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Dr. Nadine Meidert war seit September 2015 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Zeppelin Universität. Seit 2018 leitet sie das Planspielzentrum der Zeppelin Universität. Von 2003 bis 2008 studierte sie – mit Auslandsaufenthalten in Belgien und Australien – in Konstanz Politik- und Verwaltungswissenschaften. Ebenfalls in Konstanz wurde sie im Jahr 2013 mit der Dissertation „Selektion oder Einfluss? Dynamische Analyse der Wirkungsmechanismen von politischen Einstellungen und Partizipation in studentischen Freundschaftsnetzwerken“ promoviert. Sie ist neben ihrer Tätigkeit an der Zeppelin Universität als Beraterin bei der Durchführung von Evaluations- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten tätig.
Die Sozialwissenschaftlerin in mir hat beobachtet, dass alle Personen, mit denen ich über dieses Thema geredet habe, eine Sache gemein haben: Sie sind nicht nur auf der Suche nach Wahrheit, sondern auch nach Sicherheit. Sie haben alle ein aufrichtiges Interesse daran, zu lernen, ob etwas wirklich wahr ist oder nicht. Und so positiv diese Haltung grundsätzlich auch ist, so hat sie doch auch eine Schattenseite, vor allem wenn diese Wahrheitssuche vom Wunsch nach Sicherheit angetrieben wird. Denn Wahrheit ist ganz schwer zu erreichen, sie ist unglaublich komplex und damit ist der Weg zur Wahrheit ein steiniger und durchaus auch unsicherer Weg. Damit wird man als Wissenschaftlerin im Alltag ständig konfrontiert.
Natürlich gibt es Wahrheiten, die recht einfach erfassbar sind – wobei das einer jener Punkte ist, an denen definitiv einer der oben genannten Glaubenskriege einsetzen kann: ein Konstruktivist wird die Grenze, wann Wahrheit einfach erfassbar ist, anders ziehen als ein Positivist. Aber insbesondere die Wahrheiten, mit denen wir uns in den Sozialwissenschaften beschäftigen, sind in der Regel komplex: Es gibt nun mal keine einfache Antwort auf die Frage, wie sich politische Einstellungen ausprägen, woher Rassismen kommen oder warum Menschen so handeln, wie sie handeln.
Wenn man auf der Suche nach Wahrheit ist, muss man zwischen Forschung und Wissenschaft unterscheiden. Ein Punkt, der mir kürzlich wieder in der Diskussion mit Studierenden klar geworden ist. Wissenschaft ist der Versuch, Wissen zu schaffen, und zwar allgemeingültiges Wissen. Das heißt wir möchten nicht nur wissen, warum jetzt in einer konkreten Situation A zu B geführt hat, sondern wir wollen wissen, ob es Zusammenhänge und Mechanismen gibt, die unter ähnlichen Umständen immer wieder auftreten können. Wir möchten wissen, was die Welt zusammenhält. Wir versuchen also, der Wahrheit näher zu kommen, wissen aber dabei noch gar nicht, wie die Wahrheit aussieht. Daher ist wissenschaftliches Arbeiten ein Herantasten an die Wahrheit.
Diesbezüglich ist es wichtig, eine Sache zu verstehen: Wenn eine einzelne empirische Forschungsarbeit zu einem bestimmten Ergebnis kommt, dann ist das nicht unbedingt die Wahrheit, dann ist das ein kleines Puzzleteil, das zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Die Studie kann methodisch nahezu perfekt gemacht worden sein und trotzdem kann es passieren, dass sie ein Ergebnis produziert, das „falsch“ ist, und zwar in dem Sinne, dass es ein nicht passendes Puzzleteil von der uns unbekannten Wahrheit widerspiegelt. Vielleicht ist das falsch aussehende Ergebnis auch gar nicht falsch, sondern wir interpretieren es nicht richtig, weil wir einen bestimmten Aspekt nicht berücksichtigen oder noch nicht dran gedacht haben. Da nähert man sich dann nach und nach an.
Das ist genau der Grund, warum es nicht Wissenschaft ist, wenn man da mal kurz eine empirische Studie anschaut oder durchführt. Es wird erst dann wissenschaftlich, wenn man die eigenen, neuen Forschungsergebnisse in die vorhandene Literatur einordnet. Das heißt zum einen, dass man das Ergebnis mit bestehenden empirischen Erkenntnissen abgleicht (Kommt da etwas Ähnliches raus oder etwas anderes? Wenn etwas anderes herauskommt, warum?) und zum anderen mit Theorien (Wie kann ich das Ergebnis erklären? Ist es plausibel?). Wenn man dies in einem diskursiven Prozess stetig tut, dann schafft man Wissen und schafft es nach und nach, der Wahrheit näher zu kommen.
Und ja, das ist komplex und vor allem zeitintensiv. Man kann eine komplexe Frage nicht mit dem Lesen einer Studie oder eines Artikels beantworten. Und daher ist der gern verwendete Satzanfang „Die Wissenschaft hat festgestellt, dass […]“, um die Erkenntnisse einer Studie vorzustellen, auch so furchtbar unpassend. Ich verstehe, dass Menschen verunsichert sind, wenn sie in der Regionalzeitung lesen, dass Schokolade ungesund ist, und dann in einer Dokumentation im Fernsehen hören, dass der Konsum von Schokolade positive Effekte auf die Gesundheit hat. Aber ganz oft werden da nur einzelne Studien zitiert, und eine Studie ist eben nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Wahrheit.
Und um einzelne Studien einordnen zu können, braucht man Wissenschaftler, die sich mit dem jeweiligen Thema eben schön länger beschäftigen. Am besten fragt man dann auch nicht nur eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler, sondern gleich zwei oder drei, auch um zu schauen, ob es eher um einen Glaubenskrieg geht oder um die Annäherung an die Wahrheit. Daher, liebe Gesellschaft, fragt die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler! Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, redet auch mit Menschen außerhalb des Elfenbeinturms!
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Nadine Meidert
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm