ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Anlass zu solchen Prognosen findet sich täglich. Vor gut einem Jahr zum Beispiel berichtete mir ein Doktorand, dass sein Kongressvortrag über politisches Denken in der Renaissance nicht nur die Anerkennung eines international führenden Spezialisten, sondern auch dessen verbindliche Empfehlung ausgelöst hatte, das Manuskript mit Verweis auf ihn zur Veröffentlichung bei einer renommierten akademischen Zeitschrift einzureichen. Die erste Antwort der Redaktion entsprach den positiven Erwartungen: Man habe den Text zur Beurteilung (peer review) an zwei Gutachter weitergeleitet. Monate später wurden dem jungen Kollegen die beiden Reaktionen zugestellt: eine geradezu enthusiastische Beistimmung, und ein eher zurückhaltender Kommentar, der die Publikationsmöglichkeit an eine ausführliche Überarbeitung band (was schon deshalb üblich ist, weil die meisten Gutachter fürchten, bloße Beistimmung könne als Symptom mangelnder kritischer Einstellung oder gar fehlender Kompetenz wirken). Ohne zu zögern, investierte der Doktorand acht weitere Wochen, um den Auflagen zu entsprechen – und wurde nach einem halben Jahr mit der lakonischen Mitteilung abgewiesen, seine Untersuchung passe nicht zum spezifischen Themenspektrum der Zeitschrift (deren Herausgeber sich wohl inzwischen nicht mehr an die Empfehlung der Fachautorität erinnerten).
Nun hält sich seit langem schon das Gerücht, dass die durchschnittliche Leserzahl von akademischen Publikationen dieser Art unter zehn Gelehrten pro Artikel liegt. Ohne solche Veröffentlichungen allerdings und den entsprechenden Zeitaufwand ist an eine Universitätskarriere nicht zu denken. Mit anderen Worten: Die Geisteswissenschaften steigern ihre angebliche „Professionalität“ zu einem immer absurderen Missverhältnis zwischen gefordertem Arbeitsvolumen und dem fortschreitenden Ausschluss potenziell interessierter Adressaten.
Ganz nüchtern lässt sich deshalb hochrechnen, dass es niemand außerhalb der Welt der Geisteswissenschaften registrierte (oder gar bedauerte), wenn ihre Existenz morgen global eingestellt würde. Das Interesse an ihrem Überleben ergibt sich mittlerweile – in einer für Steuerzahler eigentlich nicht akzeptablen Proportion – vor allem aus ihrer Funktion als Einkommensquelle für Hochschullehrer. Hinzu kommen seit Jahrzehnten sinkende Hörerzahlen, ohne signifikante Ausnahme. All diese Endzeitsymptome finden unter Geisteswissenschaftlern ebenso lebhafte wie paradoxale Resonanz – „paradoxal“, weil sich die Fachvertreter seit einem guten Jahrhundert so sehr an immer neue Krisen gewohnt haben, dass sie zu einer sanft sprudelnden intellektuellen Energiequelle geworden sind statt in ihren möglichen Konsequenzen ernst genommen zu werden.
Die Glanz- und Prestigezeit der Geisteswissenschaften lag zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg, als ästhetische Erfahrung in der Begegnung mit Literatur, Kunst und Musik für die aus der Aufklärung hervorgegangenen bürgerlichen Gesellschaften zunehmend die Funktion einer säkularen Religion erfüllte, zu deren Theologie eine Reihe damals neuer akademischer Fächer wurde. Ihre Zusammenfassung in Fakultäten unter dem Namen „Geisteswissenschaften“ begann erst gegen 1900 an der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin und war die Reaktion passiv-aggressiver Selbstbehauptung auf eine erste Krise, welche vor allem die Konkurrenz mit den die Industrie der Gründerzeit kraftvoll beflügelnden Naturwissenschaften ausgelöst hatte. In die sturmfeste Burg – oder den seither auch immer wieder selbstkritisch heraufbeschworenen „Elfenbeinturm“ – der Universität wollten sich Disziplinen wie Musikologie, Kunst- oder Literaturgeschichte zurückziehen, wo sie verstärkt auf das sterile Ethos von „Wissenschaftlichkeit“ pochen konnten.
Angesichts dieses Öffentlichkeitsverlusts nahmen viele ihrer Vertreter innerhalb der sich nach 1918 verbreitenden totalitären Ideologien mit Begeisterung und Herzblut wieder die Rolle von – nun entschieden politischen – Theologen auf, welche Überlegenheitsansprüche verschiedener „Rassen“ oder eines sich als International verstehenden „Proletariats“ aus Monumenten des kulturellen Erbes abzuleiten bereit waren. Während die staatssozialistischen Nationen an dieser Praxis bis um 1990 festhielten, verbreitete sich unter westlichen Gelehrten nach 1945 gegenüber dem Sündenfall des ideologischen Zuarbeitens – als zweite Krisenwelle – ein Habitus der Reue, der zu einem ausschließlichen Fokus auf die kulturellen Gegenstände, zu einem „Immanentismus“ mit zum Teil beachtlichen intellektuellen Leistungen führte.
Als explosive Phase immer neuer und immer deutlicher gegen-intuitiver Theorie-Entwürfe – von Strukturalismus über Rezeptionsästhetik, Diskursanalyse, Dekonstruktion, Neohistorizismus und Medienforschung – erscheinen dann in unserer Retrospektive die späten 60er- bis frühen 90er-Jahre. Wie 1968 als das emblematische Jahr der sogenannten „Studentenrevolution“ entfalteten die Geisteswissenschaften damals eine hektische Resonanz auf die Implosion zentraler Werte und Dynamiken der bürgerlichen Gesellschaft -- zu denen der Fortschrittsglaube gehörte, die Überzeugung, technologische Entwicklungen in all ihren Konsequenzen kontrollieren, und die Gewissheit, stets mit den richtigen ethischen oder politischen Entscheidungen aufwarten zu können. So laut die Geisteswissenschaften in jenen Jahrzehnten mit oft kraftmeiernden Parolen („es gibt keine Welt außerhalb der Texte“) die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machten und vor allem entfremdeten, so still ist es – im fast wörtlichen Sinne – seit der Jahrtausendwende in ihnen und um sie geworden.
Vor allem ihre Vertreter kultivieren an den Universitäten seither die Stimmung „politischer Korrektheit“ als den Anspruch, in Zeiten neuer Herausforderungen und der von ihnen ausgehenden Unsicherheiten die traditionellen Maximen und Orientierungen einer sozialdemokratischen bis sozialistischen Linken hochzuhalten. So, als habe sich 1989 nicht ereignet – und als sei die Welt seit Karl Marx kaum komplexer geworden. Mit besonderer Hingabe widmen sie sich dabei der Beschreibung und den Forderungen vielfältiger „Minderheitsidentitäten“, stets unter der Prämisse, dass mit dem Minderheitenstatus auch ein moralischer Vorrang verbunden sein müsse.
Ihren Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ versuchen die Geisteswissenschaften mittlerweile mit Programmen der „Selbst-Digitalisierung“ aufrecht zu halten, die den selbstverständlichen Schritt, sich elektronische Technologien als Instrumente zunutze zu machen, in den Status einer intellektuellen Revolution hochjubeln. Zugleich steigt der Druck, vor abstrakten Regeln interner „Professionalisierung“ in die Knie zu gehen. Unter ihnen dominiert die Verpflichtung, „Netzwerke“ von Beziehungen zu entwickeln, das heißt Lobbystrukturen, welche die Geisteswissenschaftler einander immer ähnlicher machen (intellektuell herausragende Vertreter treten kaum mehr in Erscheinung) und immer weiter von „nicht-professionellen“ Interessen isolieren.
So bleibt eigentlich kein überzeugender Anlass, das sich abzeichnende Ende der an den Universitäten etablierten Geisteswissenschaften – nach der von Krisen heimgesuchten zweiten Hälfte ihrer Geschichte – noch aufhalten zu wollen. Einige Anzeichen in unserer Gegenwart allerdings mögen auf potenzielle neue Funktionen zu verweisen, die nicht unbedingt mit den Traditionen ihres Selbstverständnisses konvergieren. Amerikanische Spitzenuniversitäten etwa sind während des vergangenen Jahrzehnts in einen scharfen Konkurrenzkampf bei der Berufung anerkannter Philosophen geraten, welcher die höchsten Gehälter in kurzer Zeit bis um 50 Prozent hat anwachsen lassen (sie liegen mittlerweile zwischen einer halben und einer Million Dollar pro Jahr).
Vom „Wall Street Journal“ nach dem Auslöser dieser Entwicklung befragt, stellte ein Universitätspräsident, fest, dass Philosophen – und Geisteswissenschaftler generell – „die Universitäten zu intellektuellen Orten machen.“ Ihre Gegenwart, war unterstellt, und die Zusammenarbeit mit ihnen steigere gerade innerhalb der „harten“ Disziplinen von Natur- und Ingenieurswissenschaft, von Jurisprudenz, Wirtschaftsforschung oder Medizin die Bereitschaft, in Alternativen zu denken und überlieferte Lösungsformeln für die verschiedensten Problemlagen zu variieren. Wenn den Geisteswissenschaften also innerhalb der akademischen Welt möglicherweise ein neuer Status aufgrund dieser Fähigkeit zukommt, die Welt komplexer aussehen zu lassen (statt auf vermeintliche Gewissheiten als „politisch korrekt“ zu pochen), so zeichnet sich zugleich auch in außer-akademischen Kontexten ein spezifischer und bisher übersehener Bedarf an Geisteswissenschaftlern ab.
Nicht nur Museen, Theater, Konzerte oder Kulturreisen absorbieren heute immer größere Dimensionen der sozialen Zeit, selbst unser Alltag wirkt mehr denn je von Momenten ästhetischer Erfahrung durchsetzt, deren Konkretheit dem Bedürfnis entgegenkommt, sich in einer Gegenwart verwirrender Orientierungslosigkeit existentiell „festhalten“ zu können. Statt die steigende Zahl der Kulturkonsumenten (und was ist eigentlich einzuwenden gegen den „Konsum“ von Kultur?) weiter mit einer Wissensfülle aus vermeintlicher „Forschung“ zu überfluten, wozu sich die Geisteswissenschaften stets berufen fühlten, entsteht ein Bedarf an Kennern, welche die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung zu lenken vermögen, um deren Konkretheit mit den Konsumenten zu entfalten.
Eine solche Praxis könnte – gemeinsam mit jenen Philosophen der Gegenwart, welche Universitäten zu intellektuellen Orten machen – zurückkehren zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation, in dem schon lange die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der vermeintlichen Geistes-„Wissenschaften“ gelegen war. Eher als in quasi-mathematischen „Methoden“ der Forschung und in einer leeren „Professionalisierung“, mit denen sie sich in eine Sturzflut der Selbstentfremdung manövriert haben.
Titelbild:
| Giammarco Boscaro / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| redcharlie / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Patrick Tomasso / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm