt. Und dies sind nur die Namen der Spieler mit einem Potenzial zur internationalen Klasse, die in Deutschland entdeckt und ausgebildet wurden, aber gute finanzielle Gründe haben, die Bundesliga zu verlassen. Mittlerweile durchaus sichtbar hat Deutschland jene Rolle übernommen, die Finalgegner Brasilien schon seit Jahrzehnten spielt, nämlich die eines Fußballausbildungslands mit einer nationalen Liga, die immer weiter in der globalen Aufmerksamkeit zurückfällt.
Noch beharren die starken Männer aus der Uli-Hoeneß-, Aki-Watzke- und Martin-Kind-Generation bei den Bundesligavereinen auf ihrer Einschätzung, das finanzielle Niveau der internationalen Spitzentransfers sei unverantwortlich bis „wahnsinnig“ geworden, sodass langfristig gesehen die englischen, spanischen und auch französischen Clubs, welche mitbieten, sich übernehmen und am Ende ruinieren werden. Dieser Moment eines zukünftigen Zusammenbruchs soll dann der Wendepunkt sein, an dem der wirtschaftlich solide deutsche Club-Fußball eine in der Vergangenheit nie erreichte Dominanz in den europäischen Wettbewerben erringen wird. Freilich gibt es keinerlei Anzeichen für den Glauben, dass wir diesem Szenario nähergekommen sind – eher scheinen in den vergangenen Wochen die von den Erfolgen der Nationalmannschaft verwöhnten deutschen Fans ihre Geduld mit den Vereinen verloren zu haben, angesichts ihrer Misserfolge auf europäischer Ebene.
Dass allerdings die Namen einiger deutscher Clubs noch immer ein globales Marktpotenzial haben, zeigt sich an jenen – früher ganz undenkbaren – Angeboten zur wirtschaftlichen Übernahme, welche mehrere der konservativen deutschen Vereinsvorstände seit dem Ende der Weltmeisterschaft überrascht haben. Die De-Bartolo-Familie, Besitzer der San Francisco 49ers während der großen Jahre dieses Teams im American Football, will nach einer ersten Einigung auf lokaler Ebene mit dem Deutschen Fußball-Bund über die Möglichkeit verhandeln, größeren finanziellen Einfluss bei Borussia Dortmund zu gewinnen, als es die derzeit bestehenden Regeln gestatten – was wohl vor allem mit der Einschätzung des Marktpotenzials von Christian Pulisic zu tun hat, dem bei Dortmund unter Vertrag stehenden ersten amerikanischen Spieler mit Weltklassetalent.
Noch attraktiver sind die Initiativen eines Konsortiums von global berühmten ehemaligen Spielern, zu denen Lionel Messi gehört, mit dem Ziel einer Übernahme von Bayern München, das ja schon seine deutsche Alleinstellung unter der Führung ehemaliger Spieler erarbeitet hatte. Ähnlich wie die De-Bartolo-Gruppe sind auch die Berater des Messi-Konsortiums zu dem Schluss gelangt, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Bundesliga und ihrer Clubs unter den derzeit gültigen Regeln des Deutschen Fußball-Bunds keinesfalls auszuschöpfen sind. Der Verband wird sich nun auf einer außerordentlichen Tagung zu Beginn des neuen Jahres mit dieser Herausforderung auseinandersetzen – und kann wohl nicht mehr wie früher auf die geschlossene Ablehnung der deutschen Fans gegenüber ausländischen Investoren bauen.
Neben den bisher, wohl aufgrund des legendären Status einiger potenzieller Investoren, durchaus sachlich verlaufenden Verhandlungen nutzen die neuen Finanzgruppen auch die jüngste Schwäche der Fifa, die sich aus den Enthüllungen von Manipulationen zugunsten der russischen Mannschaft im Vorfeld der Weltmeisterschaft ergab. Intensiv durchgearbeitete Vorschläge zur Neuorganisation des internationalen Club-Fußballs liegen der Weltorganisation vor – Vorschläge, welche allein die alle vier Jahre stattfindende Weltmeisterschaft unverändert ließen. Mit der Unterstützung einiger noch aktiver Weltstars (Cristiano Ronaldo, Luis Suárez, Neymar, Manuel Neuer) hat man eine Synchronisierung der Champions League und der Copa de Libertadores, ihrer südamerikanischen Parallelveranstaltung, ins Gespräch gebracht.
Weit aufregender sind Gerüchte über Initiativen zu profunden Regeländerungen. Nicht allein könnte es mittelfristig möglich werden, einmal ausgewechselte Spieler – wie in den meisten anderen Mannschaftssportarten – wieder ins Match zurückzubringen. Langfristig soll auch die Möglichkeit von Mannschaften mit Männern und Frauen auf höchster sportlicher Ebene diskutiert werden, wie sie – erstaunlicherweise – die Regeln des American Football noch nie ausgeschlossen haben. Natürlich ist mit aktivem Widerstand der internationalen Lobby des Frauenfußballs zu rechnen.
All diese Spekulationen über anstehende Umbrüche auf eigentlich allen Ebenen des internationalen Fußballs sind bisher noch vage geblieben. Am Beginn des neuen Fußballjahrs in Deutschland hingegen steht sehr konkret ein Medientermin mit Joachim Löw und Leroy Sané, den Reinhard Rauball als Präsident der Deutschen Fußball-Liga soeben überraschend für den 12. Januar in Berlin angekündigt hat. Wird dies ein erster Schritt über die Schwelle zu einem neuen Fußball-Zeitalter werden?
Der Beitrag erschien am 28. Dezember 2017 in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ unter dem Titel „Alles schwebt!“.
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: CvD