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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Nie wohl ging Deutschland als Nation durch eine zugleich so politisch prekäre wie intellektuell explosive Umwelt wie vor gut hundert Jahren, als im Frühling 1919 das Bauhaus gegründet wurde. Und nirgends hatten sich die Bedingungen jenes Moments prägnanter verfugt als in Weimar, dem ersten Ort seines Ursprungs. Der Reichstag war wegen der Gefahren einer nicht zur Ruhe kommenden revolutionären Dynamik aus Berlin in die damals 40.000 Einwohner zählende thüringische Stadt ausgewichen. Aber er folgte auch der Hoffnung, dass die an den Namen Weimar gebundene Tradition seiner Arbeit an einer neuen Verfassung die Aura eines positiven Neuanfangs geben mochte. Doch an jedem Wort, an jeder Geste hing in jenem überhitzten Klima mit seiner offenen Zukunft das Potenzial von gewaltsamen Reaktionen.
Unter solchen Voraussetzungen müssen wir uns gerade angesichts der derzeitigen Jubiläumsstimmung das Manifest vergegenwärtigen, das der eben zum Leiter des Bauhauses berufene Architekt Walter Gropius im April 1919 verfasste: „Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! [...] Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die
klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen
Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen
wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt
sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen
der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild
eines neuen kommenden Glaubens.“
Im Pathos dieses Tons mit seinen hohen Begriffen – wie in der Holzschnittillustration einer kristallin-dreitürmigen Kathedrale des Malers Lyonel Feininger – trafen sich zwei Energien, die bis zum Ernüchterungsschock der Weltkriegsniederlage der Deutschen vom Herbst 1918 einander entgegengestrebt hatten: auf der einen Seite das ehrgeizige Programm des sogenannten Werkbunds, dem Gropius angehörte, gegen den mit der Industrialisierung assoziierten Eindruck kulturellen Verflachens eine Rückkehr zu Formen mittelalterlicher Arbeit zu setzen. Sie fand den Fokus ihrer Bewunderung im Gemeinschaftswerk der Kathedralen (auf die mittelalterlichen Bauhütten sollte der Name Bauhaus verweisen). Dem romantischen Blick auf die Vergangenheit stand ein von Gleichheitsidealen gefärbter revolutionärer „Bau der Zukunft“ gegenüber, an dessen „Himme“l und „Glauben“ nun sozialistische Utopien zu einer merkwürdigen Synthese mit der Erinnerung ans Mittelalter einrückten.
Eben die Ideen- und Bilderspannung seiner Geburt, behaupte ich, hat das Bauhaus zunächst während der kurzen 14 Jahre seiner institutionellen Existenz auf dem Kurs eines in paradoxer Weise ständig gefährdeten und ständig produktiven Überlebens gehalten.
Aber sie hat nach seiner Schließung im ersten Jahr der Naziherrschaft dann auch als zündender Funke und Brennsatz für eine internationale Kometenbahn fortgewirkt, die das Bauhaus zur „wirkungsmächtigsten Schule“ kulturellen Stils gemacht hat. Dass der Stil und seine Produkte über ein Jahrhundert kaum etwas von ihrer frühen Aktualität und Attraktivität verloren haben, will uns wie ein Widerstand gegen die sonst neutralisierende Wirkung von Geschichte erscheinen. Er hat das doppelte Überleben, das Überleben als Institution und das Überleben als Erbe, zur Form von Deutschlands herausragendem Beitrag in der modernen Weltkultur gemacht.
Aus diesem eigentümlichen Verlauf ergeben sich viele Fragen im Blick auf die – wahrscheinlich exzentrischen – Modalitäten, die das Bauhaus in den Jahren seines Bestehens auf den spannungsreichen Überlebensweg von Bedrohtsein und Faszination brachten. Und warum hat sich in der Folge die Ursprungsdynamik des Bauhauses zugleich konsolidiert und gesteigert?
Das Überleben des Bauhauses als Institution – und mithin die Grundlage für sein andauerndes Nachleben – blieb auf mehreren Ebenen bis zu seinem historischen Ende so prekär wie das Überleben der Weimarer Republik insgesamt. Erstens erreichte die Schule trotz ihrem bald schon weitreichenden Ansehen nie eine Breite der Lehre, die ihre Erhaltung garantiert hätte: Nur insgesamt 1.233 Studenten wurden von 1919 bis 1933 dort ausgebildet. Zugleich musste das Bauhaus, was für pädagogische Institutionen ja außergewöhnlich ist, in Reaktion auf seine politische Umwelt zweimal den Standort wechseln: 1925 von Weimar nach Dessau und 1932 von Dessau nach Berlin.
Nachdem Walter Gropius als erster Leiter 1928 abgetreten war, wurde der von ihm vorgeschlagene Nachfolger Hannes Meyer schon im Sommer 1930 zur Kündigung gezwungen, bevor dann Ludwig Mies van der Rohe das Amt unter sich schnell verschärfenden internationalen und nationalen Krisenvorzeichen bis zur offiziellen Schließung durch eine nationalsozialistische Behörde am 10. August 1933 übernahm. Schließlich kam es nie zu einer finanziellen Situation, welche die Fortsetzung der Bauhaus-Arbeit selbstverständlich werden ließ, vor allem aus makroökonomischen Gründen. Aber es gelang der Schulleitung auch nicht, ihren Anspruch auf finanzielle Selbsterhaltung durch Produktentwicklung und Vermarktung zu verwirklichen.
Gegenüber diesen Dimensionen institutioneller Instabilität bildeten sich besondere Modalitäten der Arbeit heraus. Dabei fällt unter vielfachen Perspektiven zuerst die Diversität des Bauhaus-Personals ins Auge. Die Gruppe seiner nach der Handwerkstradition „Meister“ genannten Lehrer blieb vom Beginn bis zum Ende ausgesprochen international.
Der in New York geborene Deutsch-Amerikaner Lyonel Feininger schuf nicht nur die Illustration für das Eröffnungsmanifest, er war auch der erste von Gropius offiziell berufene Dozent. Ihm folgten eine Reihe herausragend-exzentrischer Schweizer Künstler und Denker wie Johannes Itten und Paul Klee und mehrere vor allem auf die Umsetzung von Ideen in Produkte konzentrierte Ungarn, von denen sich vor allem László Moholy-Nagy und Marcel Breuer auszeichneten. Mit Wassily Kandinsky aus Russland gehörte einer der damals schon international renommierten Maler zum Bauhaus, und er importierte aus seiner Heimat Elemente des dort entstehenden Konstruktivismus.
Außergewöhnlich wirken auch einige Zahlen und Fakten zum Verhältnis der Geschlechter: Ins erste Bauhaus-Jahr waren 84 Frauen und 79 Männer aufgenommen worden. Dieses Verhältnis verschob sich bald zu einer knappen Männermehrheit, während im Lehrkörper Frauen die Ausnahme blieben – und einer alten Gewohnheit entsprechend vor allem mit Aufgaben in den Webewerkstätten beauftragt wurden. Immerhin fanden einige von ihnen, wie etwa Gunta Stölzl mit ihren Bildteppichen oder sehr spät die Innenarchitektin Lilly Reich, im Bauhaus hinreichend Inspiration und Unterstützung, um dort Grundlagen für die weitreichende Resonanz ihrer Werke zu erarbeiten. Bald wirkten unter den immer wieder erneuerten (und dann jeweils schnell vergessenen) Gleichheitspostulaten der Schule auch Studenten der frühen Jahre, etwa Gunta Stölzl, in Zusammenarbeit mit prominenten Kollegen.
Gropius scheint Lehrer und Meister jedenfalls allein aufgrund seiner starken Intuitionen und (selbstverständlich subjektiven) Qualitätskriterien nach Weimar und Dessau geholt zu haben. Konflikten ging er kaum aus dem Weg und blieb doch mit allen Kollegen im Gespräch, ohne notwendig auf Vermittlung bedacht zu sein. Auch bei der Öffentlichkeitsarbeit zu gelegentlichen Ausstellungen setzte er auf die Provokationen schon jung bekannter Exzentriker wie Le Corbusier oder Hans Scharoun. So wurden in schwierigen Zeiten dank Gropius vor allem intellektuelle Vielfalt und auch die von ihr ausgelösten Kontroversen zu wesentlichen Bedingungen für den Erfolg des Bauhauses.
Entlang der wechselnden Vorzeichen der Arbeit, das heißt: des Werkstatterbes, der Industrieproduktion und des Nachdenkens über den menschlichen Körper, setzte sich ein Vorrang des Funktionierens in der Welt vor dem Wissen von der Welt durch. Das Zuhandene nahm den Vorrang vor dem Vorhandenen ein, um eine damals entstandene Begriffsunterscheidung von Martin Heidegger zu benutzen. Deshalb gehörte das Bauhaus in den für jene Jahre typischen Konkurrenzstrukturen eher zu den Ingenieuren als zu den Wissenschaftlern.
Seine Vorkurse sollten sinnliche Vertrautheit mit den Grundmaterialien der Welt entwickeln, die dann Basis einer Ausrichtung an praktischen Bedürfnissen werden konnte. Freilich wäre es nicht angemessen, diese Grundmodalität der Bauhaus-Arbeit als eine Dominanz der Praxis über die Theorie zu beschreiben, denn begriffliches Denken blieb stets das durchgängige Medium, das die verschiedenen Komponenten der Schule verband. Eher nahm das Bauhaus – in verschiedenen, durchaus zentrifugalen Richtungen – immer wieder Abstand von einem Selbstverständnis, in dem der Mensch als Bewusstsein (oder Subjekt) der Welt der Dinge (oder den Objekten) gegenüberstehen sollte. Mit je wechselnden Ansprüchen und Konsequenzen trug es so zur Emergenz eines Bilds vom Menschen als aktivem Teil der materiellen Welt bei.
Damit lässt sich nun wiederum eine vierte und letzte hier zu benennende Dimension aus der Bauhaus-Arbeit nicht ganz in Einklang bringen, nämlich die seit der sowjetischen Oktoberrevolution und seit Ende des Weltkriegs allenthalben laut werdende Sehnsucht nach dem Erscheinen eines „neuen Menschen“. Sie gehörte nie explizit und zentral zum Selbstverständnis der Institution, was freilich innerhalb ihrer charakteristischen Vielfalt und Konkurrenz der Ideen einzelne Mitglieder nicht davon abhielt, eben in diese Richtung zu denken. Schon das Gründungsmanifest von Gropius hatte mit den Worten von „einer neuen Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung“ auf einen ähnlichen Horizont angespielt. Als Rahmen solcher Entstehungsprozesse stellten sich manche Bauhaus-Denker „kleine geheime in sich abgeschlossene Bünde, Logen, Hütten“ vor, aus deren interner Intensität zuerst neue, heroische Individuen und dann eine neue Gesamtgesellschaft erwachsen sollten.
Weder funktionale Differenzierung noch Hierarchien waren vereinbar mit den in den frühen Bauhaus-Jahren so deutlichen Gleichheitsimpulsen dieser Fantasien, jedoch gehörten zu den Utopien von einem neuen Menschentyp selbstredend bestimmte Überlegenheitserwartungen. Hier lag eine Affinität zwischen einzelnen Vektoren in der intellektuellen Dynamik des Bauhauses und der nationalsozialistischen Ideologie, die auch eher implizit auf profunde Veränderungen im individuellen und im kollektiven Leben der Zukunft setzte.
Diese Konvergenz unter anderem ließ in den ersten Jahren nach 1933 viele der ehemaligen Bauhaus-Dozenten und -Studenten – nach dem Vorbild der Designschulen im faschistischen Italien – auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der neuen Regierung hoffen. So ist es wohl kein Zufall, dass mit Fritz Ertl ein Bauhaus-Schüler der späten Jahre als Leiter des Planungsstabs von Auschwitz seriell zu produzierende KZ-Baracken entwarf und für die Funktionsabläufe der Gaskammern zuständig wurde.
Der internationale Ruf des Bauhauses und mehr noch seine Kanonisierung nach 1945 haben entscheidend von dem Faktum profitiert, dass der Druck nationalsozialistischer Behörden sein definitives Ende bewirkte (ohne dass es je zu einer entsprechenden formalen Anordnung kam). Doch dieser Interaktion lag keine kulturelle, begriffliche oder ideologische Unvereinbarkeit zugrunde. Gewiss, intellektuelle Beweglichkeit in Gestalt von vielfachen Inkompatibilitäten zwischen den vier zentralen Dimensionen der Bauhaus-Arbeit hatte seine Stärke begründet und hielt die Institution bis 1933 am Leben. Doch deren Kehrseite war eine Unbestimmtheit, die deutliche Abgrenzungen in entscheidenden Situationen unmöglich machte.
Während der Dessauer Jahre von 1925 bis 1932 äußerte sich die (zeitweilige) Krisenresistenz des Bauhauses und seiner Arbeit noch ausgeprägter. Die Kündigung der Meister- und Dozentenverträge durch den Thüringer Landtag zum 1. April 1925 konterte der Lehrkörper immerhin mit einem Schreiben, das die Selbstauflösung des Bauhauses in Weimar zum selben Termin ankündigte. Sein Selbstvertrauen beruhte wohl auf der Erfahrung, dass mittlerweile andere Städte an der Übernahme einer Schule interessiert waren, die trotz ihren kaum zu übersehenden Misserfolgen hinreichend von sich reden gemacht hatte und weiterhin als Zukunftsversprechen galt.
Dessau bekam den Zuschlag als Ort eines – wie wir rückblickend sagen müssen: kurzfristigen – wirtschaftlichen Aufschwungs und demografischen Anwachsens auf die heutige Bevölkerungszahl. Dafür standen emblematisch die Junkers-Flugzeugwerke mit ihrer aktiv am Bauhaus interessierten Leitung. Als zusätzliche individuelle und institutionelle Motivation wirkte bestimmt auch die Aussicht auf in der spezifischen Konstellation Dessaus um 1925 notwendige Bauaufträge.
In Dessau stieg die Zahl der Studenten noch einmal an, aber vor allem vollzog sich ein in der Qualität der Lehre und in der Kohärenz der Produktentwicklung fühlbarer Entwicklungsschritt mit der Ersetzung zentraler Protagonisten des ersten Bauhaus-Kapitels – unter ihnen im Jahr 1928 Gropius und Moholy-Nagy – durch ehemalige Studenten und auch Studentinnen der Schule. Was die Bereitschaft zur Wahrnehmung divergierender Positionen anging, so entwickelte sich in Dessau vor allem unter Hannes Meyer aus der Gewohnheit, ein Nebeneinander von Tendenzen zu tolerieren, eine Kultur markanter Auseinandersetzungen.
Vor allem erwuchs erst in der Dessauer Zeit aus der Modalität von Praxisorientierung und Typendesign als intellektuellem Programm eine kleine Anzahl realer Produkte, die wir heute noch als Embleme des Bauhauses und mithin einer weiter gültigen Modernität identifizieren. Unter ihnen ist keines berühmter geworden und bis heute beliebter geblieben als der von Marcel Breuer entworfene und nach Kandinsky benannte Wassily-Stahlrohrsessel. Zu ihm passten eine Anzahl von Lampen, Bett- und Schreibtischleuchten, bei deren Entwicklung Aluminium als neues Material von den Junkers-Werken übernommen wurde – und deren vielleicht bekannteste immer noch mit dem Namen von Marianne Brandt verbunden wird. Aus der Werkstatt für Wandmalerei ging die Bauhaus-Tapete hervor, der finanziell erfolgreichste und in der Gegenwart immer noch vertriebene Artikel der Schule. Herbert Bayer aus Österreich, wie Marianne Brandt ein ehemaliger Student der Schule, arbeitete in der Werkstatt für Druck und Reklame an verschiedenen Universal-Typografien mit Kleinschreibung, die als Symbole eines funktionalen Universalismus gelten sollten und in Otl Aichers für die Münchner Olympischen Spiele von 1972 erfundenen Piktogrammen fortwirken.
Die Geschlossenheit der Bauhaus-Institution als „Loge“, eigene Welt und vielleicht auch Soziotop für die Emergenz eines „neuen Menschen“ schließlich fand erst in Dessau ihre räumliche Artikulation in dem von Gropius geplanten Gebäudekomplex. In diesem Bau, wie in der kleinen Zahl seiner kanonisierten Produkte, hat das Bauhaus die Zerstörung als aktives „Labor der Moderne“ materiell überlebt. Hinzu kamen für die Dozenten erstellte Meisterhäuser, die als luxuriöser Widerspruch zu den offiziellen Gleichheitsidealen sogleich die Kritik prominenter Intellektueller auslösten.
All diese Bedingungen machen Dessau deutlicher noch als Weimar zum Ort jenes doppelten Geschichtswiderstands, mit dem uns das Bauhaus beeindruckt. Das große (und letzte) Jubiläum von 1929 konnte Hannes Meyer als Leiter noch mit einer ermutigenden Erfolgsbilanz feiern lassen. Nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im folgenden Oktober jedoch verkehrten sich selbst im ehemals sozialistischen Dessau die politischen Kräfteverhältnisse so schnell, dass wenige Monate später die Demission des als Bolschewiken denunzierten Meyer wie ein überlebensnotwendiges Zugeständnis wirkte – und doch nur die Schließung der Schule vor Ort zwei Jahre später vorwegnahm. Die verbleibenden Monate in Berlin bis zum Ende im August 1933 gerieten zu einer Phase der Agonie und der opportunistischen Peinlichkeiten.
Auch das zweite Überleben des Bauhauses, das Überleben als intellektuelles Erbe, hat seine Orte gefunden und seine Spuren hinterlassen. Nirgends deutlicher als in Tel Aviv, der seit 1909 im britischen Mandatsgebiet Palästina entstehenden "jüdischen Stadt", wo ehemalige Bauhaus-Studenten zum weltweit größten Ensemble moderner Architektur beitrugen und dann nach der Gründung des Staates Israel eine offizielle Kanonisierung erfuhren, weil sein erster Ministerpräsident David Ben Gurion einen von ihnen, Arieh Sharon, zum Direktor der Siedlungsplanung ernannte.
In den Vereinigten Staaten vollzog sich eine diffusere und zugleich vielfältigere Rezeption. Walter Gropius wurde 1937 aus London zum Chairman der Graduate School of Design in Harvard berufen und verwaltete neben dem Ruhm seiner Schule auch das eigene Prestige so geschickt, dass er Kollegen aus Weimarer und Dessauer Zeiten wie Marcel Breuer, László Moholy-Nagy und Herbert Bayer zu wichtigen Positionen verhelfen konnte. Unabhängig von Gropius etablierte sich Ludwig Mies van der Rohe als einer der vor Ort und international einflussreichen Architekten von Chicago.
Hinter der wohl brillantesten und sicher vielschichtigsten aller Bauhaus-Resonanzen aber stand Josef Albers, ein Teilnehmer von Ittens als radikal betitelten Vorkursen in Weimar und gemeinsam mit Paul Klee und Wassily Kandinsky ein Meister aus den Dessauer Jahren. 1933 bis 1949 nutzte er die Direktorenrolle des Malereiprogramms am Black Mountain College im ländlichen North Carolina zur Entwicklung einer kreativen Intensität, die eine diverse Dozenten- und Studentenschaft, unter anderen John Cage, Merce Cunningham, Buckminster Fuller und Willem de Kooning, Robert Rauschenberg, Cy Twombly und Susan Weil, zusammenführte.
Doch wenn auch all diese Orte, Spuren und Episoden die weiter wirkende Energie des Bauhaus-Impulses belegen, erklären sie allein noch nicht, warum ein Ensemble von vor hundert Jahren entstandenen intellektuellen und ästhetischen Stilgesten sich als Geschichtswiderstand, als ein im wörtlichen Sinn zeitloser Bezugspunkt erweisen konnte. Meine abschließende These zur Beantwortung dieser Frage geht von dem Eindruck aus, dass die entscheidenden Modalitäten der historischen Bauhaus-Arbeit in einer Beschreibung der kulturellen Gegenwart von 2019 wieder aufscheinen. Anders formuliert: Die Makroskopie dessen, was kulturell heute der globale Fall ist, weist eine Affinität zur Mikroskopie des Bauhauses als historischer Fall auf.
Während die vielschichtige Diversität der Studenten und Meister im Bauhaus nach 1919 exzentrisch gewirkt haben muss, erleben wir Diversität heute – einmal ganz unabhängig von ekstatischer Affirmation oder revanchistischem Widerstand – als Matrix einer globalen Realität. Dem spannungsvollen und nie durch einen Konsens aufgehobenen Nebeneinander der Weltbilder im Bauhaus entspricht dabei eine inzwischen längst wissenschaftstheoretisch anerkannte Pluralität von Sichtweisen in den verschiedenen Disziplinen: Die ingenieurtechnische Modalität der Arbeit wiederum muss sich heute gar nicht mehr behaupten. Ihre Dominanz ist unabhängig von allen Wertungen der Fall der Gegenwart.
Schliesslich hat mein Stanforder Kollege Fred Turner wohl mit seiner Beobachtung recht, dass selbst die utopische Illusion verschiedener Institutionen aus der Bauhaus-Zeit, als geschlossene Soziotope die Entstehung von Typen „neuer Menschen“ zu befördern, ein Äquivalent in Unternehmenswelten wie Apple oder Google findet. Sie bieten ihren Angestellten eine holistische Lebensform im hermetisch versiegelten Rahmen an – nun allerdings ganz ohne die Erwartung, sich eines Tages auf die Gesamtgesellschaft zu öffnen.
So zeichnen sich die historischen Grundmodalitäten des Bauhauses im globalen Fall der Gegenwart ab – einschließlich der meisten ihrer Versprechen und Probleme, vor allem einschließlich ihrer Ambivalenzen. Diese Intuition impliziert weder die Unterstellung, dass sich hier eine sogenannte historisch notwendige Entwicklung im hegelianischen Sinn vollzogen habe, noch die bewundernde Projektion, dass Bauhaus-Protagonisten in genialen Visionen ihre eigene Zukunft und unsere Gegenwart vorweggenommen hätten. Wiederholung und Konvergenz haben sich einfach eingestellt. Derart nüchtern gesehen eröffnet unser Versuch, das Bauhaus zu vergegenwärtigen und zu verstehen, die Form eines genealogischen – und das heißt hier: eines wechselseitig externen – Blicks auf die Gegenwart von 2019 und auf das frühe 20. Jahrhundert. Auch auf die zumal aus deutscher Perspektive so wichtige Chance, konkret und doch in weitem Zusammenhang darüber nachzudenken, an welchen Komponenten des Bauhaus-Erbes in unserer Gegenwart wir festhalten oder nicht festhalten wollen, sollte sich die weitere Arbeit konzentrieren. So könnte die Energie eines prekären Moments aus der Vergangenheit intellektuelle Überlebensfunken in der Lethargie ihrer scheinbar saturierten Gegenwart entzünden.
Die Zeit einer Entmythisierung und einer historischen Einordnung des Bauhauses aus der Distanz hingegen, wie man sie für dieses Jubiläumsjahr angesetzt und erwartet hatte, mag noch gar nicht gekommen sein. Dafür ist seine Welt in unserer Welt wohl allzu lebendig geblieben.
Dieser Artikel ist am 15. September unter dem Titel „Das Bauhaus schrieb Geschichte – und widerstand ihr zugleich“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Aufbacksalami / Eigenes Werk (CC BY-SA 4.0) | Link
Bilder im Text:
| Louis Held / Museum-Digital.de (CC0 Public Domain) | Link
| AugustusTours / Flickr.com (CC BY-ND 2.0) | Link
| MDR / UFA Fiction / Stanislav Honzik (Pressebilder)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm