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Professor PhD Nico Stehr ist Diplom-Volkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung und lehrte seit seiner Habilitation bereits an unzähligen deutschen Universitäten in Österreich, Kanada und den Vereinigten Staaten. Seit 2004 ist Stehr Lehrstuhlinhaber des Karl-Mannheim-Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. 2011 wurde Stehr ebenfalls in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen.
Kein Phänomen hat aktuell wohl ein größeres Potenzial, die industrialisierten Gesellschaften aus den Fugen zu heben, als die tiefgreifende Entwicklung der Digitalisierung. Darin scheint jedenfalls in Wissenschaft und Politik weltweit ein breiter Konsens zu bestehen. Doch in Bezug auf die Wirkungsrichtung ihrer Effekte ist man sich sehr uneinig. So sieht beispielsweise die OECD in einem aktuellen Bericht in der digitalisierten Wirtschaft den Schlüssel zu einer besseren Welt mit größerer Inklusion und Teilhabe, weniger Ungleichheit und nachhaltigem Wohlstand. Gleichzeitig krankt die Diskussion um den Stellenwert der Digitalisierung allerdings ganz offenbar an einer bemerkenswerten Oberflächlichkeit und konzeptionellen Verwirrung.
In der Diskussion um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft spielt das sogenannte „Humankapital“ eine zentrale Rolle. In den USA sucht man bereits mit Nachdruck nach den Schlüsselqualifikationen des 21. Jahrhunderts, die Schulen und Universitäten vermitteln sollen. Dazu zählt man bislang allerdings eher herkömmliche Fähigkeiten wie Teamarbeit, Problemlösungskompetenz oder Selbstmanagement – sogenannte „Soft Skills“ –, die nicht nur für den Erfolg am Arbeitsplatz als wertvoll angesehen werden, sondern auch für staatsbürgerliche Rollen und das Familienleben. Im Grunde aber stochern jene, die sich mit diesem Thema beschäftigen, weitestgehend im Dunkeln. Die Achillesferse aller bisherigen Überlegungen ist, dass es bisher in Deutschland wie auch anderswo in der Welt keine konkreten Vorstellungen beziehungsweise erwähnenswerte Forschungsvorhaben gibt, konkret jene Fähigkeiten zu identifizieren, die in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts den Unterschied zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Misserfolg ausmachen werden – sei es auf betrieblicher oder gesamtwirtschaftlicher Ebene. Mit dem Begriff des Humankapitals sollen zwar elementare produktive Kompetenzen von Arbeitnehmern umschrieben werden. Doch offensichtlich werden sich die Herausforderungen der Arbeitswelt in Zeiten der Industrie 4.0 gründlich verändern. Wieso also scheint die Frage nach den konkret dafür notwendigen Kompetenzen so festgefahren, unbeantwortet, ja geradezu irrelevant zu sein?
Vor diesem Hintergrund wollen wir uns konkret auf den Zusammenhang von Digitalisierung und Arbeitswelt konzentrieren, um uns einer Antwort auf das so zentrale und äußerst verzwickte Rätsel zu nähern: Wir fragen, welche Fähigkeiten von Nöten sein werden, um den tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt, welche die Digitalisierung bereithält, adäquat begegnen zu können. So steht fest: Ob sich die Digitalisierung positiv oder negativ auf die Gesellschaft auswirken wird, wird im Kern von unserer Reaktion abhängen und der Frage, wie man sich an die tiefgreifenden Veränderungen anpassen und sich neue Potentiale zu Nutze machen kann. Worauf wird es also ankommen?
Die Debatte um die digitalisierte Wirtschaft scheint zumeist eine datenintensive oder technische Informationswirtschaft zu beschreiben, in der digitale Kommunikationsnetze, Berechnungen, Dateninfrastrukturen und andere meist hoch entwickelte technische Hilfsmittel wirtschaftliche Prozesse dominieren. Zweifellos ist die rapide Bearbeitung, Kombinierung und Verbreitung von analogen Informationen durch die Digitalisierung ungemein bestärkt. Sie ist und bleibt jedoch ein passives Medium, das heißt, sie entfaltet sich erst im Umgang mit ihr. Es ist vor diesem Hintergrund ein elementarer Fehlschluss zu glauben, dass mehr Informationen alleine automatisch auch zu praktischen Handlungsanweisungen, geschweige denn zu mehr Wissen führen würden. Vielmehr muss Wissen als Voraussetzung gesehen werden, um mit der neuen Datenfülle umgehen zu können.
Auch eine digitale Wirtschaft bleibt insofern eine von Menschen gemachte Ökonomie. Vor diesem Hintergrund kann ein vereinfachtes, rein technisches Verständnis der Digitalisierung, welches die soziale Dimension gänzlich aus dem Blick verliert, keine Basis für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung bilden. Denn man fokussiert sich notgedrungen auf bestimmte (technische) Schlüsselkompetenzen, beispielsweise Software- oder IT-Kenntnisse, die aber – und das haben vergangene Vorhersagen eindrucksvoll gezeigt – selbst meist schnell von der Entwicklung eingeholt werden. Eine solche Perspektive scheitert schlussendlich immer am selben Problem: Es ist schlichtweg unmöglich vorherzusagen, welche expliziten Fähigkeiten ein Arbeitnehmer in zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren brauchen wird, um in einer veränderten Arbeitswelt bestehen zu können.
Um die gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung differenziert betrachten zu können, sind viel wichtiger als infrastrukturelle Fragen rund um die Technik Fragen nach den kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die der Umgang mit der digitalen Entwicklung erfordert: Was macht man bloß mit der gesammelten Datenflut? Wie setzt man die neue Informationsfülle in produktive Ziele um? Sind die bekannten Schlüsselfähigkeiten Rechnen, Lesen und Schreiben noch im Stande, mit den neuen Herausforderungen des digitalen Zeitalters umzugehen?
Erste Untersuchungen offenbaren bereits einen Vorgeschmack auf die tiefgreifenden Konsequenzen, welche die Digitalisierung bereithält. Im Gegensatz zu vergangenen technisch-basierten Veränderungen in der Arbeitswelt wird es zu markanten Einbußen im Umfang der notwendigen Arbeitsstunden und der Zahl der Beschäftigten kommen: einerseits aufgrund von erheblichen Produktivitätszuwächsen und andererseits aufgrund mangelnder komplementärer Fähigkeiten. Dabei treffen diese Entwicklungen nicht nur die klassische Produktion, sondern auch Sektoren, die bisher als unangreifbar galten, was arbeitssparende technische Entwicklungen beträfe – etwa das Dienstleistungsgewerbe, die medizinische Diagnose und Therapie, die Polizeiarbeit, die Finanzwirtschaft, das Transportgewerbe oder das Rechtswesen. Die Politik schiebt dieses Problem ganz offensichtlich auf und lässt Bildung und Qualifizierung unangetastet, während sie seit Jahren auf Kosten der Lohngerechtigkeit einen Arbeitsplatzerhalt durch die aktive Förderung von minderqualifizierter Teil- und Zeitarbeit unterstützt.
Wie kann man den zukünftigen Herausforderungen angemessener begegnen? Im Grunde bestehen die Schlüsselkompetenzen in der digitalisierten Welt darin, Informationen intelligent auszuwählen, diese zu bewerten und schlussendlich zu produktivem Handeln umzusetzen. Wir nennen diese Kompetenzen Wissensfähigkeiten: Wissensfähigkeiten sind generalisierende, sinnstiftende, kognitive und soziale Kompetenzen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ermöglichen, ohne vorher zu wissen, was genau die digitalisierte Zukunft bereithält.
Wissen selbst befähigt nämlich noch nicht zur Handlung. Es ermöglicht keine direkte Steuerungsfähigkeit und ist auch nicht mit praktischer Vernunft gleichzusetzen. Zum Beispiel kann jemand über relevantes Wissen verfügen, daraus folgt aber nicht, dass dieser ein Problem auch zwingend lösen kann. In einer Gesellschaft, die durch eine immer weiterwachsende Fülle an Informationen und Wissen geprägt ist, sind es daher Wissensfähigkeiten, die kognitive und soziale Kompetenzen bündeln und so helfen, die neuen digitalen Möglichkeiten produktiv zu nutzen. Denn sie umfassen Handlungskompetenzen wie die Befähigung, Ermessensspielräume auszunutzen; die Fähigkeit, zu kommunizieren und effektiv zu partizipieren; das Können, mehrere, unter Umständen gegensätzliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen; die Fähigkeit, Widerstand zu mobilisieren; die Fähigkeit, etwas zu vermeiden oder auszuschließen; die Fertigkeit, neue und überzeugende Ideen oder Ansichten zu generieren; die Befähigung, über das eigene Denken nachzudenken, oder die Fähigkeit, Fehlschläge zu verkraften. Wissensfähigkeiten sind also sinnstiftend, eröffnen einen umfassenden Handlungsspielraum für Wahlmöglichkeiten und erhöhen dadurch die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des modernen Arbeitnehmers.
Vor diesem Hintergrund appellieren wir dazu, solche Wissensfähigkeiten (1) umfassend zu erforschen und zu diskutieren und (2) auf dieser Basis gezielt zu fördern, um sich an die zunehmend digitalisierte und globalisierte Arbeitswelt anpassen und neue Potentiale zu Nutze machen zu können. Die derzeit im Raum stehende Abschaffung des Kooperationsverbotes in der Bildungspolitik, die eine neue Große Koalition durchsetzen könnte, wird maßgeblich sein, um in dieser Hinsicht praktische Fortschritte zu machen. Auch der geplante Bildungsrat der Bundesrepublik hat in dieser Hinsicht keine wichtigere Aufgabe, als die Wissensfähigkeiten des 21. Jahrhunderts zu diskutieren und erforschen zu lassen. Denn Curricula auf allen Ebenen des Bildungssystems müssen durchforstet werden. Wie kann man den Erwerb von Wissensfähigkeiten unabhängig von der sozialen Herkunft der Menschen fördern? Sind neuartige pädagogische Methoden von Nöten und wie schult man Lehrkräfte, Wissensfähigkeiten zu erkennen und zu vermitteln?
Fest steht schon jetzt: Die Digitalisierung als bloße Technik zu verstehen, ist eine Bankrotterklärung. Ohne Wissensfähigkeiten als begleitende Kompetenzen wird es keine erfolgreiche Digitalisierung geben. Worauf es schlussendlich ankommt, sind nicht Informationen, sondern Verständnis und Einsichten.
Der Artikel ist am 15.02.2018 unter dem Titel „Die Rolle des Wissens in der digitalisierten Welt“ auf „The European Online“ erschienen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. PhD Nico Stehr
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm
Mitautor des Beitrags ist ZU-Alumnus Dustin Voss:
Dustin Voss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Institute der London School of Economics (LSE). Zuvor studierte er Sociology, Politics & Economics an der Zeppelin Universität sowie Political Economy of Europe an der LSE. Sein Themenschwerpunkt liegt vor allem auf der Europäischen Politischen Ökonomie, mit besonderem Fokus auf vergleichender Kapitalismusforschung, Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie monetärer Integration im Euroraum.