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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Über die vergangenen zwei Jahrzehnte sind die früher wenig bemerkenswerten Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen zu einem strahlenden Feuerwerk in der Ästhetik und Feier nationaler Identitäten aufgestiegen. Ende August 2016 zeigte Brasilien zum Auftakt seiner Selbstinszenierung satte Farben und weichkonturierte Formen, die vor allem Bilder aus dem tropischen, vom Amazonas und seinen Nebenflüssen beherrschten Norden heraufbeschwören sollten; Eindrücke aus den südlicheren Landschaften und Städten zwischen São Paulo und Porto Alegre folgten später und mit spürbar nachlassender Intensität. Die Präferenz entsprach den Vorzeichen, unter denen sich Brasilianer individuell und kollektiv am liebsten sehen. Sie wollen „Natur“ sein, wenn möglich „reine Natur“, Spontaneität und Leidenschaft ohne Vermittlung durch Reflexion oder Rationalität, bis in die Routinesituationen des Alltags hinein.
Freilich gelang die Olympiade von Rio de Janeiro am Abgrund der wohl schmerzhaftesten politischen und wirtschaftlichen Krise, die das Land je erlebt hat. Mehrere Gouverneure des Bundesstaats Rio, die ihre Hauptstadt zu den Spielen geführt hatten, sitzen mittlerweile Haftstrafen ab, zu denen sie wegen Korruption verurteilt worden sind, und viele der architektonisch beeindruckenden Stadien und Wettkampfstätten haben rasch einen Grad des Verfalls erreicht, der sie für jegliche Sportveranstaltung ungeeignet macht. Die sichtbare Spannung zwischen einer charismatischen Vergangenheit und einer Gegenwart deprimierender Dekadenz erhebt sie zu Emblemen von Brasilien als Nation – nicht nur – heute. Nach einem kurzen Jahrzehnt scheinbar unbegrenzten Fortschritts, der um 2000 einsetzte, bald ein unerhörtes Wachstum entfaltete und für mehr als 30 Millionen Bürger ein Leben unter der von der Uno definierten Armutsgrenze beendete, ist das Land in ein politisches und wirtschaftliches Chaos gemäß einem Zyklus gefallen, wie er sich in den über 200 Jahren brasilianischer Geschichte schon mehrfach vollzogen hat.
Der Blick auf die jungen Ruinen der Olympischen Spiele von Rio und nicht wenige andere Szenen im Land entsprechen auch einer Struktur, die der Philosoph Theodor W. Adorno als typisch für große Kunstwerke und als Voraussetzung für ihr Potenzial, ästhetische Erfahrung auszulösen, identifiziert hat (zu wissen, dass der von Adorno am höchsten geschätzte literarische Autor zu seinen Lebzeiten Samuel Beckett war, hilft, sich auf die Tonlage seiner Theorie einzustellen). Anstelle von Harmonie oder einer Vollkommenheit der erfundenen Formen machen für Adorno „Spannungen im benutzten Material“ die Besonderheit von Kunstwerken aus, „Spannungen“, auf die man auch in der Gleichzeitigkeit von Erinnerungen an Gegenstände im Moment ihres Funktionierens und in der Gegenwart ihres Verfalls trifft. Ebendiese Spannung nun, behauptet Adorno, mache es nicht bloß unmöglich, die Probleme und Ungerechtigkeiten von jeweiligen Gegenwarten zu vergessen, sie wecke auch die Sehnsucht nach einer Welt existenzieller Erfüllung – und zwar desto nachdrücklicher, je weiter man sich von ihr entfernt fühle.
Genau diese Spannung und mithin auch die Momente des utopischen Glücksverlangens verfehlt der Drang vieler Brasilianer, sich selbst und ihr Land entweder als „reine Natur“ oder ausschließlich als „vernunftgeborene Kultur“ zu erleben. Nirgends wird das Problem deutlicher und tatsächlich dramatischer als an einigen Orten des immer wieder einseitig verherrlichten tropischen Nordens, wo Industrie und Kultur der zerstörenden „Rache der Natur“, wie man dort sagt, anheimgefallen sind. Einen solchen Ort spannungsvoller Schönheit markieren die Reste der Madeira-Mamoré-Eisenbahnlinie im Bundesstaat Rondônia als ein an der Natur gescheitertes Zivilisationsprojekt.
Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte es lebhafte Diskussionen über die Frage gegeben (Diskussionen, die mit einem kurzen Blick auf den Atlas Südamerikas schnell verständlich werden), wie die atlantische Küste für Exporte aus Bolivien trotz einer Geografie erreichbar werden könnte, in der jede Art von überregionalem Verkehr durch den Rio Madeira als wasserreichstem Nebenfluss des
Amazonas und durch den Rio Mamoré, seinen eigenen Nebenfluss, eigentlich undenkbar scheint. Eine Vielzahl von Ansätzen, das Problem durch den Bau einer Zuglinie zu lösen, scheiterten schon in der Planungsphase oder kurz nach Beginn der Bauarbeiten, unter dem Verlust Hunderter von Leben aufgrund von Unfällen und Tropenkrankheiten. Zwischen 1907 und 1912 gelang es dann endlich dem nordamerikanischen Ingenieur Percival Farquhar, eine Bahnlinie zu bauen, welche über die erst damals entstehende Stadt Porto Velho nach Guajará-Mirim führt. Zunächst unter britische Verwaltung gestellt, erfüllte sie nie wirklich die ihr von den Investoren zugedachte Funktion, wohl vor allem deshalb, weil die Eröffnung mit einer Krise der Kautschukindustrie zusammenfiel, des damals stärksten Wirtschaftszweigs der Region.
1931 übernahm endlich der damalige brasilianische Staat unter seinem protofaschistischen Führer Getúlio Vargas diese Institution, die zwar nie wirklich profitabel geworden war, aber in einer vorher kaum besiedelten Zone als Anlass für das Entstehen einer Bevölkerung gewirkt hatte, die nun mit einem politischen Recht aufs Überleben – auch ohne die Bahnlinie – rechnete. Unter wechselnden Machtkonstellationen, in denen Getúlio Vargas bis zu seinem Selbstmord im August 1954 stets einen besonderen Einfluss erhalten konnte, scheint der Staat diese Erwartung erfüllt zu haben, bis dann 1970 die Madeira-Mamoré-Linie definitiv eingestellt wurde von einer nationalen Militärdiktatur, die 1964 mit einem Staatsstreich an die Macht gekommen war.
Seither sind ihre Gleise, Lokomotiven und Bahnhöfe der Logik von der „Rache der Natur“ anheimgefallen und zugleich zu einer Strecke unheimlicher brasilianischer Schönheit geworden. Denn die dunkelgrüne Vegetation hat die steinernen Gebäude und die verlassenen Züge nicht nur überwachsen; über die Jahrzehnte hat sie auch begonnen, deren Substanz zu verwandeln und so Zivilisation wieder zu Natur werden zu lassen.
Besonders bewegend zeigen sich die Metamorphose und ihre Effekte in einem „Eisenbahnfriedhof“ nahe Porto Velho, der einerseits die Zivilisationswunden auf der Oberfläche der Natur sichtbar macht, aber umgekehrt auch das Verheilen der Wunden zu Narben in der Natur. In dieser dramatischen Ambivalenz liegt eine besondere Schönheit Brasiliens, die immer aufs Neue durch Gesten der Zivilisation provoziert und in Bewegung gesetzt wird.
Nach der Jahrtausendwende etablierte die damals neue sozialistische Regierung Brasiliens zwei Kraftwerke in der Region des Madeira- und des Mamoré-Flusses, die mit ihren neuen Arbeitsstellen einen zweiten historischen Bevölkerungsschub und in dessen Folge auch eine drastische Zunahme der Kriminalität auslösten. Seither sind die Strecken der von der Natur zurückgewonnenen Bahnlinie zu einer Zone des Verbrechens geworden – und damit auch zu einer neuen Herausforderung, welche
offenbar die lokale wie die nationale Politik überfordert. 2010 unternahm die regionale Regierung den etwas hilflosen Versuch, einen ehemaligen Bahnhof von Porto Velho zu einer Art Freilichtmuseum zu sanieren, und zerstörte dabei die Vegetation, ohne die Kriminalität einzudämmen.
Nur vier Jahre später „rächte sich die Natur“ wieder mit einer Flut, welche den restaurierten Bahnhof in den Rhythmus tropischen Zerfalls zurückholte. Und erst 2017 vollzog sich die vorerst letzte Episode in dieser dynamischen Spannung, die anscheinend nicht zu einem Ende gelangen kann. Die Regierung von Rondônia löste eine der Lokomotiven aus dem überwachsenen Depot, ließ sie reinigen und rekonstruieren, um sie in der Mitte eines Platzes von Porto Velho als Emblem der siegreichen Kultur auszustellen, während der Regenwald in wenigen Wochen das so entstandene Vakuum ausfüllte und bedeckte.
Was Rondônia, Porto Velho und ihre Bahnlinie in ästhetischer und vielleicht auch in politischer Hinsicht brauchen – „brauchen“ als eine Gegenbewegung zu den allzu gut gemeinten Eingriffen der Restauration, die eines Tages alle Spuren der Vergangenheit geplündert haben wird –, müsste eigentlich naheliegen in einer Zeit, welche die Entfaltung von Schönheit in Prozessen der Natur als „Land Art“ für sich entdeckt hat. Eine Teilstrecke der Madeira-Mamoré-Bahnlinie sollte zum „Nationalen historischen Monument“ erklärt (oder unter Naturschutz gestellt) werden, um den Kampf gegen die Natur zu beenden und das Verschwinden ihrer spannungsreichen Schönheit zu verhindern. Dass der Vollzug eines solchen Schritts ohne die endlich entschlossene Bekämpfung der entstandenen Kriminalität undenkbar ist, gehörte zu seinen positiven Nebenwirkungen.
Vor allem aber würde so ein Prozess der ästhetischen Erfahrung ohne Kunstwerk freigesetzt, in dem die früheren Gegenstände der Zivilisation mit der Natur zu neuen Substanzen, Formen und Farben zusammenwüchsen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Hier gäbe es dann, noch einmal ganz im Sinne von Adorno (aber denkbar weit von aller grauen Theorie entfernt), eine Utopie für das Zusammenleben von Natur und Zivilisation zu entdecken, die alle ideologischen Programme hinter sich ließe.
Dass sich der Prozess unter den Bedingungen des Klimawandels nur umso schneller und auch umso produktiver vollzöge, eröffnet diesem Vorschlag eine zugleich konservative und ökologische Dimension. Das Leben der Natur walten zu lassen, hieße auch den Klimawandel zu akzeptieren und sich auf ihn einzustellen, statt ihn anhalten zu wollen. Unter dieser Voraussetzung müssten sich die Brasilianer nicht mehr anstrengen, selbst „Natur“ zu sein. Vielmehr fänden sie in Gelassenheit ein neues Verhältnis zur ihr.
Der Artikel ist am 29.03.2018 unter dem Titel „Rache der Natur“ in der Wochenzeitung „Die Weltwoche“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm