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Es ist der Malecón, an dem sich abends halb Havanna versammelt. Zwischen Rhythmen von Daddy Yankee, Buena Vista Social Club und den Black Eyed Peas drängen sich Alt und Jung am Küstenboulevard um den besten Platz: mittlerweile nicht mehr so sehr, um die Sicht auf das Meer zu genießen oder die vorbeischlendernden Menschen zu beobachten, sondern vielmehr, weil der Internetzugang am abendlichen Malecón begrenzt ist und jeder ein Stück vom begehrten Anschluss an den Rest der Welt ergattern möchte. Zwischen den im Abendrot flackernden Handybildschirmen der jungen Kubaner mit hungrigen Bäuchen tanzt der Rest der lebenslustigen Meute – in diesem Land, das sich nicht der Maschinerie des neoliberalen Kapitalismus unterworfen hatte und stattdessen seinen eigenen, sozialistischen Sonderweg gegangen ist.
Doch herrscht vor allem bei den jungen Kubanern relative Einstimmigkeit darüber, dass Kuba seine überlastete Sozialismusschiene verlassen und stattdessen die Überholspur in Richtung Kapitalismus und Demokratie einschlagen sollte. In kubanischer Gemächlichkeit schieben sich jedoch weiterhin die berühmten amerikanischen Straßenkreuzer durch die schlaglochgeplagten Straßen, vorbei an den bröckelnden Fassaden der architektonischen Meisterleistungen aus Barock, Neoklassizismus und Art déco bis hin zum majestätischen Capitolio, das sein US-Vorbild in jeglicher Hinsicht übertrifft. Und biegt man erst in die Seitengassen ab – dort bröckeln ganze Balkone von Gebäuden, denen es schon lang an Fenstern und Türen mangelt. Sähe man am Horizont nicht das nächste überdimensionale AIDA-Kreuzschiff auf den Hafen Havannas zusteuern, könnte man sich in einem Film aus den 60er-Jahren verirrt glauben.
Trotz der seit 1982 andauernden Restaurationsanstrengungen des Stadthistorikers Eusebio Leal Spengler wird Habana Vieja (die Altstadt Havannas) unter den Kubanern als „vieja con colorete“, eine geschminkte Alte, tituliert. Obgleich des farbenfrohen Strahlens der Altstadt sehen sie in ihr das Strahlen einer zahnlosen Alten, die ihre Jugend nie wiedererlangen wird, wie sehr sie es auch versucht.
Es ist vor allem der Sozialismus, der nicht nur den verwahrlosten Zustand des Zentrums Havannas und vor allem der Provinzen bedingt, sondern auch die gähnende Leere in den Supermärkten. Dank der eher planlosen Planwirtschaft Kubas sowie des US-Handelsembargos fehlt es über Monate hinweg am Essentiellsten: Toilettenpapier kann in diesem Zusammenhang Anlass zu himmelhochjauchzender Freude werden, sollte es zeitweise wieder in den Supermarktregalen auftauchen. Ein Gefühl, das der aus kapitalistischem Überfluss herausgespülte Tourist kaum nachvollziehen kann.
Auch Restaurants und Cafeterias haben schwer mit den fluktuierenden Lebensmittelengpässen zu kämpfen, weswegen es ab und an eben nur noch die kubanische Spezialität Congri – also Reis, der zusammen mit schwarzen Bohnen gekocht wird – zur „Auswahl” gibt. „No hay“ (das gibt es nicht) ist seit der kubanischen Sonderperiode nach Zusammenbruch der Sowjetunion fast schon zum Nationalsprichwort geworden.
Der „Bloqueo”, wie das US-Handelsembargo in Kuba genannt wird, spielte eine entscheidende Rolle bei den wirtschaftlichen Entwicklungen Kubas des vergangenen halben Jahrhunderts. Das Embargo wird vom Großteil des kubanischen Volkes als „der am längsten währende Genozid der Geschichte” bezeichnet. Es ist dem amtierenden US-Präsidenten Donald Trump zu verdanken, dass trotz der Fortschritte Barack Obamas in den diplomatischen Beziehungen der zwei Staaten wieder eisige Kälte an der Floridastraße herrscht; was der kubanischen Regierung wiederum weiterhin als Entschuldigung für jegliches Versagen der eigenen staatssozialistischen Planwirtschaft in der Versorgung seines Volkes mit Lebensmitteln, Wasser und Strom dient.
Mit dem allmählichen Wegfall der bisherigen wichtigen Handelspartner – sei es Brasilien aufgrund des Korruptionsskandals um Lula da Silva oder Venezuela aufgrund der schweren Krise seit Hugo Chávez’ Tod – scheint Kuba das erste Mal seit der Kolonialisierung durch Spanien auf sich allein gestellt zu sein und befindet sich eigentlich auf direktem Wege in eine Wirtschafts- als auch Gesellschaftskrise: Die Bürger- und Menschenrechte sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung werden seit der kubanischen Revolution vernachlässigt und die soziale Ungleichheit wächst unaufhaltsam; so schreien vor allem die jungen, vernetzten und gebildeten Kubaner nach Veränderung.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Janine Röttgerkamp / Privat (alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Melissa Abreu
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm