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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen.
Jubiläen sind etwas Merkwürdiges. Sie entfachen eine merkwürdige Choreographie der Erinnerungskultur, die die klügsten und gebildetsten Menschen sich so benehmen lässt, als glaubten sie, vergangene Ereignisse würden immer genau nach 10, 25, 50, 100 oder 1000 Jahren wieder aktuell – und wären es außerhalb dieser Zyklen nicht. Jubiläen lenken damit nur zu häufig die klügsten Denker vom wirklich Wichtigen ab und bringen notorisch Dinge ins Bewusstsein, um die es zum jeweiligen Zeitpunkt gerade nicht geht.
Es ist wohl dem Unbehagen an diesem Umstand geschuldet, dass das 50-jährige Jubiläum der Studentenrevolten von 1968 gegenwärtig notorisch heruntergespielt wird: So wichtig sei es nun auch wieder nicht gewesen, hört man – oder man wird mit kauzigen Details und zu Plattitüden verkommenen Sprüchen konfrontiert, die ebenfalls dazu führen, das Jubiläum nicht ernst zu nehmen. All dies zeugt aber auch von dem Unbehagen, noch immer im Schatten jenes 1968 zu stehen. Es zeugt davon, dass 1968 dem allgemeinen Bewusstsein unangenehm geworden ist und jenen positiven Rückbezug behindert, den Gretchen Dutschke-Klotz in ihrem neuen Buch „1968 – Worauf wir stolz sein dürfen“ erstaunlich vergeblich einzufordern scheint. Zwischen 1968 und 2018 liegen – so wild und bewegt sie sich auch gegeben haben – Zeiten einer ungeheuren Stabilität (wenigstens in Westeuropa), sagenhaftem Wohlstand, relativem Frieden, und – was für diesen Beitrag wichtiger ist – einer ganz erstaunlichen Kontinuität des „basso continuo“ politischer Überzeugungen. Ich glaube, man kann diese 50 Jahre als langes 1968 beschreiben oder die friedliche Revolution von 1968 als den Gründungsmythos einer bis heute andauernden Ära. Das macht dieses Jubiläum auch zu einem Anlass, über diese Dauer nachzudenken und sie zu rekapitulieren.
Das Unbehagen an 68 scheint mir allerdings an mehr zu liegen als bloß dem Empfinden, von einem zur Heldenzeit ausgerufenen Jahr in den eigenen postheroischen Lebensentwürfen erstickt zu werden – ich möchte vielmehr am Ende dieses Beitrages auch der Vermutung Raum geben, dass die Ära des langen 1968 gerade dabei ist, in die Krise zu geraten. Doppelter Anlass also, sich – so essayistisch und unwissenschaftlich dieser Versuch auch anmuten mag – dem mythischen Jahr und seinen Folgen zu widmen: trotz und nicht wegen seines Jubiläums.
Um zu konkretisieren, was ich mit einem langen 1968 meine, möchte ich erst einmal auf die Dinge eingehen, die scheinbar gegen diesen Begriff sprechen. Da ist zunächst einmal das Verharren in einer kleinen – und wie ich finde – kleingeistigen Definition von 68, einer Definition, die sich nur auf dieses eine Jahr oder eine sehr reduzierte Gruppe bezieht. Wer – wie es derzeit im Feuilleton oft geschieht – die Bedeutung von 68 relativiert, bedient sich meist genau dieser kleinen Definition, denn dann lässt sich die folgende Kritik tatsächlich äußern: So viel, wie man diesen mythisierten Events und Kommunen zuschreibt, haben sie nicht geleistet. Aber 68 lässt sich auch anders fassen: als ikonisches Jahr einer größeren Entwicklung, einer Bewegung, die große Teile der Babyboomer-Generation erfasste und für die kommenden Jahrzehnte prägte. Und so möchte ich das lange 1968 auch verstanden wissen.
Doch war dieser Zeitraum nicht spätestens 1989 vorbei? Dafür spricht beispielsweise meine eigene Erfahrung, als ich – von 68ern überpolitisiert erzogen – in jenen deutschen 90ern landete, die politisch eher desinteressiert zu nennen noch eine milde Formulierung ist. Die Lebensphase, die für die meisten von ihnen durch eine Revolte geprägt war, war für meine Generation bestimmt von der Akzeptanz eines Zustands, den Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ genannt hat: Die quasi naturgesetzliche Durchsetzung liberaler, gemäßigt sozialer und marktwirtschaftlicher, vor allem aber pluraler Demokratien, die stabile und tolerante Zivilgesellschaften hervorbrachten und an deren grundlegender Ausrichtung kaum noch ernsthaft gezweifelt wurde.
Doch warum konnte daran eigentlich nicht mehr ernsthaft gezweifelt werden? Diese Frage bringt mich zum langen 1968 zurück: Denn nicht gezweifelt werden konnte an diesen liberalen, gemäßigt marktwirtschaftlichen Demokratien auch gerade deshalb, weil die letzten, die daran gezweifelt hatten – die Revoluzzer von 68 nämlich –, sich dergestalt pragmatisiert hatten, dass sie selbst diese Gesellschaftsordnung mittrugen. Mehr noch: Sie hatten sie derart geprägt, dass das von Fukuyama beschriebene zum Teil gerade auf das lange 1968 zurückging. In Deutschland etwa war der Marsch durch (oder genauer: in) die Institutionen zu diesem Zeitpunkt erfolgreich abgeschlossen, und etliche zentrale Werte der Rebellion – Emanzipation und Schutz von Minderheiten, weniger straffe Hierarchien, sexuelle Freiheiten, kultureller Pluralismus und eine einigermaßen gesicherte Teilhabe der ärmeren Schichten an Reichtum, Öffentlichkeit und Macht – waren auch so erreicht.
Damit aber war das Ende der Geschichte kein 68 entgegengesetztes, sondern ein davon geprägtes Phänomen. Die pragmatischere Arbeit innerhalb der repräsentativen Demokratien und die damit einhergehende Option dazu, die Ordnung der Staaten und Gesellschaften mitzugestalten, hatte eine Zivilgesellschaft geschaffen, die Frieden, Umwelt, sexuelle Freiheit, Gleichberechtigung, Pluralität, Diversität und Gerechtigkeit verpflichtet war und die es kürzlich geschafft hat, unter anderem jene Masse von Flüchtlingen engagiert aufzunehmen, die vor drei Jahren in dieses Land gekommen sind. Wenn man diesen Umstand beim Namen nennt, dann kann man von einem langen 68 sprechen.
Natürlich möchte ich den gerade beschriebenen Wandel vom Prinzip Hoffnung zum Ende der Geschichte damit nicht wegdefinieren, sondern zumindest zwei Phasen unterscheiden. Der Unterschied umfasst dabei
| eine schleichende Aufgabe der kommunistischen Ideologie,
| eine allmähliche Demystifizierung, Deheroisierung, Pragmatisierung und Technisierung dessen, was 1968 noch Heilsversprechen waren
| und eine Einkehr der 1968 noch zumindest in Deutschland recht unbekannten Macht der Ironie.
Man erwartete in der zweiten Phase – um das Beispiel der Christopher Street Days in den 90ern anzuführen –nicht mehr, dass die Befreiung der Sexualität Baustein der Weltrevolution ist, sondern befreite im Gegenzug die Sexualität auch von jenen politischen Übergriffen, zu denen auch die kommunistische Ideologie gehört hatte. Man wollte nicht mehr Utopien verwirklichen, sondern Rechte einklagen – verstand sich nicht als Revolutionär, sondern schaffte im Feiern ein besseres Leben und erreichte die Teilhabe an der Gesellschaft, nicht ihren Umsturz. All dies geschah in Formen des von Genderforschern recht gut beschriebenen Queering von Geschlechterrollen: einem ironischen und zitathaften Modus der Aneignung. Es ging um Abkehr von Ideologie, Demystifizierung, und es ging um Ironie.
Und wo wir schon beim Sex sind – ähnlich sieht es auch bei Drugs and Rock'n'Roll aus. Von LSD erwartete man in Woodstock vermutlich noch Transzendenz, vom Ecstasy auf Raves sicherlich nicht. Und auch aus den Konzerten verloren sich in dem Maße die Erlöserbotschaften, wie sich aus ihnen auch die rebellisch politischen Texte verloren und eine ironische und zitathafte Haltung sich Bahn brach (immer, wenn seither Rockstars allzu politisch wurden, erschien das als peinlich). Dennoch – und das kann gar nicht genug betont werden – blieb in all diesen Veränderungen die Trias von Sex, Drugs and Rock'n'Roll eine durchgängig intakte und unangefochtene Matrix. 1968 hatte sozusagen die Spielregeln der Popkultur definiert – und die blieben intakt, auch wenn man sie danach gänzlich anders spielte, vom totalen Fußball auf Tiki-Taka umstieg.
Eine ähnliche Konstanz lässt sich auch für andere Aspekte von 68 aufzeigen. Denken wir etwa an die Ideologie der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung, die eine ähnliche Transformation erfahren hat – aber trotzdem nie aufgegeben wurde. Hier führt der rebellische Weg über die Selbstfindungsratgeber der 70er- und 80er-Jahre zur Selbstoptimierung im Zeitalter des technisierten Posthumanismus. Konstant bleibt allerdings der von Peter Sloterdijk so spannend umrissene Rilke-Imperativ „Du musst dein Leben ändern!“
Man kann sogar das Empfinden meiner Generation – überpolitisiert in einer unpolitischen Zeit angekommen zu sein – derselben Dynamik zuordnen. Denn schließlich war 1968 das Jahr, in dem das Private zum Politischen erklärt wurde – und es braucht nicht viel Verstand, um zu verstehen, dass DAS schnell umschlägt: Wenn es nichts mehr gibt, das nicht politisch wäre – dann gibt es auch bald nichts mehr, das wirklich politisch ist. Aber natürlich waren nicht einmal die 90er eine Zeit ohne Politik – und wo es im engeren Sinne politisch wurde, da galt ebenfalls das lange 68. Unvermeidlich war und blieb eine Auseinandersetzung mit jener Betroffenheitskultur, die Politik unter einen derart starken moralischen Imperativ gestellt hat wie das zuvor eigentlich in keiner geschichtlichen Epoche zu beobachten gewesen ist. Konstant blieb ein auf 1968 geeichter moralischer Kompass zugunsten der Emanzipation, des Minderheitenschutzes, des radikalen Pazifismus, der Pluralität und der sozialen Gerechtigkeit.
Die Kontinuität in der Transformation wird auch im weniger politischen Rahmen deutlich – nämlich dort, wo die kommunistischen Ideale in den Liberalismus münden. So setzte sich etwa das ideologische Antiautoritäre in das pragmatisch flachhierarchische Prinzip neuerer Policies fort. Gleichzeitig bedienten sich leuchtturmartig ausstrahlende Unternehmen wie Google etlicher Ideen, die auf das Zusammenleben in Kommunen zurückgehen und damit dem in der Stadt des Summer of Love entstandenen, zunächst regenbogenfarbenen Internet: Dass man die Welt verändern und verbessern will, ist auch dort der – von parodistischen TV-Serien zu Tode parodierte und doch nicht kleinzukriegende – Imperativ jener noch so kleinen App-Entwicklung.
Ein wichtiges Erbe von 68 ist außerdem der von Robert Harrison in seinem Buch „Ewige Jugend“ beschriebene Jugendkult. „Trau Keinem über 30“ war in einer Zeit so kurz nach dem Nationalsozialismus ein politisches Statement – das Jungbleiben indes verselbständigte sich rasch, und heute sieht man, wenn man das Foto von einem Abiturjahrgang aus den 20er-Jahren mit dem Foto einer Studiosus-Gruppe von heute vergleicht, dass erstere viel erwachsener und reifer aussehen als letztere. Der im Pop befreite Homo ludens brachte das Generationenverhältnis in eine merkwürdige Konstellation, denn es konkurrieren immer mehrere Generationen gleichzeitig darum, jung zu sein – und wie häufig ist mir und meinen Nachgeborenen von Vertretern der 68er-Generation vorgeworfen worden, sie seien gar nicht wirklich jung. „Was wisst ihr schon vom Jungsein?“, scheinen die Babyboomer den anderen Generationen zuzuraunen: „Wir sind schon seit 50 Jahren jung! Da könnt ihr einfach nicht mitreden!“ Erwachsen zu werden – das wurde in diesem Klima zu einer Herkulesaufgabe. Alt zu werden – ein Ding der Unmöglichkeit.
Ein weiteres Beispiel ist der von Philipp Felsch sogenannte lange Sommer der Theorie und die so genannte French Theory, deren maßgebliche Denker Teil der Pariser 68er-Bewegung waren. Gewiss ist die Postmoderne in ihrer Abkehr von Marx nicht mit der Theoriebildung zu verwechseln – auch innerhalb Frankreichs waren Strukturalisten und Poststrukturalisten sehr kritisch gegenüber einem marxistischen 68 und nur bedingt dessen Teil. Dennoch wäre es falsch, sie gänzlich aus der Bewegung heraus zu dividieren – zumal sie über den Algerienkrieg die postkoloniale und über den Strukturalismus die postmoderne Bewegung in die Rechnung mit eingebracht haben. Seit den 80ern gaben sie damit den etwas älter gewordenen und sich von ihren weltrevolutionären Ansichten allmählich verabschiedenden 68ern die Chance, sich nicht verleugnen zu müssen – und sich trotzdem wenig später einem Ende der Geschichte stellen zu können, das sich eben nicht in Form einer marxistischen Utopie ereignet hatte. Die Postmoderne erlaubte auch eine Entdeckung der Ironie als Ersatz auf Antworten auf nach wie vor ungelöste Fragen. Und sie erlaubte, genau jene Zeit mit sozialdemokratischer und grüner Politik lebenswert zu machen.
Ein besonders wichtiges Erbe ist aber auch ein Politikstil, der sich unter den pragmatischen SPD-Konvertiten der einstigen APO durchsetzt – ein Politikstil nämlich, der eng an den Einfluss der Sozialwissenschaften gekoppelt ist, jener Disziplin also, die mit den 68ern erstarkte und sich auch maßgeblich aus 68ern rekrutierte. Wir haben es bei 68 schließlich mit einer Akademikerbewegung zu tun – und so war klar, dass der maßgebliche Einfluss auf die Politik nicht allein in deren Durchmoralisierung bestehen konnte, sondern auch in ihrer Verwissenschaftlichung. Im langen 68 gewinnen vor allem die Sozialwissenschaften ihren Einfluss auf die Politik. Zunächst geschah dies durch Überlegungen aus dem philosophischen und literarischen Bereich, dann durch den Einbezug qualitativer Analysen und schließlich durch quantitative Erhebungen.
Heutzutage zeigt sich die politische Wirkmacht der Wissenschaften in einer enormen Sammlung und Auswertung von Daten und der Erstellung von demoskopischen und allmählich auch wirtschaftlichen Szenarien. Kurz: Zu fast allen entscheidenden Punkten des 68er-Programms scheint es eine technisierte, postheroische, weniger metaphysische und pragmatische Variante zu geben, die sich in der Nachfolgezeit durchgesetzt hat. Am besten lässt sich dies auf die Formel bringen, dass man von der utopischen Zukunft in die postmoderne Gegenwart fand. Dadurch, dass die einzelnen Anliegen im Rahmen ihrer Realisierung ihr Weltrevolutions- und Transzendenzversprechen verloren, sind sie auf den ersten Blick zwar nicht immer als Varianten zu erkennen – auf den zweiten Blick aber durchaus. Entsprechend neige ich auch zu der Ansicht, dass sich die vermeintliche Niederlage der Bewegung – ihre Abkehr von der kommunistischen Rebellion – als ihr eigentlicher Triumph entpuppt hat.
So könnte dieser Beitrag sehr versöhnlich schließen. Wird er aber nicht, und damit bin ich bei meinem kurzweiligeren zweiten Teil angelangt. Denn die Spatzen pfeifen von den Dächern, dass – seitdem die Welt in immer mehr aufstrebende geostrategische Mächte mit immer unsicherer werdenden Koalitionen verfällt – die Geschichte zurückkehrt und mit ihr auch die Einsicht, dass nicht alle anderen Staatsformen sich in liberale, plurale und sozialdemokratisch dominierte Demokratien verwandeln, sondern dass auch Demokratien oft zu Diktaturen werden können, was an allen Enden der Welt auch wieder zu geschehen droht.
Daher liste ich für die Krise des langen 1968 ein paar Beobachtungen auf:
| Von einem Ende der Geschichte kann nicht mehr die Rede sein. Und hier liegt ein Problem, denn mit der Geschichte und der instabilen geopolitischen Lage kehren – weil eine plausible Antwort fehlt – die politischen Blöcke und Nationalstaaten wieder. Das ist eine Katastrophe, denn sie kehren in einer alten, längst gescheiterten Form wieder: Nationalstaaten als Wirtschaftseinheiten (so als hätte man vergessen, wie das in den Kolonialismus geführt hatte) und Nationalstaaten als Heimat (was vor allem in Deutschland einen extrem fragwürdigen Beigeschmack hat). Die von 68 in die Welt gesetzte politische Matrix braucht aber ein entweder kommunistisch-internationales oder später globalisiertes Habitat, keine aufstrebenden Nationen in einer instabilen Welt, in der es sogar mitunter schwierig geworden ist, radikaler Pazifist zu sein.
| In einer Aporie befindet sich auch die Befreiung des Individuums. Denn das charakterliche, emotionale und individuelle Selbst wird derzeit so klar und komplex digital kartographiert, vermessen und gespeichert, dass ein noch so unangepasster Individualist ein genauso gutes oder vielleicht sogar besseres Rad im Getriebe darstellt wie ein angepasster Mitläufer.
| Derweil geht der erwähnte Posthumanismus allmählich dazu über, Computer-Mensch-Symbiosen herzustellen (mit anderen Worten eine wechselseitige Steuerung von Gehirnen und Rechnern). Die Selbstverwirklichung wird – seit das CRISPR-CAS9-Verfahren eröffnet ist – in ein Stadium übergehen, in dem man Gene verändern und darüber entscheiden kann, ob man es wünschenswert findet, sich und seinen Kindern ein Geweih wachsen zu lassen – oder sich auf eine Weise zu optimieren, von der die nationalsozialistische Eugenik nur hätte träumen können. Computerentwickler träumen derweil den immer realistischer werdenden Traum, dass ihre Produkte die Menschen bald überholen und mit ihnen endlich das Universum erleuchtet wird.
| Freiheit und Emanzipation scheinen unter diesen Bedingungen keinen großen Wert zu haben – vor allem nicht, seit man die Anpassung und Vermessung des Menschen und der Gesellschaft und die damit verbundenen Risiken als Weg zu dessen Sicherheit darstellen kann und das Bewusstsein, in einer Beckschen „Risikogesellschaft“ zu leben, der Bereitschaft zur Anpassung an die von Michel Foucault eigentlich hellsichtig beschriebenen Sicherheitsdispositive enormen Vorschub geleistet hat. Wer die Freiheit verteidigen will, gilt zu leicht als naiv oder gestrig: Zurecht, wie ich glaube, denn die Freiheit müsste, um in der gegenwärtigen Welt Geltung zu haben, neu erfunden werden.
| Auch eine aufklärerisch grundierte und am Wissen orientierte Politik steckt in der Krise: Wir leben in einer Zeit, in der zu viel Wissen zugänglich ist und die trotzdem so kompliziert ist, dass wir nichts verstehen. Die Experten und die Software verstehen das an unserer Stelle – so hoffen wir in unseren besseren Stunden oder fürchten wir in unseren schlechteren. Was Kant noch in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ auf den Befehl „sapere aude!“ (habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!) gebracht hat, funktioniert so nicht mehr, denn Wissen und das Wagnis, sich auf sich selbst zu verlassen, fallen auseinander. Entweder man verlässt sich auf ein Wissen, das von Menschen nicht mehr nachvollziehbar oder machbar wäre, oder es entsteht eine auf das Wissen pfeifende Willkürpolitik, wie man sie beispielsweise bei Trump beobachten kann. Schlimmer noch: ausgerechnet die Willkürkräfte instrumentalisieren über Cambridge Analytica das Wissen.
| Auch der moralische Kompass ist in der Krise. Der Pluralismus – wie er sich im langen 68 etablierte – setzte darauf, dass sich Minderheiten, die sich einer oppressiven Mehrheit gegenübersehen, untereinander solidarisieren. Vielleicht funktioniert das aber nicht so gut, wenn die Mehrheit nicht mehr oppressiv ist. Jedenfalls bleibt derzeit die Toleranz unter Minderheiten oft aus – und so kommt es zu merkwürdig desorientierten Allianzen und Überwerfungen, und es drohen die falschen Verbündeten: zum Beispiel diejenigen des Feminismus nach der Kölner Silvesternacht.
| Oder das Thema soziale Gerechtigkeit. Zurzeit wird über eine Grundversorgung diskutiert, die man aber kaum anders verstehen kann denn als Abgrenzung gegenüber dieser Armut: Gauland lehnte sie als „Einladung“ ab – de facto aber kann ein solches soziales Modell nur in Form einer Abgrenzung von den Armen der Welt verwirklicht werden.
In einer solchen Zeit wird der Erfolg des langen 68 zum Problem: Sind die Ideale nicht mehr passend, dann erscheinen sie nicht mehr als glaubwürdiges Anliegen, sondern als Machtdiskurs – sie verlieren ihre moralische Autorität. Gleichzeitig nehme ich aber an der Generation meiner Studierenden eine neue Konstellation wahr. Wuchs ich selbst noch – wie gesagt – überpolitisiert in eine apolitische Zeit hinein, so treffen die apolitisch Erzogenen auf eine hochpolitische Zeit. Vielleicht werden sie etwas daraus machen. Und wenn dies der Fall ist, dann bedeutet dies auch zu akzeptieren, dass man selbst inzwischen zu derjenigen alten Generation gehört, die oft keine guten Antworten mehr hat und die Welt nicht mehr versteht – wie einst die Eltern der Babyboomer.
Titelbild:
| Beyerw / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0) | Link
Bilder im Text:
| Hennercrusius / Eigenes Werk (CC BY 3.0) | Link
| David Wilson / flickr.com (CC BY 2.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm