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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es war im Herbst 1969. Gut sechs Jahre sollte die Militärdiktatur Francisco Francos noch dauern, als mir ein Stipendium ermöglichte, an der Universität Salamanca zu studieren. Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete – ein Polizeistaat, der auch in seiner Spätphase jederzeit autoritär auftrat. Genau dieses Risiko wirkte auf mich faszinierend.
Das Land war im Umbruch. Gerade begannen die spanischen Strände, Italien bei Millionen von Touristen aus Mitteleuropa den Rang abzulaufen. Die Regierung und ihre schwarzbehemdeten Polizisten reagierten selbst auf offene Protestaktionen eher mit einer neuen Zurückhaltung, die mich überraschte. Und unter den akademischen Dozenten mischten sich charismatische Figuren aus den glorreichen 20er-Jahren mit bestenfalls mediokren Lippendienern des Regimes (einer von ihnen hatte sich durch eine Arbeit über den „Käse im ,Don Quijote‘ von Cervantes“ qualifiziert) und den Helden einer neuen Generation, die mit aufmüpfig-„progressiven“ Sprichwortweisheiten und manchmal lauter Kritik um die Sympathie ihrer Studenten warben.
Niemand wirkte so exzentrisch in dieser bunt-geschlossenen Welt Spaniens wie José Adriano de Carvalho, der uns in seine Muttersprache, Portugiesisch, einführen sollte. Trotz dem jugendlichen Gesicht habe ich ihn nicht einmal ohne die in einem auffällig dicken Knoten gebundene Krawatte gesehen und ohne seinen Anzug mit Weste. Er war der Einzige, der Tag für Tag mit genauen Vorstellungen über das zu vermittelnde Pensum in den Seminarraum kaum. Nur er siezte uns; und als wir ihn Mitte des Studienjahrs mit der Frage zur Rede stellen wollten, warum er denn nicht wie so viele seiner Kollegen zu einer Manifestation gegen die Regierung erschienen war, antwortete José Adriano de Carvalho bestimmt und freundlich, er halte es nicht für „taktvoll“ („discreto“ war das Wort), sich in interne Auseinandersetzungen des Gastlands einzumischen.
Ein paar Wochen später fuhr ich zum ersten Mal über die 80 Kilometer westlich von Salamanca verlaufende spanisch-portugiesische Grenze und erlebte zwei Überraschungen. Ich hatte erstens nicht damit gerechnet, dass sich der Grenzübertritt so schwierig gestalten würde. Es war ebenso kompliziert, von der einen in die andere Diktatur zu gelangen – die wir beide damals unter dem Begriff „Faschismus“ subsumierten – wie mit einem westdeutschen Pass durch den Eisernen Vorhang des Kalten Kriegs in Berlin. Zweitens und vor allem zeigten die beiden vermeintlichen „Faschismen“ zwei gänzlich verschiedene Antlitze gegenüber jenen, die mit ihren Dienern in Berührung kamen.
Die spanischen Grenzbeamten sprachen im klaren Ton von Befehlen, während ihre Kollegen auf der portugiesischen Seite an Beamte eines Finanzamts erinnerten, die um Geduld mit ihrem umständlichen, aber notwendigen Prozess der Bürokratie baten. Und dazu malte ich in meiner Vorstellung ein Bild von José Adriano de Carvalho, wie er seine grenzbeschützenden Landsleute, von denen einige aus Afrika zu stammen schienen, in die komplizierten Konjunktivregeln ihrer gemeinsamen Sprache einwies.
Sollte es also doch so etwas wie „nationale Kulturen“ geben, fragte ich mich damals (und frage ich mich noch heute manchmal – unter anderen Vorzeichen)? Den bloßen Gedanken lehnten die meisten von uns strikt ab, denn es schien klar, dass Gesellschaften durch klassenspezifische Ideologien strukturiert und antagonistisch geteilt seien. Aber selbst der vermeintliche Faschismus artikulierte sich ja auf der einen und auf der anderen Seite der Grenze in ganz verschiedenen Farben und Stimmungen.
Der Tankwart in Évora hatte eine Art Kapitänsmütze auf und gab mir eine Rechnung in Schönschrift über 30 Liter Benzin plus zwei Kaugummipäckchen. Die junge Kellnerin in Viseu trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das auch ihre Knöchel bedeckte. In kleinen Dörfern entlang der Landstraße waren die flachen Häuser nicht weiß gestrichen wie in Spanien, sondern mit satten, pastellartigen Farben.
Aus einem zum Zweck der Sprachübung gekauften Buch lernte ich dann, dass der portugiesische Diktator, António de Oliveira Salazar, die niederen Priesterweihen empfangen hatte, täglich zur Jungfrau Maria betete und unverheiratet geblieben war, obwohl er die Familie als Grundzelle von Gesellschaft und Nation ansah. Er soll auch ein brillanter Professor der Volkswirtschaft gewesen sein, der militärische Rituale verabscheute, aber Kommunisten mit eiserner Hand vom Geheimdienst verfolgen ließ.
Unbeirrt hielt er dabei fest an seiner Vision von Portugal als Weltimperium mit Territorien in Europa, Afrika und Asien, das verfolgten Mitgliedern anderer religiöser Gemeinschaften Schutz und Respekt gewährte, während es den Bewohnern seiner Übersee-„Provinzen“ die elementaren Bürgerrechte verweigerte. Welchen weltanschaulichen Reim konnte man sich auf diese Bilder machen?
Später erfuhr ich, dass Salazar im Frühjahr 1970 das Land gar nicht mehr regierte. Bei einem Sturz in der Badewanne hatte er ein Schädeltrauma erlitten, das ihn in ein Stadium dauernder Demenz versetzt hatte. Doch die Minister trafen sich weiter in seiner Gegenwart, um ihm ein Bewusstsein der Behinderung zu ersparen. Auch das sei „discreto“ gewesen, kommentierte Jahre danach ein portugiesischer Freund und Salazar-Gegner, als die Staatsform seines Landes längst zu einer parlamentarischen Demokratie geworden war – in einer unblutigen Revolution, deren Sieg die Soldaten mit Nelken in ihren Gewehrläufen feierten.
Doch schon bei jenem ersten Besuch begann ich zu ahnen, dass trotz allen Grenzen zwischen sozialen Klassen, trotz allen internen Kontrasten in der Auslegung von Ideologien so etwas wie Nationalkulturen existieren mussten. Was Portugal mir zu verstehen gab, hatte kaum mit dem Begriff der Leitkultur zu tun, auf den sich heute so viele Bemühungen um eine Definition nationaler Identität beziehen. Es ging nicht um spezielle Inhalte oder Werte, nicht um einen Kanon klassischer Autoren oder um die Erinnerung an entscheidende Momente der Geschichte des Landes. Den zuerst so überraschenden Unterschied zwischen Portugal und Spanien machten die Rituale des Alltags aus, das heißt: übergreifende Choreografien des Verhaltens, durch die Kontakte und die Kommunikation zwischen den verschiedenen sozialen Klassen und politischen Ideologien erst möglich wurden.
Typisch für Portugal und seine Bewohner schien ein „diskreter“ Stil der Zuwendung zu sein, der Unterschiede zwischen Personen oder Situationen mit besonderer Aufmerksamkeit wahrnahm und berücksichtigte. Daraus konnten einerseits – zumal für einen Ausländer – beinahe unendliche Komplikationen entstehen (wie beim Grenzübergang), andererseits aber auch Muster von Takt und Höflichkeit (wie die Zurückhaltung unseres Lehrers José Adriano de Carvalho bei Diskussionen über spanische Politik). So wurde selbst die aus dem Sprachunterricht vertraute Tatsache zu einem Emblem der von Differenzierung besessenen Nationalkultur, dass im kontinentalen Portugiesisch fünf verschiedene Anredeformen zur Anwendung kamen, welche die brasilianische Version derselben Sprache durch eine einzige Möglichkeit ersetzte.
Es wäre allerdings unsinnig, aus einer (gar nicht zur Verfügung stehenden) übergeordneten oder aus einer nationalistischen Perspektive die vielfältigen Verknüpfungen oder Verästelungen solcher Rituale als besser oder schlechter zu bewerten. Denn am Ende laufen vermeintliche Vorteile oder Nachteile immer auf Nullsummenspiele hinaus.
Der portugiesischen Höflichkeit stehen die potenziellen Komplikationen jeder Alltagsbegegnung gegenüber, während die zuweilen überwältigende spanische Direktheit zu Momenten besonderer Intensität führen kann. Ebenso wenig läßt sich die Vielfalt der jeweiligen Rituale zu Systemen der nationalen Identität zusammenführen oder mit einer übergeordneten Hypothese historisch erklären. Genau das illustrierte die unter dem Namen „Estado Novo“ propagierte Ideologie der Diktatur von Salazar. In ihr kamen einfach Spuren einer Reihe von nationalen Ritualen zusammen, ohne je eine widerspruchsfreie Kohärenz zu erreichen.
Charakteristisch und erstaunlich ist hingegen ihre langfristige Stabilität. Die traditionellen Anredeformen oder die Konjunktivkonstruktionen im europäischen Portugiesisch mögen sich unter brasilianischem Einfluss und im Kontext der europäischen Gemeinschaft etwas gelockert haben, aber in Lissabon oder Porto bleibt es bis heute geläufig, wie ich bestätigen kann, einen Hotelgast im Pensionsalter als „Vossa Excelência“ zu begrüßen. Auch Krawatten gehören immer noch zur Alltagsroutine selbst der jüngeren Generationen, und der Applaus nach Theateraufführungen oder akademischen Vorträgen klingt weiter so freundlich verhalten wie schon vor vielen Jahrzehnten.
Um Kosmopolit zu werden, muss man eine Sensibilität für solche nationalkulturellen Identitätskomplexe kultivieren, ohne sie hastig nachzuahmen oder mit Herablassung abzulehnen. Alle anderen Optionen laufen tatsächlich auf Provinzialität hinaus.
Denn ein Kosmopolit ist nicht, wer sich überall, sondern wer sich nirgends zu Hause fühlt, weil er sogar die Rituale der eigenen Kultur in ihrer Differenzqualität erfasst. Dagegen steht heute natürlich die – globale – Alternative eines Verhaltensstils, der nirgends aneckt und zugleich nationale Unterschiede fortschreitend neutralisiert. Seine Vorteile in funktionaler Hinsicht liegen auf der Hand. Der Gewinn einer Bemühung um Differenziertheit dagegen gehört zur ästhetischen Erfahrung. Und ohne die will ein Kosmopolit nicht leben.
Der Artikel ist am 29.11.2018 unter dem Titel „Ja, es gibt nationale Kulturen. Der echte Kosmopolit leugnet sie nicht, sondern weiss sie zu schätzen“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm