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Dr. Nadine Meidert war seit September 2015 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Zeppelin Universität. Seit 2018 leitet sie das Planspiellabor der Zeppelin Universität. Von 2003 bis 2008 studierte sie – mit Auslandsaufenthalten in Belgien und Australien – in Konstanz Politik- und Verwaltungswissenschaften. Ebenfalls in Konstanz wurde sie im Jahr 2013 mit der Dissertation „Selektion oder Einfluss? Dynamische Analyse der Wirkungsmechanismen von politischen Einstellungen und Partizipation in studentischen Freundschaftsnetzwerken“ promoviert. Sie ist neben ihrer Tätigkeit an der Zeppelin Universität als Beraterin bei der Durchführung von Evaluations- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten tätig.
Christian Wütschner ist Geschäftsführer der bewegtbildwerft, einer in den Bereichen Industriefilm, Corporate-TV und Liveübertragungen spezialisierten Produktionsfirma mit Sitz am Bodensee. An der Zeppelin Universität ist er Lehrbeauftragter für Medienproduktion und Praxis der Unterhaltungsmedien und promoviert berufsbegleitend am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- & Kommunikationswissenschaft mit einer Arbeit über die Dynamiken komplexer Fernseh-Liveproduktionen.
Wer gewinnt den ESC? Diese Frage bewegt nicht nur den geneigten Fan, sondern durchaus auch die Wissenschaft. Es gibt einen kleinen, dafür aber feinen und buntgemischten Forschungszweig, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frage nach dem Erfolg beim ESC nachgehen. Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler etwa nehmen die Performanz unter die Lupe: Sie fragen, inwiefern durch Musik und Auftritt Symbole und Botschaften geschaffen werden, die erfolgversprechend sind. Eine stärker politikwissenschaftlich-orientierte Perspektive untersucht, ob die bekannten und von vielen Zuschauenden postulierten Abstimmungsnetzwerke („Ist ja klar, dass die 12 Punkte aus dem Vereinigen Königreich nach Irland gehen.“) wirklich in systematischer Form existieren und inwiefern hier möglicherweise politische Allianzen reproduziert werden. Tatsache ist, dass sich durchaus Netzwerkmuster bei den Abstimmungen erkennen lassen. Doch diese Muster könnten auch – ganz unpolitisch – „nur“ die kulturellen oder sprachlichen Verbindungen zwischen zwei Ländern abbilden.
Zusammengefasst gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Erklärungsansätze, für die es alle mehr oder weniger starke empirische Beweise gibt. Aber neben diesen ganz großen kulturellen und politischen Dimensionen gibt es ja noch die ganz persönlichen Präferenzen: Wie wählen die Zuschauenden ihren Lieblingsbeitrag aus? Für wen rufen sie also an?
Dazu muss man wissen: Im Jahr 2016 wurden das Abstimmungsverfahren und die Präsentation der Ergebnisse umgestellt. Seither werden die Ergebnisse einer Fachjury und die Ergebnisse der Publikumswertung getrennt bekanntgegeben. Man sieht nun im direkten Vergleich, dass Fachjury und Publikum nicht immer einer Meinung sind. Zwar gibt es mitunter Beiträge, die von Fachjury und Publikum gleichermaßen geliebt werden – wie im Jahr 2017 der Gewinner Salvador Sobral aus Portugal. Aber in vielen Fällen scheinen die Fernsehzuschauer anders zu entscheiden.
Wäre es nach der Fachjury gegangen, wäre im vergangenen Jahr Netta, die Gewinnerin aus Israel, auf Platz drei gelandet; hinter Cesár Sampson aus Österreich, der vom Publikum auf Platz 13 gewählt wurde. Jurysieger wäre Benjamin Ingrosso aus Schweden geworden, den die Zuschauer nur auf Platz 23 positionierten. Kann die Fachjury die musikalische Qualität vielleicht doch besser bewerten als das Publikum? Oder haben die Zuschauenden einfach einen anderen Geschmack? Oder hat das Abstimmungsverhalten doch noch ganz andere Gründe? Denn wenn Sie jetzt einmal überlegen und ehrlich sind: Schauen Sie den ESC mit der gleichen Aufmerksamkeit wie einen packenden Film oder Ihre Lieblingsserie? Oder schauen Sie den ESC eher so nebenher?
Nicht selten wird aus dem ESC ein soziales Event gemacht à la Public Viewing oder gemütliches Gruppenfernsehen mit Freundinnen und Freunden zu Hause auf dem Sofa. Das heißt die Verarbeitung der Informationen über die musikalische Qualität oder die Performanz der Künstlerinnen und Künstler verläuft beim Publikum mit mehr Störung als bei der Fachjury. Zumindest wäre das zu hoffen, denn die Jury verfolgt den Wettbewerb auch als Gruppe, aber doch mit hoffentlich mehr Professionalität und Fokus (im Übrigen schaut und bewertet die Fachjury bereits die Auftritte bei der Generalprobe am Vortag).
Wie auch immer: Es scheint nicht unplausibel, dass die Informationsverarbeitung beim Publikum mit mehr Ablenkung stattfindet. Und selbst wenn wir bei der Informationsverarbeitung total fokussiert sind, dann ist es doch so, dass unser Gehirn nicht vollständig perfekt und neutral funktioniert. So gibt es zum Beispiel bei der Verarbeitung von Informationen, die in einer Reihenfolge präsentiert werden, den sogenannten „Primacy-“ und den „Recency-Effekt“. Diese beiden Effekte beschreiben den Zustand, dass man sich besonders gut an die ersten und die letzten Elemente einer Aneinanderreihung erinnert. Das kennen Sie, wenn Sie im Supermarkt stehen und sich an den vergessenen Einkaufszettel erinnern wollen: Die ersten Punkte fallen Ihnen noch ein, die letzten auch, dazwischen wird es schwammig.
Genau so könnte es ja auch beim Schauen des ESC laufen: Man erinnert sich noch an die ersten Beiträge, man ist voll dabei. Dann geht es weiter und weiter und alles hört sich irgendwie ähnlich an. Und schon geht es dem Ende zu, nochmal volle Konzentration. Und auf einmal sind die Auftritte vorbei und die eigene Meinung ist gefragt, und dann erinnert man sich – trotz des Schnelldurchlaufs – vor allem noch an die letzten drei Beiträge.
Die beiden Diagramme zeigen für die Jahre 2016, 2017 und 2018 die Auftrittsreihenfolge auf der horizontalen Achse. Auf der vertikalen Achse sind die erreichten Punkte abgetragen, einmal von der Fachjury und einmal vom Publikum. Bei den Publikumspunkten kann man einen leichten Trend nach oben beobachten: Je später der Auftritt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, viele Punkte vom Publikum zu erhalten. Das spricht also für einen Recency-Effekt. Das ist allerdings kein zwingender Zusammenhang (schließlich war zum Beispiel Portugal auch auf der Mittelposition erfolgreich), aber es gibt einen kleinen Trend. Diese grafische Beobachtung kann auch in einer kleinen statistischen Analyse bestätigt werden. Bei den Punkten der Fachjury ist das Muster nicht so eindeutig. Im Gegenteil: Die beiden Ausreißer nach oben (Portugal 2017 und Australien 2016) starteten beide auf Mittelpositionen. Denkt man sich diese beiden Beiträge jedoch weg, dann erscheint das Muster gleichverteilt; die Auftrittsreihenfolge scheint bei der Jury also keine Rolle zu spielen.
Das ist jetzt natürlich nur eine kleine Untersuchung, und wir haben auch keine anderen Faktoren berücksichtigt. Insbesondere wenn es um Informationsverarbeitung geht, könnte man sich beispielsweise auch anschauen, ob kurze und eingängige Musiktitel besser erinnert werden oder ob ein Auftritt besonders auffällig war. Trotzdem: Der Recency-Effekt ist plausibel und auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihn in ausführlicheren Analysen bereits nachgewiesen. Daher: Vielleicht achten Sie beim ESC-Fernsehabend in diesem Jahr schon aus wissenschaftlichen Gründen ganz besonders auf die Mittelpositionen.
Titelbild:
| Spencer Imbrock / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Dr. Nadine Meidert / Zeppelin Universität (Alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Nadine Meidert und Christian Wütschner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm