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Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über
den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des ZU-artsprogram für den Bereich Musik.
Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in
den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik.
Roll mein Ball, roll hin und her
rolle kreuz und rolle quer.
Spiel mit mir den ganzen Tag,
weil ich dich so gerne mag.
(Kinderreim)
Die schönsten Szenen in dem – man muss es doch ehrlicherweise so sagen – fast totgespielten Rasenspiel, für das in Kürze wieder einmal ein sogenannter „Weltmeister“ gesucht werden soll, ergeben sich nur noch in seltenen und außergewöhnlichen Ausnahmesituationen, außerhalb der zur Routine gewordenen müden Herumkickerei, am Rande des Spielfelds und -geschehens. Dass beim Abgang des Auswechselspielers ein Handschlag verweigert wird, dass ein nackter Flitzer über den Platz rennt oder dass ein (wie wir) vom Spielverlauf gelangweilter Trainer vor der Spielerbank seine Hand erst in den Schritt führt und dann vor die Nase hält, erscheint allemal aufregender als das sogenannte „eigentliche“ Spiel. (Dass das olfaktorische Element beim Fußball noch lange nicht ausgeschöpft erscheint, demonstriert übrigens recht indiskret ein aktueller Kleiderduftwerbespot, der drei Nationalmannschaftshelden beim Akt des Trikottauschs zeigt; sie halten dabei verzückt inne, weil sie selbstverliebt und das Hemd über dem Kopf möglichst lange den Wohlgeruch der eigenen Textilie genießen müssen. Wer schon mal ein von 90-minütigem Männerschweiß getränktes Stück Stoff vor der Nase gehabt hat, kann sich nur wundern: wahlweise über die Leistungsstärke der beworbenen Aromachemikalie, über den die Profisportler offenbar prägenden Masochismus der Eigengestanktoleranz…oder über die Dreistigkeit dieser Reklamelüge).
Eine unerwartet erhellende Szene, die schlaglichtartig und symbolstark Auskunft über den heutigen Stand des Fußballsports gibt, ergab sich am vergangenen Samstag beim bzw. vor dem sogenannten „Testspiel“ der deutschen Nationalmannschaft gegen Österreich. Weil ein gewaltiger Regensturm über dem Stadion in Klagenfurt niedergegangen war und den Rasen in eine Wasserwiese verwandelt hatte, musste der Anpfiff mehrmals verschoben werden. Der tschechische Schiedsrichter Pavel Královec hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, zu entscheiden, wann und vor allem ob überhaupt noch gespielt werden kann. Genauestens beobachtet von den ungeduldig-bildersüchtigen Kameras, die seit viel zu vielen kostbaren Fernsehminuten begierig auf irgendetwas Zeigenswertes außer Regengarben im Gegenlicht und unverdrossenen Zuschauern unter Plastikkapuzen warteten, konnte man dann zusehen, mit welch empirisch hochdifferenzierter Methode er diese Entscheidung vorbereitete.
Sein Test fürs Testspiel, sein Kriterium zur Eruierung der „Bespielbarkeit“ des Feldes bestand darin, an zwei/drei verschiedenen Stellen des Spielfeldes eine Reihe von Bällen (die ihm diensteifrig von seinen Schiedsrichterteamkollegen gereicht wurden) mit der Hand in verschiedene Richtungen zu rollen: wie eine Bowlingkugel, aus lockerem Handgelenk, mit mäßiger Energie und vollkommen flach. Und siehe: der Ball tat das Einzige, was er tun kann, aber auch das Einzige, was er tun muss, damit das Spiel beginnen kann: er rollte. Er rollte gleichmäßig, rund, brav, gehorsam, voraussehbar, jeweils genau in eine der vier Himmelsrichtungen, in die man ihn geworfen hatte (ungefähr so wie der Priester zu Beginn der Messe das Weihrauchfäßchen nach den vier Seiten des Kirchenraums schwenkt). Man hatte der Lederkugel eine gewisse kinetische Energie anvertraut und ihr eine Richtung vorgegeben: die Energie wurde im Zusammenwirken mit dem genormten Rasenreibungswiderstand ordnungsgemäß abgebaut, die Richtung sauber beibehalten, es zeigte sich ein perfektes geschmeidiges Ausrollen und pflichtschuldiges Liegenbleiben – was will man mehr?
Es wäre zu kurz getreten, wenn man nun behaupten wollte, dass dieser gemächlich kullernde „Schiedsrichterball“ ziemlich genau den deutschen Spielstil im anschließenden Freundschafts(?)-Kick mit unseren alpenländischen Nachbarn vorweggenommen hat; denn sehr viel temporeicher und dramatischer wurde es nicht mehr, als dann die unwettergeschockten Mannen des amtierenden Weltmeisters das Spielgerät regelkonform mit den rekonvaleszierenden Füßen traktierten. Weit über dieses klägliche Klagenfurter Klamaukspiel hinaus scheint das pathetische Schiedsrichterball-Rollritual ein zwar unscheinbares, aber gerade deswegen ungemein starkes Symbol für das Wesentliche, für die unerläßliche Mindestbedingung darzustellen, damit Fußball „sein“ kann: der Ball muss rollen... („Alles andere ist primär“, wie ein – auch schon zu oft wiederholter – Fußballerspruch bekanntlich lautet).
Der Ball muß rollen…das heißt: egal, welcher Untergrund, welche Bodenlosigkeit, welcher Korruptionssumpf, welch verwässerter krimineller Morast sich unter dem Rasen versteckt, solange der Ball locker drüberweg rollt, rollt alles andere auch: die Kommerzmaschine der FIFA, der Propagandaapparat der Medien, die nationale Begeisterung, die Autokorsos… und vor allem natürlich: der Rubel. Es mag mal kurz krachen, donnern und blitzen, veritable Shitstorms dürfen niedergehen über devote deutsch-türkische Diktatorenfans im Nationalmannschaftstrikot, es dürfen sich Eimer von Kritik, Polemik und Häme über ein durch Doping-, Bestechungs- und Steuerhinterziehungskandale erschüttertes System ergießen: Aber wenn nach einer kurzen Wartepause ein gravitätisch über den nassen Rasen platschender schwarzer Mann sein Bällchen rollen lässt, dann wird angepfiffen und es ist wieder schöner, friedlicher, sauberer football as usual. Denn es gilt: was rollt, non olet. Auch ganz ohne Sporthemdenwaschduftzusatz.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Joachim Landkammer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm