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Richard Münch, Jahrgang 1945, studierte von 1965 bis 1970 Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg und erwarb dort 1969 den Grad des Magister Artium und 1971 den Grad des Dr. phil. Die Habilitation für das Fachgebiet Soziologie erfolgte 1972 an der Universität Augsburg, wo er von 1970 bis 1974 am Lehrstuhl für Soziologie und Kommunikationswissenschaft als wissenschaftlicher Assistent beschäftigt war. Von 1974 bis 1976 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität zu Köln, von 1976 bis 1995 an der Universität Düsseldorf, von 1995 bis 2013 an der Universität Bamberg, wo er 2013 zum Emeritus of Excellence ernannt wurde.
Seit 2015 ist er Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität. Er war mehrfach als Gastprofessor an der University of California in Los Angeles tätig und gehörte zur Herausgeberschaft des American Journal of Sociology, der Annual Review of Social Theory, von Sociological Theory, Zeitschrift für Soziologie und Soziologische Revue. Von 2002 bis 2012 war er Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“ an der Universität Bamberg. Er war Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Fachbeirats am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Die Universitäten sind im Zuge der globalen Verbreitung von New Public Management (NPM) in den Mittelpunkt der Entwicklung und Qualitätssicherung der Wissenschaft gerückt. Ihre strategische Positionierung im Wettbewerb untereinander und ihre interne Qualitätssicherung werden als entscheidender Fortschritt betrachtet, der die Entwicklung der Wissenschaft voranbringt. Dabei soll der Fortschritt der Wissenschaft und die Steigerung des Gemeinwohls Hand in Hand gehen. Durch den Wettbewerb sollen die Universitäten gezwungen werden, ihre Finanzierung durch öffentliche und private Mittel kontinuierlich durch die bestmöglichen Leistungen in Forschung, Lehre und Transfer ihrer Forschungsergebnisse in die Praxis und die Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Mit der Umstellung von der Inputsteuerung auf die Outputsteuerung soll sichergestellt werden, dass die Investitionen in die Wissenschaft zum größtmöglichen Ertrag führen. Diesem affirmativen Narrativ tritt allerdings verstärkt ein kritisches Narrativ entgegen, das auf die kontraproduktiven Nebeneffekte dieser Reformstrategie aufmerksam macht. In dieser kritischen Erzählung spielen die Fachgesellschaften die entscheidende Rolle in der Entwicklung und Qualitätssicherung der Wissenschaft. Diese Rolle soll hier in den Vordergrund gerückt werden.
Die Fachgesellschaften stehen als Ort des wissenschaftlichen Diskurses für die genuin wissenschaftliche Qualitätssicherung: das unablässige Wechselspiel von These und Antithese, von Behauptung und Kritik als Motor des Erkenntnisfortschritts. Forschungsergebnisse müssen der kritischen Prüfung standhalten, um weiter Bestand zu haben und beachtet zu werden. Es bedarf aber auch eines großen Freiraums für die Erkundung neuer Forschungslinien, Fragestellungen und Erkenntnismöglichkeiten. Das heißt, dass der Seite des Aufstellens von Behauptungen, der Entwicklung von Thesen genauso viel Bedeutung zukommt wie ihrer Kritik. Es muss zu diesem Zweck einen vor renditesuchender Beobachtung geschützten Raum geben, in dem explorativ vorgegangen und Neues erkundet wird und dementsprechend das Risiko des Scheiterns groß ist. Aller Erkenntnisfortschritt baut auf unzähligen Irrtümern und gescheiterten Projekten auf. Eine strategisch operierende unternehmerische Universität mit einer dazu gehörenden, auf kurzfristig messbare Erfolge zugeschnittenen managerialen Qualitätssicherung kann sich das nicht leisten. Zu viele Misserfolge verderben ihr das an guten Kennziffern orientierte Geschäft.
Je mehr die Universitäten nach dem Modell von NPM agieren, umso mehr kommt es darauf an, dass die Fachgesellschaften den Forschungsprozess so offen halten, dass der größtmögliche Spielraum für risikofreudige Forschung und mögliches Scheitern gegeben ist. Das heißt, sie müssen ein Forum für den wissenschaftlichen Austausch sein, auf dem nicht nur über erfolgreich abgeschlossene Forschungsprojekte berichtet wird, sondern gerade auch über gescheiterte Projekte, weil eben Erkenntnisfortschritte nur auf der Grundlage vieler Irrtümer möglich sind. Die erfolgreich abgeschlossenen Projekte müssen ihrerseits der härtesten und hartnäckigsten Kritik ausgesetzt werden. Aktueller Konsens ist immer der Anlass für Zweifel. Genau für diese vollkommene Offenheit des Diskurses stehen die Fachgesellschaften. Dazu gehört auch fundamental, dass es keine Gewichtung von Argumenten nach dem Status der Forscherinnen und Forscher und ihrer Forschungseinrichtung gibt.
Die strategisch operierende Universität muss im Wettbewerb darauf bedacht sein, dass sie Forschungserfolge für sich reklamieren kann. Und der Wettbewerb zwischen den Universitäten führt ohne Gegensteuerung durch eine Wettbewerbspolitik zwangsläufig zu wachsender Statusungleichheit. Das hat wiederum zur Folge, dass Forscherinnen und Forscher mit ungleichen Mitteln und Chancen um Aufmerksamkeit kämpfen. Dementsprechend sind die Chancen, dass Neues entsteht und sich verbreiten kann, zunehmend auf wenige bestausgestattete Forschungseinrichtungen konzentriert. Dadurch schrumpft das Potenzial für das Entstehen und die Verbreitung neuer Forschungslinien im gesamten System. Die übermäßigen Erfolge weniger "Leuchttürme" werden mit dem Entstehen von weiträumigem Brachland erkauft.
Genau dieser Tendenz können die Fachgesellschaften entgegenwirken, indem sie gezielt ein Forum für den vollkommen offenen Diskurs ohne institutionelle, personelle und paradigmatische Statusunterschiede bieten. In ihren Reihen gibt es natürlich auch mehr oder weniger erfolgreiche, verdiente und prominente Mitglieder, ihre Aufmerksamkeit richtet sich aber auf Ideen, Hypothesen, Forschungslinien und Projekte allein im Hinblick auf das Erkenntnispotenzial, das in ihnen steckt. Dem diskursschließenden Effekt des institutionellen Wettbewerbs zwischen strategisch operierenden Universitäten setzen sie den diskursöffnenden Effekt eines Forums für den vollkommen freien und statusungebundenen Austausch von Argumenten entgegen. Während es für die strategisch handelnde Universität entscheidend ist, wo neue Erkenntnisse entstehen und mehr oder weniger breit rezipiert werden, ist das für die Fachgesellschaften völlig unerheblich.
Die unternehmerisch agierenden Universitäten führen einen Kampf um die produktivsten und meist zitierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das impliziert eine Art von akademischem Kannibalismus, weil es nur eine sehr begrenzte Menge dieser Spezies gibt. Die kapitalkräftigsten Universitäten locken den weniger kapitalkräftigen Universitäten mit lukrativen Angeboten ihre besten Köpfe weg. In den Fachgesellschaften herrscht dagegen das Prinzip der Kollegialität. Für sie spielt die institutionelle Zurechnung von Forschungserfolgen keine Rolle. Es ist völlig gleichgültig, wo sie erzielt werden. Ebenso unbedeutend ist es, wieviel Neues aus einer bestimmten Quelle hervorgeht. Wenn ein Forscher auch nur ein einziges interessantes Forschungsergebnis erzielt hat, dann hat es eine Bedeutung für die Entwicklung des Wissens. Allein das zählt. In der strategisch operierenden Universität beeinträchtigt ein so "unproduktiver" Wissenschaftler den Geschäftsbericht.
Dasselbe gilt für die Kooperation zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie ist von zentraler Bedeutung für die Erzielung von Erkenntnisfortschritt, weil sie hilft, Erkenntnisgrenzen einzelner Forschungsteams zu überwinden. In aller Regel überschreiten fruchtbare Kooperationen die Grenzen einzelner Universitäten. Die Fachgesellschaften stellen dafür das erforderliche Forum bereit. Der verschärfte Wettbewerb zwischen Universitäten bindet allerdings die Zusammenarbeit in der Forschung verstärkt an inneruniversitäre Verbundprojekte. Forschungsnetzwerke über die universitären Grenzen hinaus sind quasi Sonderforschungsbereiche ohne Bindung an eine bestimmte Universität und ohne zentrale Geschäftsführung. Die strategisch handelnde Universität muss dagegen Sonderforschungsbereiche als Erfolgsausweis für sich beanspruchen.
Für die Positionierung der Universität im akademischen Feld ist diese Strategie konsequent und richtig, für die Wissenschaft aber nicht. Umso wichtiger ist es, dass die Fachgesellschaften nicht bruchlos die Statuskämpfe zwischen den strategisch operierenden Universitäten widerspiegeln, sondern ihnen gezielt die Prinzipien der Offenheit und Egalität im wissenschaftlichen Diskurs entgegensetzen. In einem Punkt muss man allerdings den inneruniversitären Verbundprojekten einen öffnenden Effekt zusprechen. Das ist die Disziplingrenzen überschreitende Zusammenarbeit. Sie wird durch räumliche Nähe erleichtert. In den großen Fachgesellschaften gibt es dafür in ihren Untergliederungen in Fachgruppen und Sektionen allerdings ein Pendant. Die Fachgruppen und Sektionen forschen je nach Gegenstand schon im Grenzgebiet zwischen mindestens zwei Disziplinen. Das heißt, dass es auch hier genug Möglichkeiten zu Disziplingrenzen überschreitender Forschung gibt.
Das universitäre Unternehmen benötigt Zahlen, um nach außen Erfolge dokumentieren und nach innen ein zielgenaues Controlling praktizieren zu können, sodass Ressourcen akkumuliert und Prestige gesteigert werden. Rankings stellen diese Zahlen bereit. Die Zahlen ermöglichen das interne Monitoring ihrer "Geschäftsprozesse". Das Regime der Kennziffern beherrscht so schließlich die gesamte wissenschaftliche Praxis. Die Folgen dieser Überwucherung der genuin wissenschaftlichen Praxis durch das strategische und operative Management universitärer Unternehmen sind verringerte Spielräume für Diversität und Kreativität und damit eine Schrumpfung des Potenzials, neue Wege der Erkenntnis gehen zu können. Ein Spielraum für riskante Forschung bleibt nur noch einer kleinen Gruppe von Forscherinnen und Forschern an den Eliteinstitutionen vorbehalten. Die breite Masse der Forschenden wird dagegen der permanenten Kontrolle anhand von Kennziffern unterworfen.
Vor dieser Gefahr wird von namhaften wissenschaftlichen Fachgesellschaften gewarnt. Sie wenden sich gegen den unreflektierten Gebrauch quantitativer Publikations- und Zitationsindizes wie den Journal Impact Faktor zur Messung des Einflusses von Fachzeitschriften und den Hirsch-Index zur Messung des Einflusses eines Wissenschaftlers bei der Entscheidung über Beförderungen, Förderanträge und Berufungen. Die International Mathematical Union hat dazu einen von viel Zustimmung begleiteten kritischen Bericht veröffentlicht. Auf einer Tagung der American Society for Cell Biology wurde dazu im Dezember 2012 die San Francisco Declaration on Research Assessment verabschiedet. Eine große Zahl von Institutionen und Wissenschaftlern hat sich dieser Erklärung angeschlossen: 155 individuelle und 82 institutionelle Erstunterzeichner, bis Mai 2019 weitere 14.297 individuelle und 1.373 institutionelle Unterzeichner.
In Deutschland ist das Hochschulranking des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann-Stiftung Gegenstand heftiger Kritik geworden. Mehrere Fachgesellschaften haben den Ausstieg aus dem Ranking empfohlen. Das CHE ist im Auftrag der Hochschulrektorenkonferenz tätig. Daran ist unmittelbar das Spannungsverhältnis zwischen den Fachgesellschaften und den Hochschulleitungen zu erkennen. Die Fachgesellschaften sind dem Prinzip der Kollegialität ohne Statusunterschiede verpflichtet, die Hochschulleitungen benötigen Rankings, um ihren Kampf um Sichtbarkeit austragen zu können. Die Fachgesellschaften sind in dieser historischen Situation gefordert, als Hort des offenen und egalitären wissenschaftlichen Diskurses Widerstand gegen das Regime der Kennziffern zu leisten, das von NPM und der entsprechenden Transformation von Universitäten in strategisch operierende Unternehmen errichtet wurde.
Dieser Beitrag ist am 8. Juli unter dem Titel „Angespannte Verhältnisse in der Wissenschaft“ in der Zeitschrift "Forschung und Lehre" erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Richard Münch
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm